Mirjam Richner, Unterentfelden (CH)

Geboren 1988 in Gränichen, lebt in Unterentfelden. Nach der Maturität nahm Mirjam Richner das Studium an der Pädagogischen Hochschule auf, das sie 2010 mit einem Bachelor abschloss.

Mirjam Richner wurde von Jurorin Meike Feßmann für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

DOWNLOAD TEXT:PDF

Mirjam Richner: BETTLÄGERIGE GEHEIMNISSE
gelesen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur

in schlaflosen nächten
klopft der tod
an unsere gedanken,
wir tischen ihm
eine wässrige, erkaltete
suppe
auf
ohne fleisch -
und sitzen ihm
stumm
gegenüber

Beim Durchkämmen meines Gehirns bleiben Kannibalen, Irrlichter und bettlägerige Geheimnisse hängen. Mit spitzen Fingern klaube ich sie zwischen den groben Zinken des Denkens hervor und betrachte sie im Sonnenlicht, welches ihnen das Gespenstische raubt und stattdessen ein goldenes Röckchen überzieht. „Ich bin perfekt, weil ich nicht sage, ich sei perfekt wegen meiner Imperfektion.“ Manu grinst. Aus Platzmangel hatte sich schon vor Jahren ein Eckzahn über einen ihrer Schneidezähne geschoben. Ich muss immer an siamesische Zwillinge denken. „Ich habe ein grosses Vakuum in mir“, sage ich und drehe Manu wieder den Rücken zu. Mit runden, kindlichen Buchstaben schreibe ich das Programm des nächsten Tages an die Wandtafel. „Ja“, sagt Manu. Die Kreide kreischt. Etwas in mir tut schrecklich weh. Es ist, als würde man mir ins Hirn zwicken. Gefühle fangen bei mir nie im Herzen an. Manus Haare sehen spröde aus. Manchmal denke ich, dass ich Manu mag, weil sie nichts aus sich macht. Das fasziniert mich; sie versucht keinem zu gefallen. Ich schminke mich täglich. Das Leben ist für mich eine Talkshow: Ich bin backstage, habe Angst, weine, trete dann auf die Bühne und lächle das strahlende Siegerlächeln eines Teilzeitverlierers. So ein Lächeln kriegt man nur hin, wenn man die unbemalte Hälfte auch gesehen hat. Charmant beantworte ich die Fragen des Talkmasters, moduliere die Aussagen bewusst mit der Stimme, untermale meine Überlegungen mit grossen, selbstbewusst wirkenden Gesten. Ich bin erleichtert, dass ich nicht mit den Kids skifahren muss, sondern nur für das Morgenund Abendprogramm zuständig bin.
„Mein Damian-Vakuum“, sage ich. Ich höre Manus Schritte. Sie fegt ein Etui von der Schulbank. Ich stelle mir vor, wie sie das linke Bein etwas eindreht, in die Knie geht und das Etui aufhebt. Ihr Gesicht wird dabei bestimmt ganz rot. Ich schliesse die Augen und tippe mit der Kreide einige Male an die Tafel. Das Bild zieht sich aus dem Hirn zurück. „Crap“, sagt Manu. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das Etui meint oder das Vakuum. Dann:
„Du hast das Richtige gemacht.“ Ich nicke.
„Magst du auch einige Schüler mehr als andere?“, frage ich.
„Klar. Hauptsache keiner kriegt’s mit.“
Vielleicht bedeutet das Wort Lehrkraft, dass man nur so lange lehren kann, wie man voller Kraft ist. „Das Vakuum wird irgendeinmal passé sein“, sagt Manu leise. Das habe ich auch geglaubt. In mir ist ein grosser, leerer, weisser Raum gewesen. Kein quadratischer Grundriss, das hätte ich

gemocht. Ich habe damit begonnen, die Wände mit Fingerfarbe zu bemalen, um der Weisse zu entgehen. Mittlerweile habe ich meterdick Farbe aufgetragen, so dass der Raum ganz klein geworden ist, ich weiss nun gar nicht mehr so recht, wie er vorher ausgesehen und sich
angefühlt hat. Ich kann nicht mehr aufrecht darin stehen. Und wenn ich in diesem Raum rede, klingt die Stimme gespenstisch gedämpft.
„Ich bin ein Magnet. Ich hafte nicht überall“, sage ich. „Ich wünschte, ich könnte überall haften.“ „Es ist besser, wenn man nicht überall haftet“, entgegnet Manu. „Das macht Magnete faszinierend.“
„Aber nur für Kinder.“ Ich bin begeistert von der Tatsache, dass ich Manu Ideen zuwerfen kann und sie fängt sie, transformiert sie in etwas Bunteres, Strukturierteres. Dann schmettert sie das neu Entstandene in meine Richtung; dabei erweist sie sich als toller Pitcher, ich mich als mittelmässiger Batter. Manu ist ein Innerlichkeitsmensch oder wie man das nennen soll. Sie glänzt nach innen, wirkt spröde und verbraucht nach aussen. In dem Dorf, aus dem ich komme, gibt es einen Mischwald. Von meinem Zimmerfenster aus sehe ich die zwei Kiefern, welche die Laubbäume überragen. Ich glaube, wenn ich ein Baum wäre, wäre ich eine dieser Kiefern; ein bisschen höher als die andern Bäume, aber nicht aus
einem Konkurrenzgefühl heraus, sondern aufgrund des Bedürfnisses nach einer unversperrten Sicht.

der bilderrahmen
ist zu eng,
für die wand
bin ich zu nackt,
ich klammere mich
an den reissnagel,
kälte kriecht mir
über den rücken,
ich senke
den blick
meiner gedanken
und sehe am boden
eine tote spinne

Das Geräusch ist unbeschreiblich. Die Lawine ist direkt über die Lagerhütte hinweg gedonnert. Vor den Fenstern ist alles schwarz geworden. Die Neonlampen flackern, dann stabilisiert sich das Licht wieder. Die Decke gibt knackende Laute von sich. Manu starrt mich
an. Wenn die Hütte einstürzt, sind wir beide tot. „Was tun wir jetzt?“, flüstert Manu. Ich fühle mich, als hätte ich ein pelziges Tier verschluckt.
„Ruhig bleiben“, sage ich und spüre die kraftvollen, schnellen Schläge des Herzens. „Die finden uns bestimmt. Wir sind ja nicht irgendwo, wir sind noch immer in dieser Hütte. Wenn die kombinieren können, dann…“
Manu lacht unsicher. „Sogar die Drei Fragezeichen könnten das Rätsel über unseren Verbleib lösen.“ Ich lache. Das Licht erlischt. Ich stehe unbeweglich, damit mich die Dunkelheit nicht anrempelt.
„Wo bist du?“ „Hier“, sage ich und wedle mit der Rechten.
Scharrende Geräusche, eine Berührung. Manu umarmt mich.
„Was machen wir jetzt?“, wispert sie in mein Haar. Die starke Manu ganz schwach. Ich wachse, der Herzschlag wird ruhig. An den meisten Tagen fühle ich mich wie ein Stück Seife; jeder wäscht die Hände und trägt mich ab. Das Gefühl ist weg. „Wir werden ersticken.“
„Nein“, sage ich, „der Raum ist sehr gross.“
Wir tasten uns zum Lehrerpult, setzen uns darauf und lassen die Beine baumeln. Ich fühle mich seltsam gelöst und erleichtert. Der Alltag ist in unerreichbare Ferne gerückt. Der Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Helium gefüllt; wäre er nicht mit dem Hals verwachsen, würde er entschweben. Und ich würde es zulassen.
„Sag was.“
„Was?“, frage ich.
„Irgendwas.“
„Ich habe eine To-Read-List. So eine Liste mit Büchern, die ich bis zum Tod unbedingt gelesen haben muss. Schilten. Andorra. Stiller. Zündels Abgang. Endspiel. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Die Wand. Der Golem. Der Prozess.“ „Denkst du, wir werden sterben?“
„Nein“, sage ich laut.
„Ich dachte nur, weil du das so gesagt hast, mit bis zum Tod.“ Und nach einer Weile: „Zum
Glück sind die Kids nicht da.“
„Einigen würde es gut tun.“ Wir lachen.

Wir sind gewiefte Gastgeber. Kommen Gesandte des Todes vorbei, so lassen wir sie ein und bewirten sie, wie es die Höflichkeit gebührt, aber nicht so, dass es ihnen zu sehr behagt. Manchmal spielen wir mit ihnen Eile mit Weile. Die irgendwie boshaft wirkende Geduld der Gesandten macht uns nervös.

beim klavier
im hirn
liegen alle
schwarzen tasten
direkt nebeneinander,
wirre klänge
verbeissen sich
in die ohrmuschel,
ich gehe unter
in ihrem
tosenden schweigen
und schreie
wortlos
zurück

Alle Menschen haben in sich einen Teil, der defekt ist. Dafür muss man sich nicht schämen, im Gegenteil, man muss diesen Teil pflegen, denn nur durch ihn sind wir Menschen voneinander unterscheidbar.
„Wie geht es dem Vakuum?“ Instinktiv will ich mir an den Hals greifen, führe die Bewegung jedoch nicht zu Ende. „Gut, danke der Nachfrage.“
Im nächsten Leben möchte ich ein Ohrring sein. Ein kleiner, unauffälliger aus rostfreiem Edelstahl, einer, den man problemlos zum Schlafen und Sportmachen tragen kann. Einer, dessen Anwesenheit man kaum mehr bewusst wahrnimmt, dessen Abwesenheit jedoch schmerzlich bemerkt würde. Einer, der nicht fühlen muss, der leblos ist. Das Display von Manus Mobiltelefon leuchtet auf. Der Schein verleiht ihrem Gesicht einen
ungesund grünlichen Farbton.
„Kein Empfang“, sagt sie.
„Logisch“, sage ich und wundere mich trotzdem, dass wir nicht schon früher nachgeschaut haben. Wir blicken beide auf das Display. Knapp zwanzig Minuten sind vergangen seit dem Niedergang der Lawine.
„Ich weiss nicht, wie lange ich Lehrerin sein werde“, sagt Manu. „Wahrscheinlich mach ich mal was anderes.“
„Ich auch“, sage ich lahm, nicke und denke, dass meine Fähigkeiten nirgendwo gebraucht werden. Ich möchte tanzen. Die Augen schliessen, damit die Dunkelheit der Lagerhütte kraftlos erscheint gegen die Dunkelheit im Kopf. Bettlägerige Geheimnisse sind die unbequemsten. Die anderen haben eine gewisse Dynamik, eine Selbstständigkeit; sie kommen und gehen, wie es ihnen passt. Man kann sie hüten und pflegen, kann sie aber auch einfach zur Hintertür hinaus scheuchen. Bettlägerige Geheimnisse muss man umsorgen. In ihrer Unfähigkeit zu gehen, schränken sie einen das ganze Leben lang ein. Ich muss die Gedanken genau betrachten, eine grosse Welle finden, auf das Surfbrett steigen,
bevor die Welle bricht, mich tragen lassen bis zum Strand, glücklich und erschöpft auf den Sand fallen, während die Sonne über den Neopren streichelt. Oder muss ich am Strand stehen und die Gedanken anstossen, damit sie endlich davonsegeln können? Das Meer in mir liegt ganz ruhig und glatt da. Nahtlos geht es in den Himmel über; der Horizont ist unsichtbar. Wenn ich jetzt sterben würde, würde ich verloren gehen zwischen

Meer und Himmel. ‚Noch nicht, bitte nicht’, ruft das Kind in mir, während die Erwachsene ihm mit dem Handrücken einen schnellen, harten Schlag auf den Mund verpasst. „Wir könnten graben“, sagt Manu. Ich muss an Robinson Crusoe denken und daran, wie viele Tage knochenharten Arbeitens er in die Erstellung einer hölzernen Schaufel gesteckt hat.
„Womit?“
„Mit den Händen.“
„Sie würden erfrieren“, sage ich und ertaste mit der Linken die Rechte, als wäre sie ein fremdes, eigenständiges Wesen. Ich greife in die Hosentasche, hole das Mobiltelefon hervor und beleuchte mit dem Display die Umgebung. Auf dem Fenstersims steht eine gläserne
Schale, gefüllt mit herbstlicher Deko. Ich stehe auf, ramme mit dem Schenkel eine Tischkante, fluche innerlich, bekomme endlich die Schale zu fassen und schütte die Deko aus. Das Display erlischt. Manu öffnet das Fenster. So sieht es in mir aus, denke ich: Ich öffne ein
Fenster und vor mir liegt dunkle, undurchdringliche Kälte. Ich sehe nichts, als wäre alles weg, aber ich weiss, dass nur Schnee mich vom Leben, Lachen und Tanzen trennt. Hätte ich genug Wärme, könnte ich den Schnee aus mir heraus schmelzen. „Ich zuerst“, sage ich, knie auf die Fensterbank, packe die Schale mit beiden Händen und beginne Schnee in den Raum hinein zu schaufeln. Das Atmen bereitet Mühe; die Luft ist so
schrecklich kalt. Alles erscheint mir zufällig; die Wahl des Fensters, des Hilfsmittels und auch die Schräge, mit der ich nach oben grabe. Ich habe Angst vor dem Denken. Das Denken wird manchmal so dominant im Kopf, dass das Gehirn kaum noch Platz findet; es zieht die Knie an
die Brust und verkriecht sich im hintersten Winkel.

die hände
ins gehirn tauchen,
zu fäusten ballen,
kabel und stecker
herausreissen,
achtlos wegwerfen,
weiter wühlen,
irgendwo ganz hinten
etwas finden,
nicht verstehen,
was es ist
und es genau darum
zerstören
oder unberührt
lassen

Meine Rationalität und meine Emotionalität sind seit jeher eng befreundet. Zwischen ihnen fliesst ein Fluss. Die beiden reichen sich die Hände über das Gewässer hinweg. Wenn der Fluss schmaler wird, tauchen ihre Hände ins kalte Nass. Die Kälte pflanzt sich dann in ihren Armen fort, kriecht über die Schulter bis ins Hirn und lähmt. Wird der Fluss breiter, so sind
die Arme der Rationalität und der Emotionalität schmerzhaft gespannt, manchmal drohen die Finger einander zu entgleiten. Aber es gibt Zeiten, da ist die Breite des Gewässers ideal; die Hände sind locker verschränkt und im Trockenen. Die Rationalität hat seit Geburt einen sportlichen Körperbau; kräftig, breitschultrig, athletisch. Die Emotionalität hat früher eher zart und unterentwickelt gewirkt. Viele Stunden Training sind nötig gewesen, um ihren Körper in Form zu bringen. Mittlerweile strahlt sie eine
feingliedrige, schlichte Kraft aus. Ich weiss nicht, was passiert, wenn sich die beiden einmal verlieren sollten. Sie stehen einander so nahe - ich glaube, der Untergang des einen wäre zugleich der Untergang des
andern. Manchmal wenden sie sich die Gesichter zu und lächeln einander scheu und zugleich schelmisch an und dann merke ich erst, wie viel sie sich gegenseitig bedeuten und wie sehr sie sich vertrauen. Es bedarf keiner Worte zwischen ihnen, alles ist gesagt durch die Berührung der Hände. Als wären sie ein einziges Gebilde, ein einziges Gewächs.
Manu fragt:
„Bist du gläubig?“
„Nope“, sage ich und krame einen M-Budget-Kaugummi aus der Hosentasche. „Du?“
„Schon ein bisschen, ja.“
„Ich wünschte“, sage ich, „ich könnte gläubig sein. Aber wenn ich höre, man soll da so einen Gott lieben, uneingeschränkt, dann - sorry, aber das kann ich nicht. Ich kann doch nicht lieben, was ich nicht sehe, spüre und so. Das wäre, wie wenn dir da einer sagt: Hey, liebe den kleinen Pedro in Spanien, du kennst ihn zwar nicht, wirst ihn auch nie sehen, aber du musst
ihn jetzt mehr lieben als deine Familie.“ Manu lacht. Unsicher. Sie gräbt nicht mehr. „Und“, will sie wissen, „wenn es jetzt einen Gott gäbe und du nach dem Tod vor dem Himmelstor stehst… was würdest du sagen?“
„Ich würde sagen: War es kompliziert, Krebs zu erfinden oder ging das ganz blitzartig und
nebenbei?“ Manu lacht. Unsicher. Sie gräbt wieder. Nach einer Weile meint sie: „Ich würde sagen: Bitte schau mich nicht an, ich bin ungeschminkt.“

Ich fahre mir über das Gesicht. Innerlich blättert eine Tapete ab. Ich frage mich, ob Tränen im Dunkeln rot sind. Keiner ist da, der mich die Hände der Rationalität in die Wunden legen lässt.
schwarz
zugeteilte farbe
ganz zu beginn
einer konturlosen, schmerzhaften existenz,
auflösung

Ich bin so erschöpft, dass ich kaum noch die Schale halten kann.
„Ich bin dran“, sagt Manu. Das Display leuchtet auf. Manu schiebt mich zur Seite, nimmt mir die Schale aus der Hand und verschwindet bis zur Hüfte in dem steil aufwärts führenden Gang. Es wird zunehmend mühsamer, den Schnee am eigenen Körper vorbei in den Raum hinein zu schaufeln. Ich bin mir nicht sicher, ob unser Vorgehen sinnvoll ist. Ich könnte mich
in eine Ecke setzen und konzentriert über eine Lösung nachdenken, aber ich habe Angst, dass ich erkennen würde, wie viel Zeit wir bereits verschwendet haben und welch sinnentleerte Arbeit wir durchführen.
Das Denken kann ich ausknipsen, wenn ich merke, dass ich auf einem Irrweg bin, aber bereits viel zu lange unterwegs, um ein Umkehren überhaupt in Betracht zu ziehen. Ich folge den Irrlichtern laut und falsch pfeifend mit zügigem, festem Schritt und beobachte, wie die zweifelnden Gedanken gefressen werden von ihren stummen oder naiven Brüdern und
Schwestern. Natürlich gibt es Gedanken, die ich vor diesem kannibalischen Akt schütze; es gibt Gedanken, für die ich ein Reservat angelegt habe und dort lasse ich sie unbehelligt leben. Ein Leben, geschützt durch die Umzäunung und zugleich von ihr beschränkt. Ich taste mich zum Lehrerpult, setze mich und lausche dem scharrenden Geräusch, das Manus Arbeit verursacht. Irgendwann muss ich eingenickt sein, denn als ich plötzlich wieder aufschrecke, herrscht Stille.
„Manu?“ Keine Antwort. Ich suche nach dem Mobiltelefon, finde es nicht, stehe auf und bewege mich vorsichtig Richtung Fenster. Ich spüre, dass ich die einzige lebende Person in diesem Raum bin. Ich ertaste Manus Beine und ziehe sie aus dem gegrabenen Gang auf den Fenstersims. Auch ihr Mobiltelefon kann ich nicht finden. Die Dunkelheit pocht an die Stirn und ich muss ein wenig weinen. Manus Gesicht ist kalt. Ich fasse ihr versehentlich ins Auge; es ist offen und reagiert nicht auf
die Berührung. Als ich das Ohr an ihre Brust lege, finde ich meinen Verdacht bestätigt: Tot.
Einen Moment lang bin ich schrecklich irritiert; ich weiss gar nicht, was ich jetzt fühlen müsste. Trauer? Entsetzen? Angst? Ich fühle teilweise geschmolzenen Schnee im Herzen, einen rostigen Nagel im Hirn und ein ungewöhnliches Pochen im rechten Arm. Seit ich denken kann, ist Manu meine Freundin gewesen. Vielleicht sollte ich jetzt laut weinen? Oder
beten? Die Augen schliessen möchte ich ihr nicht; es könnte sein, dass sie es lieber hätte, wenn sie offen bleiben. Ich finde auch, dass es nicht mein Recht ist, mit dem Schliessen der Augen einen Akt durchzuführen, der vorher ausschliesslich in ihren Aufgabenbereich gefallen
ist. Manu vor Gott: Ungeschminkt, aber mit offenen Augen.

„Tja Manu“, höre ich mich sagen, „da hast du mich ganz schön im Stich gelassen, was?“ Der Klang der eigenen Stimme tut gut. „Wird wohl zu wenig Sauerstoff gehabt haben in dem schmalen Gang und so bist du klammheimlich erstickt. Oder vielleicht doch erfroren? Mach
dir keine Vorwürfe, hätte auch mir passieren können, ehrlich. Klar weiss ich, dass es nicht deine Art ist, mich hängen zu lassen, logisch. Werd ich dir auch nicht nachtragen; Vorwürfe wird’s von meiner Seite her nie geben, versprochen. Was meinst du, soll ich den Telefonjoker
nehmen und einen beliebigen Erdenbürger fragen, was ich tun soll? Oder einen Himmelsbürger? Ob ich Gott anrufen soll? So in der Art: ‚Lieber Gott, hör mal, ich sitze ganz schön in der Klemme, hab auch ein bisschen kalt, könntest du mir bitte helfen?’“ Plötzlich reisst etwas im Kopf auf. Ich beginne so heftig zu schluchzen wie schon seit Jahren
nicht mehr. „Heulsuse!“, keuche ich mehrmals zwischen den Weinkrämpfen. Die Wolkenfronten driften langsam aber stetig auseinander und lassen ein hellblaues Stück Himmel frei. Ich weine, bis das freigelegte Stück so gross geworden ist, dass ich mir ein
Gesicht darin vorstellen kann. Ich lache ein bisschen. Ich muss an den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer des Elternhauses denken und weine wieder. Dann ist das Tränenreservoir leer. „So, so“, sage ich ganz laut und energisch in den leeren Raum hinein. Ich packe Manus
Fussknöchel und ziehe sie von der Fensterbank. Ein hässliches Geräusch entsteht, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlägt. „Sorry“, murmle ich und schliesse das Fenster.

es klopft,
ich öffne,
etwas kommt herein,
etwas geht hinaus,
eine rochade
mit unbekanntem
ausgang

Ich streife durch den Raum, streiche über Begrenzungen. Schranktür, Schranktür, Schranktür,´Schranktür, Wand kurz, Fens-ter-front, Wand-Wand-Wand-Wand, Tür, Wand-Wand-Wand-Wand-Wand. Und auf in die nächste Runde. So ist das Leben. Immer im Kreis. Trotzdem
fühlt sich jede Runde anders an, jedes Mal entdecke ich Neues. Nicht, dass das speziell gut wäre. Ich fände es auch okay, wenn sich jede Runde gleich anfühlen würde, dann könnte ich das Denken einstellen und würde weniger schnell altern, vielleicht sogar jüngern. Jüngern?
Bestimmt gibt es das Wort in dieser Funktion nicht, schade.
Ich frage mich oft, welche Beziehung Schriftsteller zu ihren Figuren haben. Vermutlich sind für einen Schriftsteller die von ihm erschaffenen Figuren wie ein Strauss bunter Luftballons. Bei manchen umklammert er die Schnur dicht unter dem Ballon, andere hält er am äussersten
Ende des Fadens. Alle Ballons sind gezwungen, in der Nähe des Schriftstellers zu verbleiben; im Radius seines Intellektes und seiner Kreativität. Warum nicht die Faust öffnen und die Ballons entfliegen lassen? So wie Eltern ihre Kinder entfliegen lassen. Ob es die Furcht des
Schriftstellers ist, die Ballons würden zu hoch fliegen und aufgrund des Luftdrucks zerplatzen? Oder sie würden sich in Zweigen verheddern und an einer ungeplanten Stelle – vielleicht sogar für immer – verweilen? Oder ist es Eitelkeit? Das Geschaffene nicht gehen lassen können, im Gegenteil: Sich von seinen Kreaturen wünschen, dass sie einem huldigen?
Gott ist Schriftsteller. Ich werfe die Gedanken über Bord und greife nach dem Taschenmesser. Der Fingernagelbricht, als ich es öffne. Mit der Linken ramme ich mir das Messer in die Handfläche der Rechten. Der Schmerz küsst den Nacken und lässt Hühnerhaut auf dem Rücken zurück. Ich glaube, ich habe irgendeinen wichtigen Nerv erwischt. Ich kann die Hand nicht mehr zur Faust ballen. Die Finger fühlen sich an wie entkoppelt. Die Hand ist offen, sie muss jetzt nehmen und geben. Ich bin überrascht, dass sich das Blut so kalt anfühlt. Ich taste mich durch völlige Dunkelheit
zu Manus Leichnam, erfühle ihr Gesicht mit der unverletzten Hand und tropfe dann mit der andern Blut über ihre Augen. „Weil du deines beim Sterben behalten, ja sogar versteckt hast“, flüstere ich.

ich glaubte,
im kreis zu gehen,
jetzt erst

  • aus der ferne -

erkenne ich
die spirale,
aufwärtsführend

Ich lege mich auf eines der Schülerpulte. Es fühlt sich genauso an wie das Lehrerpult. Ich lache und weine dann. Die Konturen meines Lebens verwischen; sie sind wasserlöslich. Ich spüre den Arm nicht mehr. Vor ein paar Minuten habe ich eine kleine Menge Schnee gegessen. Hunger habe ich kaum, ich habe es aus Langeweile getan. Ich warte. Die Augen fühlen sich ganz schwer und alt an. Ich mache sie zu, damit sie keine Angst mehr haben müssen. Der Körper ist zerrissen. Ich gleite dem Traumland entgegen. Das Bild eines bunten Plastikbaggers taucht vor dem
inneren Auge auf und zieht sich dann wieder zurück. Ich ziehe mich auch zurück. Das Gehör schalte ich jedoch noch nicht aus. Für alle Fälle.
Ich höre plötzlich Geräusche: Ein Rufen, ein Scharren. „Lasst mich“, sage ich, vielleicht habe ich es aber auch nur gedacht. Lärm nähert sich. Ich weiss nicht, ob er von innen kommt oder ob er zur äusseren Welt
gehört. Ich rolle mich zusammen.