Bachmann-Sonntag in Klagenfurt
"Undurchschaubare Dinge" geschehen traditionell am "verzwickten" Bachmannsonntag, dem Tag der Preisvergabe - heuer ging aber alles sehr schnell und die Sieger standen fest. Und wieder waren sich Publikum und Jury erstaunlich einig.
Auf der "Shortlist" ganz oben: Wawerzinek
Körperlich spürbar war die Spannung, die sich an diesem Sonntag im Klagenfurter ORF-Theater ausbreitete, als die Jury daranging, die Sieger 2010 mittels elektronisch unterstützem "Voting" zu küren. Zuvor war die sogenannte "Shortlist" präsentiert worden, jene bis zum letzten Augenblick geheim gehaltene Liste mit den Namen jener sieben Autoren, die für die Jury in die engere Auswahl um den Bachmannpreis in Frage kamen.
Der Name des zukünftigen Bachmannpreisträgers 2010, "Peter Wawerzinek" stand da, gleichsam wie ein Omen, ganz oben. Gefolgt von der "zweiten Siegerin" dieses Tages, der 24 Jahre jungen Dorothee Elmiger, deren Text "Einladung an die Waghalsigen" am ersten Lesetag sehr wohlwollend von der Jury besprochen worden war, als noch niemand damit rechnen konnte, eine zukünftige Klagenfurter Siegerin vor sich zu haben: Elmiger ging an diesem Bachmannsonntag mit dem mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis nach Hause.
Kein Östereicher kam für einen Preis in Frage
Außerdem auf der Liste standen: Aleks Scholz, Judith Zander, Daniel Mezger, Sabrina Janesch und Christian Fries - eine Auswahl, die auch einen bitterem Beigeschmack hinterließ - zumindest bei Jurorin Karin Fleischanderl und den österreichischen Literaturfans: Das, weil nicht nur keiner von Fleischanderls Autoren in die engere Auswahl kam, sondern damit auch kein österreichischer Autor für den Bachmannpreis in Frage kam.
Beim Voting ging heuer alles sehr schnell
Beim Voting um den Bachmannpreis ging es, anders als in den Jahren davor, dann sehr schnell - auch, weil nicht jeder Juror beim ersten Wahlgang seinem eigenen Autor die Stimme gab, um sich dann doch umentscheiden zu müssen. Zur Stichwahl kam es natürlich trotzdem, und zwar zwischen dem von Meike Feßmann vorgeschlagenen Peter Wawerzinek, der im ersten Wahlgang drei Stimmen erhalten hatte, und der von Paul Jandl eingeladenen Dorothee Elmiger.
Feßmanns Begründung machte den Anfang, wobei ihre Stimme natürlich für "ihren Autor", Peter Wawerzinek, reserviert war.
Feßmann: "Autor gibt Lebenswunde preis"
"Ich stimme für einen Text, der die Lebenswunde seines Autors preisgibt und mit Hilfe der Fantasie in etwas verwandelt, an dem der Leser teilhaben kann. Eine Prosa, die ein großes Geschenk ist und die enorme Bedeutung der Sprache für das Dasein nicht nur behauptet, sondern ganz konkret vorführt. Ich stimme für die 'Rabenliebe' eines verlassenen Kindes, für Peter Wawerzinek.
Auch Alain Claude Sulzer schloss sich dieser Wahl an, obwohl sich mit Sabrina Janesch auch seine Autorin auf der Shortlist befand, da Wawerzineks "Stimme aus der Vergangenheit mit vielen Zungen" spreche.
Karin Fleischanderl entschied sich für Dorothee Elmiger und blieb auch im zweiten Wahl-Durchlauf dabei, Juryvorsitzender Burkhard Spinnen votierte ebenfalls nicht für seinen Autor, Daniel Mezger, sondern, mit Wawerzinek, "für die eindrucksvolle Rekonstruktion einer unterschlagenen Kindheit".
"Ernst-Willner-Preis" für Aleks Scholz
Neo-Juror Hubert Winkels blieb "seinem Autor" Aleks Scholz treu, "weil er versucht, mit einer sehr kalten und distanzierten wissenschaftlichen Sprache und Beobachtungsperspektive zu erzählen, ohne gleich ins Herz und die Psychologie der Figuren zu kommen". Scholz sollte - zumindest was den Bachmannpreis und den Kelag-Preis anging - leer ausgehen, konnte aber später den "Ernst Willner-Preis" in Empfang nehmen.
Winkels: "Ein alter Bekannter Klagenfurts"
In der Laudatio zum Willner-Preis ließ Winkels das Publikum wissen, wie es zur Auswahl Scholz`, der ein "alter Bekannter Klagenfurts" sei, gekommen war: "Er ist ein Teil dieser zentralen Intelligenz-Agentur, die hier schon einmal für Aufsehen gesorgt hat, aber er betreibt auch den Blog "riesenmaschine.de", die auch Klagenfurt Texte bewertet - nach äußeren Gesichtspunkten wie der Häufigkeit bestimmter Adjektive. Nach diesem Prinzip funktioniert auch die Arbeit von Aleks Scholz".
"Google Earth" oder von "Rastern und Pixeln"
In dem Text "Google Earth" werde eben nicht über das "Innenleben der Helden" geredet, sondern in einer "räumlichen Überperspektive" an die Wirklichkeit des Erzählten "herangezoomt". Ein "naturgeschichtlich operierender Text", so Winkels - was erzählt werde, sei eben nicht die Geschichte der Figuren selbst, sondern die "Raster oder Pixel", die die Geschichte hervorbringen. Damit lenke der Autor den Blick auf die "Formprinzipien" selbst.
"Wenn makellos kein Schimpfwort ist, dann würde ich es übernehmen - ich freue mich über den Ernst-Willner-Preis für Aleks Scholz". Überreicht wurde der Preis von ORF-Landesdirektor Willy Haslitzer, der anmerkte: Ich habe mir schon gedacht, dass sie hier etwas gewinnen werden".
3sat-Preis für Judith Zander
"Ich stimme für die eindrückliche Beschreibung eines kleinen Stücks der ostdeutschen Welt", begründete Hildegard Elisabeth Keller in der Wahl zum Bachmannpreis das Voting für ihre Autorin Judith Zander, der später von der Jury der 3sat-Preis zugesprochen wurde.
Bei der Laudatio stellte Keller dann die Verbindung her zwischen dem Gewinnertext Wawerzineks und Zanders Text "Dinge, die wir heute sagten", als sie, rückblickend auf die Rede Sibylle Lewitscharoffs, meinte: "Für mich ist es eine anregende Geste von Frau Fortuna, dass sie mit dem Bachmannpreis eine Kindheit und das Schicksal einer besonderen Mutter in Ostdeutschland prämiert und den 3sat-Preis einen Text, der sich mit der beginnenden Schwangerschaft einer solchen Mutter beschäftigt - man kann die beiden Werke zusammenhalten".
"Mädchen ohne Eigenschaften"
Keller weiter:"Ingrid trinkt Drachenblut, das verhörnt ihre Seele, treibt ihr jede Leidenschaft aus. Sie erzählt ihre Geschichte widerwillig, konsequent in der Du-Form, fasst sich also selbst wie mit klammen Fingern an. Man erfährt, wie sie wurde was sie ist: Landpomeranze, Teenager, Mutter, Mädchen ohne Eigenschaften".
Hubert Novak von 3sat übergab Zander schließlich den Preis mit den Worten: "Ich wünsche ihnen, dass sie Fantasie und Worte niemals verlieren".
"Kelag-Preis" für Jung-Autorin Elmiger
Paul Jandl war bei der Abstimmung um den Bachmannpreis von Anfang an bei "seiner Autorin" Dorothee Elmiger geblieben und begründete das so: "Ich stimme für einen Text, der in eine Terra Inkognita der bewohnten Welt führt, klug, poetisch und voller Wissen".
Elmiger, die Wawerzinek in der Stichwahl 4:3 unterlag, konnte schließlich die Wahl um den Kelag-Preis gegen Aleks Scholz für sich entscheiden. In seiner Laudatio für Elmiger gab sich Jandl, "zunächst einmal sehr froh, dass sich die neue Literatur auf so eine Art und Weise rührt".
Literarisches "Neuland unter den Füßen"
Denn, so Jandl: "Wenn die Nadeln von Klagenfurts Kompass erzittert, dann nicht immer im die richtige Richtung. Die magnetischen Felder des Bachmannpreises sind so unberechenbar, dass man froh sein kann wieder einmal Neuland unter die Füße zu bekommen. Klug und voller Wissen ist Dorothee Elmigers Text 'Einladung an die Waghalsigen' und nur den Harthörigen wird entgehen, wie poetisch das alles ist".
"Alle Waghalsigen bleiben eingeladen"
Ihr Text sei "der sprachlich präzise Versuch", die Wirklichkeit eines "verwüsteten Gebietes neu zu vermessen, aus Büchern und Bildern, Erzählungen und Indizien wird an einem Scheitelpunkt der Geschichte die Welt neu erzählt". Ein "virtuos geführter Beweis: Gute Literatur ist ein riskantes Unternehmen, mit letztlich glücklichem Ausgang - alle Waghalsigen bleiben eingeladen".
Harald Kogler überreichte Dorothee Elmiger den Preis, und nütze das gleich als Gelegenheit, die Autorin zur Lesereihe "Kelag erlesen" ins Musilhaus einzuladen.
Feßmann: "Habe bis zum Schluss gezittert"
Peter Wawerzineks Patin Meike Feßmann, die "bis zum Schluss gezittert hatte", zeigte sich vor dem anwesenden Publikum äußerst gerührt, dass mit Peter Wawerzinek ein Text den Bachmannpreis zugesprochen bekam, der sie "restlos überzeugt" habe.
"Große Literatur sei es, nicht makellos und nicht perfekt" sondern dem eigenen Lebensstoff in einem schmerzlichen Prozess abgerungen". Wawerzineks Sprache sei "unsentimental aber nicht ohne Pathos", sein Text "Ich finde dich" zeichne nach was es bedeute, als zweijähriges Kind von der eigenen Mutter verlassen zu werden, ohne dieses "bloßzustellen".
"Das Kind hat einen starken Begleiter zur Seite: den Schriftsteller Peter Wawerzinek - er gibt ihm etwas ganz Entscheidendes mit, seine Fantasie".
"Lebensrettende Maßnahme Literatur"
In Sprache eingewoben, befinde sich das Kind wie in einem schützenden Kokon, so Feßmann: "Die lebensrettende Maßnahme Literatur verspürt man bei dieser Prosa in jeder Zeile. Sie lässt den Leser teilhaben am Abenteuer der Imagination". Schlussendlich appellierte die Jurorin noch an die Leser, das Buch Wawerzineks, das Ende 2010 bei Galliani erscheine, zu kaufen: "Lesen sie ihn, ich kann ihnen dieses großartige Buch, das ich bereits gelesen habe, nur wärmstens empfehlen".
Bürgermeister Christian Scheider und Vizebürgermeister Albert Gunzer überreichten Wawerzinek dann den mit 25.000 Euro dotierten Bachmann-Preis.
Publikumspreis: 170 Stimmen für Wawerzinek
Auch der mit 7.000 Euro dotierte Publikumspreis ging mit 170 Stimmen an Peter Wawerzinek - womit Jury und Publikum am Ende des Bewerbes in trauter Eintracht zueinander fanden - zumindest, was den literarischen Geschmack anbelangte. Zweiter beim Publikumspreis wurde Aleks Scholz (77 Stimmen), dritter Christian Fries mit 71 Stimmen.
Am Ende fand Juryvorsitzender Burkhard Spinnen noch zu seinen schon traditionellen Schlussworten, die sich heuer mit dem Lautwerden der Literatur beschäftigten.
Burkhard Spinnens Schlussworte
Barbara Johanna Frank
Peter Wawerzinek erhält Bachmannpreis
Wawerzinek arbeitet Kindheit auf