Tex Rubinowitz, WIEN (A/D)

Geboren 1961 in Hannover, lebt in Wien. Cartoonist, Musiker, Reisejournalist und Schriftsteller. Er liest auf Einladung von Daniela Strigl.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Wir waren niemals hier

I.
Neulich bekam ich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Ich
bekomme oft solche Anfragen und weiß immer nicht, ob ich sie
beantworten soll, was sie mir bringen könnten, mal davon abgesehen,
dass Facebook ein Wartesaal für Idioten ist und ich mich seit Jahren
frage, was mache ich hier eigentlich, aber dann kam eben diese Anfrage,
und die war interessant, und vielleicht läuft es ja darauf hinaus, dass wir
alle auf sowas warten. Die Anfrage kam von einer Irma, und ich wusste
augenblicklich, wer das ist. Es waren ja nur ein paar Monate, und jetzt
sind 30 Jahre vergangen. Und alles begann und endete mit einem Zettel
auf dem Küchentisch.
II.
Ich bin weggegangen. Wenn ich in 50 Minuten nicht zurück bin, komme
ich gar nicht mehr. Brauchst nicht zu warten.
50 Minuten? Wieso 50 Minuten? Ich habe mal ein Foto gesehen, von
einem Mann, der sich selbst angezündet hat, 95 Prozent seines Körpers,
oder besser: seiner Haut waren verbrannt, er hatte noch endlose 50
Minuten zu leben, ein langsamer Tod, er saß auf einem weißen
Plastikstuhl, einem so genannten Monobloc, die gibt’s heute gar nicht
mehr, sie hatten ihn da rauf gesetzt, keine Ahnung warum, dass er es 50
Minuten irgendwie bequem hat, oder sie wollten ihn demütigen, oder
etwas dazwischen, eine leere Geste, eine Übersprungshandlung.
Du bist erstmal 50 Minuten frei – und danach vielleicht noch freier. Ich
war niemals hier. Freu dich.
Ich fand den Zettel auf dem Küchentisch. Sie hatte ihn geschrieben, wir
schrieben uns oft solche kleinen Botschaften, banale („Keine Butter“)
oder mysteriöse („Die Zeit der Unschuld ist vorbei, wenn das Klopapier
durch Hasendraht ersetzt wird“). Sie saß im Wohnzimmer (das auch unser Schlafzimmer ist) und sah fern, es lief eine Dokumentation über
Eulen, sie rauchte. Was sah ich zuerst, sie oder den Rauch?
„Alles klar?“
Sie sagt nichts.
„Du rauchst?“
„Nein, ich schaue einen Eulenfilm.“
„Aber du rauchst dabei.“
„Scheint so.“
Ich mag es nicht, wenn sie im Wohn/Schlafzimmer raucht, wir rauchen
eigentlich nur in der Küche, also ich selten, eher nie, sie dauernd. Einmal
meinte sie zu mir: „Du rauchst wie ein Nichtraucher denkt, dass ein
Raucher raucht.“ Ich weiß auch nicht, warum wir in der Küche rauchen,
vielleicht weil in der Küche weniger Stoff ist, in dem der Rauch hängen
bleiben kann, komisch, dass Rauch nicht in Essen hängen bleibt, gar
nicht so komisch eigentlich, Essen wird ja auch immer gleich
aufgegessen, und Teppiche eben nicht, und nicht ohne Grund hängen
vor Küchenfenstern eher selten Gardinen. Ein Zimmer, in dem nicht
geraucht wird, ist wie ein Zimmer ohne Vorhänge - ihre Worte.
Sie hat, als ich sie wieder mal dafür kritisierte, dass sie im Wohnzimmer
raucht, sinngemäß gesagt, dass Raucher freigeistige und
genussfreudige Menschen seien, denen ihr freier Genuss vermiest
werden und als "Sucht" stigmatisiert werden solle. Bezeichnenderweise
seien ja auch Hitler und Stalin Nichtraucher gewesen. Wenn mehr
Menschen rauchen würden, gäbe es wohl nicht mal mehr Kriege, denn
die Raucher seien so entspannt, dass sie genussvoll leben und leben
lassen können.
Auf meinen Einwand, dass Stalin doch Kettenraucher gewesen sei,
seufzte sie edie-sedgwickhaft: „Aber er hat sich verhalten wie ein
Nichtraucher.“
Ich wollte diese Diskussion nicht. Mich störte der Rauch auch weniger
als ihre Unberechenbarkeit.
„Ich hab den Zettel in der Küche gelesen.“
„Nicht jetzt.“
„Wenn du den Film zuende gesehen hast, gehst du?“
„Ja.“
„Und kommst wieder?“
„Nicht jetzt“
„50 Minuten?“
Keine Antwort. Ich habe nichts gegen Pragmatismus, Eulen, Rauchen an
den richtigen Orten, einfach mal so eben Verschwinden, aber manchmal
würde ich mir bei ihr vielleicht etwas mehr Leidenschaft, Pathos
wünschen. Einen durch und durch pragmatischen Menschen kann man
nicht anfassen, man kann ihn ja eigentlich auch nicht umbringen, du
kriegst ihn nicht.
„Geht’s dir nicht gut? Ist was?“
Sie zündete sich eine neue Zigarette an, und sah mich mit einem Blick
wie ein verhungerter Blitz an: „Pass mal auf, lass mich bitte diesen Film
zuende ansehen, dann kümmern wir uns um dich, ok?“
Wieso um mich kümmern? Ich kann mich leicht um mich selbst
kümmern, zumindest für die Länge eines Eulenfilms. Ich ging in die
Küche, nicht um zu rauchen, ich hätte ja für sie dort rauchen können,
aber ich machte mir ein Bier auf, das ist meins, sie trank kein Bier. Sie
meinte, die Bitterkeit des Bieres sei ihr zu arrogant.
Irma trank auch keinen Wein oder sonst was, sie leckte an Batterien. Sie
hatte immer eine Batterie bei sich, an der sie lutschte, abwechselnd
rauchen und an der Batterie lecken. Zigaretten und Batterien, das hielt
offenbar ihre Maschine am Laufen. Zumindest weniger irritierend, als an
Steckdosen zu lecken und Pfeife zu rauchen.
Ich habe Irma in Wien kennengelernt, im U4, damals noch eine
angesagte Disco, als Discos noch nicht Clubs hießen, und selbst zum
U4 sagte noch nicht einmal irgendjemand Disco, sondern nur U4. Hier
soll auch immer Falco rumgehangen sein, wir waren später noch öfter
dort, Falco hab ich allerdings nie gesehen. Ich kann mich nur an ein Lied
erinnern, Madame Butterfly, von Malcom McLaren, das war damals ein
kleiner Hit, das Lied ging endlos, es schien mir zumindest endlos (in
Wirklichkeit dauert es nur sieben Minuten, aber in den uns
eingebrannten Songparametern sind sieben Minuten eben lang), wir
standen an der Bar, sie trank nichts, ich irgendein charakter- und
kohlensäurearmes Bier, sie schüttete mir Zucker in die Jackentasche,
das fand sie wohl lustig, aber es war vielleicht der intimste Akt zwischen uns, vielleicht eine Ouvertüre, auf dieser Frequenz würde sie also
senden. „Back in Nagasaki I got married to Cho Cho San. That was her
name. Back in those days. And I was her man.“ Das Lied basiert auf
einer Oper Puccinis, und Opern waren, und sind mir immer noch
eigentlich, relativ egal, aber solche Koinzidenzen, Oper in der Disco,
Zucker in der Tasche, adeln bekanntlich jeden Unsinn, vielleicht gilt das
sogar für Opern in der Oper.
Irma kam mit dem Zug, sie war mit einem Interrailpass unterwegs, das
war im September 1984, sie ist gewissermaßen in Wien
steckengeblieben. Sie wollte nach Ungarn, bekam aber kein Visum, oder
das Visum war ihr zu teuer, irgendwas mit dem Visum war es. Wir
blieben bis zur Sperrstunde, als man die ganzen Gestalten aus der Disco
ungeschützt in einen hämischen Morgen kehrte, die ganzen Übrigbleiber
und Nachzehrer. Es will ja niemand der letzte in einer Disco sein, wenn
das Licht angeht, der erste auch nicht, wenn das Licht noch an ist. Aber
uns war das egal, wir hatten das billige Lied im Ohr, das aber jetzt unser
Lied war, es ließ sich schlecht tothören, es summte in uns nach, in
einem besseren Kontext, wie wir fanden, wir hatten es da rausgeholt.
Was jetzt? Ratlos gingen wir durch Nagasaki, ich kannte die Stadt auch
noch nicht, war erst einen Monat hier, wir küssten uns unter einer
eisernen Otto-Wagner-Brücke die Lippen wund, und ich hab das so
interpretiert, dass wir jetzt zusammen wären, dass dieser Kuss das jetzt
sozusagen besiegeln würde. Am Abend fuhr sie mit dem Zug nach
Belgien, aber drei Wochen später kam sie nach Wien zurück,
unangekündigt, und zog wie selbstverständlich bei mir ein, und wie
selbstverständlich ließ ich sie einziehen, ich wollte mir nicht die Blöße
der Überrumpelung und Überforderung geben. Da stand sie vor der Tür,
mit einem kleinen Wanderrucksack: ein bisschen Kleidung, ein
schwarzes Hemd, auf dessen Knopfleiste sie mit weißer Wäschefarbe
Ameisen, und eine grüne Seifendose, auf die sie einen Hecht gemalt
hatte, der von einer Axt in zwei Teile gespalten war, mich rührte das,
nicht die Tiere, sondern, dass sie Seife mitgebracht hatte, ein kleines
runzliges Stückchen, dessen Aroma schon längst ausgehaucht war.
Wir imitierten Leben, in meiner 26-Quadratmeterwohnung in Ottakring,
Schellhammergasse 16, Garçonnière nannte man das euphemistisch. Klo am Gang, aber als einzigen Luxus: ein Fernseher und ein
Videorekorder, den hatte mir mein Vorgänger überlassen, nein,
eingetauscht gegen einen dunkelblauen Marinemantel mit silbernen
Knöpfen und einen hellblauen Sony-Walkman (beide geklaut).
Irma war irgendwie Litauerin, sie kam aus Litauen, finsterste Sowjetunion
damals, ich fragte sie, wie denn das ginge, dass sie so einfach ausreisen
konnte, sie sprach ein leicht patiniertes Deutsch, mit nasalen Vokalen
und wunderlichen Vokabeln (verbumfeit, gebumfiedelt, klabastrig), sie
meinte, sie und ihre Eltern würden schon länger (“ewig und drei Tage“) in
Hannover leben, als Kontingentflüchtlinge, eigentlich Baltendeutsche,
auch wenn dieses Deutsche an ihnen inzwischen einem Kompromiss
gewichen sei. Sie schwärmte für die Stadt, weil sie so uncharismatisch
sei. Charismaradiergummi nannte sie mich mal in einem anderen
Zusammenhang, ich weiß nicht, ob als Spott oder Kompliment gedacht,
sie wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht mal, dass ich selbst aus
Hannover komme. Als ich ihr das erzählte, nannte sie mich nie wieder
so, leider.
Ich war ihr erster Freund, und sie war meine erste (echte) Freundin,
nach kleinen blinden Gehversuchen ohne Bedeutung, na gut, sie hat mal
etwas von einem Franzosen erzählt.
Unsere Freundschaft, oder besser: unser Zusammensein, war genauso
pragmatisch, also unangreifbar, wie alles an und alles mit ihr. Wenn wir
uns küssten, ließ sie die Augen offen. Ich assoziierte automatisch immer
die Righteous Brothers: „You never close your eyes anymore when I kiss
your lips“, das soll den falschen Brüdern zufolge ja heißen, wenn man
die Augen auflässt, ist es vorbei („You've lost that lovin' feeling“), aber
was hat man denn vorher gesehen, wenn man die Augen geschlossen
hat, den Vorgänger vielleicht? Einen Idealpartner? Einen Franzosen? Ist
das nicht Betrug? Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, wie
kleine Kinder, wenn die die Augen zumachen, existiert die Welt auch
nicht mehr, oder eine, in der eine Katze mit einer Krone auf dem Kopf
Präsident werden kann.
Man klappt Leichen die Lider runter, damit die Lebenden nicht von den
vorwurfsvollen Blicken der Toten belästigt werden, sie ertragen es nicht,
so einfach ist das. Natürlich weiß ich, dass man beim Küssen die Augen
schließen soll, um unabgelenkt den Moment zu genießen, aber das kann
niemand beweisen. Ich vermute, dass die Mehrheit der Küssenden, die
ihre Augen schließen, sich einen Ausweg zusammenknutschen, Motto:
Bloß weg hier.
Nur einmal, ganz kurz, ich gebe es zu, hab ich mir selbst vorgegaukelt,
sie lässt die Augen vielleicht auf, weil sie Angst hat, ich würde abhauen -
währenddessen.
Aber wir küssten uns auch schon lange nicht mehr, Sex gab es natürlich
auch keinen, ich kann das Wort nicht mal aussprechen, Sex, ein Wort
wie eine Prothese. Von ihr kamen immer kryptische Meldungen, wie
„mach dich doch nicht lächerlich“ und Abwehrreaktionen, es tue ihr weh,
das ginge nicht, wir müssten das verschieben. Ja, mein Gott,
verschieben wir „es“, ich zehrte ja immer noch vom Zucker in meiner
Tasche. Beim Sex, machen wir uns doch nichts vor, ist man sich
sowieso fremder als bei jedem anderen Kontakt zwischen zwei
Zellhaufen, man beginnt vielleicht gemeinsam etwas (sechzig Sekunden
Aufeinandergeklatsche), aber entfernt sich mehr und mehr, konzentriert
sich doch nur auf sich, um am Ende in einer ratlosen Lähmung zu
erstarren, wie zwei sterbende Karpfen. Was war das eben, wer oder was
ist das da neben mir?
Paul McCartney hat mal gefragt: "Why Don't We Do It in the Road?"
Die Antwort ist doch ganz einfach: Weil wir es noch nicht mal im Bett
machen.
Obwohl, es gab so was wie Sex, pragmatischen Sex, klar, immer wenn
sie nämlich ihre Menstruation bekam, hatte sie derartige Krämpfe und
Schmerzen, dass sie meinte, nur ein Orgasmus könne sie davon erlösen
und sie entspannen. Dazu musste ich mich auf den Bauch legen, und sie
ritt dann quasi auf meinem Po „nach O-Town“, wie sie das nannte.
Einmal rief währenddessen ihre Mutter an, Irma war ganz aus der Puste,
die Mutter fragte, was denn sei, und Irma meinte, sie hätte gerade eine
Wand aufgestemmt. Das war also unser Sex.
Ich studierte zu der Zeit Kunst, aber auch nur eine Woche, ich war zwar
inskribiert, aber es war ja niemand da, der etwas hätte unterrichten
können, mein Professor fand es wohl gut, uns „machen“ zu lassen. Zwei
kleine Tiroler namens Andi und Chappi bauten sich aus Pappkartons eine kleine Anti-Uni im Lehrsaal, da krochen sie jeden Morgen rein und
hörten Radio, kein Mensch wusste, was sie da drin wirklich trieben.
Angesichts dieser trüben Aussichten, dachte ich, kann ich es auch gleich
bleiben lassen, und hing stattdessen im Café Alt Wien herum, trank Bier
und aß nichts und trank stattdessen noch mehr Bier. Irma machte gar
nichts, wollte nie mit ins Alt Wien, sie war immer zuhause und brütete so
vor sich hin. Als ich sie mal fragte, was sie denn so vorhabe, was sie
plane, zuckte sie nur mit den Schultern, wie eine Schlange, die kurz
davor steht, sich zu häuten, auch wenn Schlangen nicht direkt Schultern
haben, ich traute mich nicht, weiter zu fragen, aber am nächsten Tag
hatte sie ein paar Lehrbücher gekauft (sagte sie, ich weiß aber, dass sie
sie geklaut haben musste, sie hatte ja kaum Geld), Koreanisch für
Anfänger. Sie lernte tatsächlich Koreanisch und begrüßte mich von da
an mit Anjong und meinte, dass heiße zwar „Guten Tag“, aber das sei
ihre Art, „Ich liebe dich“ zu sagen, so solle ich das immer interpretieren,
wenn sie mich so begrüßen würde. Hab ich verstanden, man braucht
eben Codes, wenn man keine gemeinsame Sprache findet.
Das war auch die Zeit, als sie Batterien lutschte. Warum machst du das?
Ich fragte sie, sie meinte, das hätten sie als Kinder in Litauen immer
gemacht, das schmecke sauer, das sei so was wie saure Drops, die
hätte es ja nicht gegeben, in Litauen sei immer alles nur süß gewesen,
selbst das Brot. Weshalb sie auch gerne Autos Zucker in den Tank
geschüttet hätten. Was hab ich denn als Kind gemacht? Genau, ich hab
rohe Leber gekaut, mein Vater brachte immer, wenn er irgendwann mal
nach Hause kam, spät in der Nacht, wenn wir schon alle schliefen, rohe
Leber mit, er arbeitete an einer Freibank und schnitt sich und mir dann
immer wieder kleine Stücke davon ab, die wir gemeinsam kauten. Später
(als er dann gar nicht mehr kam) kaute ich UHU, den Klebstoff zu
Kügelchen gerollt, aber das war nur so eine Phase, schmeckte erregend
scharf, da kamen mir ihre Batterien gar nicht mal so abwegig vor. Sie
hatte immer Batterien bei sich und Zigaretten, sie meinte, das gehöre
zusammen, das Rauchen entspanne, die Säure aus den Batterien
mache munter. Sie aß ja auch kaum etwas, Essen sei langweilig,
behauptete sie, reine Zeitverschwendung, ihr schmecke nichts, sie
bekomme nichts runter, allein vom Gedanken an Essen bekomme sie Sodbrennen, und sie fürchte, dass es, wenn sie etwas esse, noch
schlimmer werden würde. Sie brauchte auch immer ewig auf dem Klo,
echt stundenlang. Ich fragte sie mal durch die Tür, ob alles klar sei, was
sie denn da drin mache. Seufzend antwortete sie, sie verwöhne sich im
Spiegel mit einem Lächeln, sie drohte, wenn ich reinkäme, hätte sie sich
totgelächelt, und ich sei schuld, ich sagte, sie solle keine Witze machen,
sie erklärte aber, der eigentliche Witz sei, dass sie nicht scheißen könne,
es käme nichts (kein Wunder), sie presse und presse und darüber
schlafe sie mitunter ein, sie schlief auf dem Klo ein, weil sie offenbar
vergessen hatte, warum sie auf dem Klo saß.
Sie lernte also Koreanisch, und wie es mir schien, mit einem gewissen
Eifer, aus dem nicht wirklich hervorging, was sie damit vorhatte oder was
es in ihr auffüllen sollte. Einmal hielt sie mir einen Vortrag über Hangul,
die Koreaner hätten ja im Gegensatz zu den rückständigen Japanern
und Chinesen ihr Hangul, also Buchstaben wie wir, siebzehn, weswegen
sie ja auch so oft von ihren zwei Nachbarn erobert, vergewaltigt und
versklavt worden seien. Ich verkniff mir einzuwenden, dass wohl der
geringste Grund, eine Nation zu versklaven, der sei, dass sie siebzehn
Buchstaben habe.
Zu der Zeit begann ich mich selbst zu tätowieren, ganz roh, mit zwei
zusammengebundenen Nadeln, und Tusche, Punkt für Punkt, das war
noch zu einer Zeit, als nicht jeder Idiot tätowiert und eine Tätowierung
ein echtes Stigma war, man dadurch wirklich noch der Außenseiter sein
konnte, als der ich mich immer fühlte, weil ich es ja auch war. Leide nicht
darunter, sondern akzeptiere es als dein Kapital, die Lebenslüge der
Clowns.
Ich tätowierte mir zwei koreanische Buchstaben, auf jedem Unterarm
einen, ein A für Anjong, und ein I für Irma, ich wusste, dass sie das
lächerlich finden würde, ich legte es sogar darauf an. Sie erklärte, dass
die Buchstaben zusammengesetzt AI ergäben, und dass das auf der
ganzen Welt, von Litauen bis Korea, der gebräuchliche
Schmerzensschrei im Affekt sei, nur im Deutschen nicht, da wären die
Buchstaben in umgekehrter Reihenfolge die Laute, die ein (malt
Gänsefüßchen in die Luft) „Grautier mit vier Buchstaben“ von sich gebe,
aber, und das sollte mich wohl beruhigen, nur im Deutschen. Einmal musste ich ihr ein Huhn klauen, im Prater. Wir waren den ganzen
Tag an der sich mühsam dahinschiebenden, öligen Donau, nicht weit
vom Friedhof der Namenlosen, schwammen auch, was nicht ganz
ungefährlich ist, sie kollidierte beinahe mit einem roststarrenden
rumänischen Frachtschiff namens Ioana Radu. Danach ziellos im Prater
herumgeirrt, stundenlang, im Hochsommer, völlig erschöpft und
ausgehungert kamen wir abends am Praterstern an, und da gab es noch
so einen Hühnergrill, ein Brathuhnkarussell auf der Straße. Sie meinte
plötzlich, los, klau mir eins, sie ging schon etwas vor, und überwachte
die Aktion, wie ein Detektiv. Ich drückte mich an dem Stand herum,
überwand mich dann und riss das Huhn, das kochendheiß war, vom
Spieß, und rannte, lief zu ihr, wir schlangen das Tier irgendwo auf der
Bank einer Bushaltestelle hinunter, wie Delinquenten, so fühlten wir uns
wohl auch, Hühnchen zum Schafott. Kein Dank, keine Anerkennung von
ihr, nichts, meine Hände waren verbrüht, fettig sowieso, trotzdem ein
ähnlich intimes Souvenir wie damals der Zucker in der Tasche. Ich
glaube, es ging ihr gar nicht so sehr um das Essen, sondern das war
vielmehr eine Art der Initiation, mich zum Trottel zu machen, vielleicht
hielt sie mich für unterfordert. Sie kann mir keine richtige Liebe geben,
keinen Sex, also gibt sie mir Aufgaben, die ich dann interpretieren kann,
wie es mir gefällt. Ein Brathuhn ist wohl auch nicht immer das, was es
scheint. Ein Brathuhn sagt: Anjong.
Ich habe mal versucht den Aufnahmeknopf eines Kassettenrekorders so
schnell zu drücken, dass er das Geräusch des Drückens mit aufnimmt,
und so kam mir das, was wir hatten, immer vor, wie ein noch nicht
angekommenes Geräusch.
Gleich nachdem sie zu mir gezogen war, sagte sie: „Meine Geheimnisse
sind bei dir nicht sicher.“ Ich fragte sie, was sie damit meinte, was das für
Geheimnisse seien, aber sie sagte nichts, zog nur die Batterie aus der
Tasche und lutschte daran, grinsend, nickend (so in der Art: „Denk mal
drüber nach“). Vielleicht waren ihre Geheimnisse so geheim, dass noch
nicht mal sie sie kannte: Sie konstruiert sich selbst aus einer Behauptung
und hofft, dass daraus irgendwann mal eine Gewissheit wird, vielleicht
soll ich mir auch diese Geheimnisse ausdenken und sie ihr anbieten, und
sie wählt aus, was für sie brauchbar ist, woraus sie sich zusammenstecken kann, das ganze Geheimnis war letztlich, ganz nahe
an etwas zu sein, ohne zu wissen, woran eigentlich, und ich würde es
nie erfahren.
„Na, fühlst du dich jetzt besser, geht’s dir besser?“
Ihr Film ist jetzt offenbar zuende, jetzt beginnt meiner, na, Irma, was
kommt jetzt?
„Was meinst du?“
„Trinkst wieder Bier?“
„Ja, wie du siehst.“
„Den Zettel gelesen?“
„Ja, hab ich gelesen, gehst du, willst du weg?“
„Ja, natürlich, jeder will doch weg, in jeder Anwesenheit ist doch die
Abwesenheit gleich mit eingebaut, so oder so.“
„Ich bleib hier.“
„Sicher nicht, du wirst auch gehen, irgendwann.“
„Aber wenn du gehen willst, warum das überhaupt ankündigen? Tu’s
doch einfach.“
„Weil das nicht geht. Man wird doch dauernd zu etwas gezwungen.“
„Niemand zwingt dich, Koreanisch zu lernen.“
Das war allerdings unterste Schublade.
Wortlos zog sie sich Mantel und Schuhe an und verließ die Wohnung. Es
war Winter, wo wollte sie hin?
Als man den hochbetagten Charlie Chaplin mal fragte, was er denn jetzt
noch vorhabe, ob er noch Träume oder Wünsche habe, meinte er nach
einer langen kontemplativen Pause, er wolle noch einen Film über
Spatzen drehen, sie sollten die Hauptdarsteller sein, die Menschen nur
Nebenfiguren, die Spatzen sollten die Menschen spielen, die Menschen
Spatzen, die sich um die Krümel rangeln. Daraus wurde nichts, leider, er
starb 1977, wurde beerdigt, zwei Monate später klauten ein Pole und ein
Bulgare seine Leiche, reisten damit durch die halbe Schweiz, vergruben
sie woanders, um die Familie zu erpressen, sie wollten 600.000 Franken,
"Charlie hätte das lächerlich gefunden", meinte seine Witwe Oona und
verhandelte gar nicht erst.
Spatzen sind in Europa so genannte Standvögel, nur die wenigsten
Kurzstreckenzieher, lediglich nicht dauernd von Menschen bewohnte Siedlungen im Alpenraum werden im Spätherbst oder Winter vom
Haussperling geräumt. In Pakistan und Indien gibt’s ein paar Zugspatzen
und Teilzieher, sie können schon ein paar Kilometer fortziehen, aber
Exoten werden sie nirgends. Und Charlie war demnach noch als Leiche
ein Kurzstreckenzieher.
III.
Wie Irma, nach zwei Stunden war sie wieder zurück, 70 Minuten zu spät,
oder für meine Freiheit zu früh. Sie meinte, sie habe meinen Text
gelesen, er gefalle ihr gut, selbst das Ende sei gut, aber ein bisschen
rustikal, das würde sie rausnehmen, das mit Chaplin und den Spatzen,
solche Schlüsse seien immer wie Kuckuckseier, man könne sich damit
die ganze Geschichte ruinieren.
„Ich hab ́s ja für dich geschrieben.“
„Für mich? Wieso, versteh ich jetzt nicht. Bin ich ein Spatz?“
„Jetzt redest du wie die Irma im Text.“
„Schau mal, vielleicht bin ich das sogar oder eine Projektion, das ist mir
im Grunde auch egal. Ich brauche dich nicht, damit du mich brauchst, ich
brauche dich, damit du mich NICHT brauchst.“ (Der Satz kam viel zu
schnell, um ihn zu kapieren, er klang auch ein bisschen einstudiert, so
als hätte sie den Anlass abgewartet, um ihn abzuwerfen)
„Wenn das mit unserem Sex nicht so klappt, wie du dir das vorstellst,
wenn du unzufrieden bist, ich spür das ja, dann hol ihn dir eben
woanders. Nimm ihn dir, ich bin die letzte, die eifersüchtig wäre, ich hab
kein Problem mit meiner Sexualität, so bin ich nun mal, das müssen wir
so hinnehmen, ich hab keine Lust, das zu analysieren, ich ahne, wo das
herkommt, aber ich lebe nicht in irgendeiner Vergangenheit, sie gehört
mir nicht mehr und ist auch nicht mehr das, was sie früher einmal war,
und von der Zukunft bleibt mir oder uns nur noch ein unberechenbarer
Rest, nicht viel, und was die Gegenwart von mir will, ist mir, ehrlich
gesagt, schnuppe.“
Mir fiel nichts ein, außer, dass ich jetzt plötzlich eifersüchtig wurde auf
jemanden, der nicht eifersüchtig ist. Und auf jemanden, der das Wort
schnuppe in diesem Kontext brachte, sowieso.
Sie ging wieder ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher an, aber diesmal, um sich einen Spielfilm anzusehen, sie war wohl bei einer
Videothek gewesen, natürlich ein koreanischer Film, oh, den, der jetzt
lief, kannte ich, den hatte wir schon mal gemeinsam gesehen. Sie saß
vollkommen autistisch davor, rauchend und hatte einen Notizblock auf
ihren Knien, wohl um Vokabeln mitzuschreiben. Naja, war ich wieder mal
alleine, die Eulen aus meinem Text waren jetzt ein rachsüchtiger
Koreaner, der einen lebendigen Oktopus verschlingt, während sie an
ihrer Batterie nuckelt.
Natürlich wollte ich ihr mit meinem Schreiben etwas mitteilen, all das,
was ich nicht artikulieren konnte, aber letztlich war der Text ein
larmoyantes Grundbrummen, und eigentlich habe ja auch nicht ich ihn
geschrieben, sondern jemand, der Irma gefallen sollte.
Statt diese Scharade zu beenden, tätowierte ich mich, machte mich zum
Esel, statt zu sagen, lass es uns lassen, was hält uns denn noch
zusammen, nicht viel mehr als die Spucke unserer seltenen Küsse,
klaute ich ihr ein Brathuhn. Genauso gut hätte ich mich vor die Tür
setzen können, vor meine eigene, mich aus ihrem Leben entlassen, aber
ich konnte es nicht, aus falschem Verantwortungsgefühl, wo soll sie
denn hin? Vielleicht wollte ich sie beschützen, vor sich selbst oder vor
Idioten wie mir.
Einmal habe ich sie geschlagen. In Berlin war das, in einem dieser
novembergrauen November, dem elenden Monat, den niemand mag,
außer uns, wir hatten so was wie Mitleid mit ihm, aber kann auch sein,
dass ich ihr das einfach nachgeplappert habe. Wir stocherten da in
Berlin eine Woche orientierungslos herum, dann am Ende, auf dem
Bahnhof, nachts, da habe ich ihr eine runtergehauen, weil sie mir Geld
gegeben hat. Ich hab sie nach diesem Geld gefragt, ich musste die
Nacht irgendwie rumbringen, Bier kaufen und so, ihr Zug nach
Hannover, sie wollte zu ihren Eltern, ging gleich, in zwei Minuten, ich
hatte noch zu warten, bis zum Morgen, bis mein Zug nach Wien ging.
Sie gab mir also dieses Geld, das wenige, das sie noch hatte, und dann
schlug ich ihr ins Gesicht. Ein grausamer Reflex, ich habe jahrelang
verdrängt, darüber nachzudenken, warum ich das tat. Vielleicht weil sie
nachgab, darum, ich wollte, dass sie hart bleibt, mir nichts gibt. Und mich
wollte ich nicht in dieser Rolle des Bittstellers, ich hasste mich in dieser Rolle, diese stinkende Unterwerfung, und ich wollte sie nicht so schwach
haben, schwächer als mich, zum ersten und einzigen Mal war sie
schwächer, ich schlug sie und meinte mich und wollte sie dafür
bestrafen, dass sie nicht mehr sie selbst war. Durch das Fenster ihres
abfahrenden Zuges sah ich sie, ich habe niemals einen so entsetzten
Blick gesehen, wie ein Reh aus einem brennenden Wald, nicht sie
weinte, ich weinte für sie.
Jetzt sitze ich wieder in der Küche und trinke ein Bier, und eine Fremde
sitzt kilometerweit weg und macht ihre Irmasachen. Wir könnten ja
immer so weitermachen, ich könnte ihr wieder einen Text schreiben, Zeit
habe ich ja, für die Dauer eines Films, ich könnte sie mir neu erfinden,
könnte sie mir so zurecht schreiben, wie sie mir gefällt, in der Hoffnung,
dass die beiden Bilder, das von meiner Irma und das von der echten
Irma, irgendwann deckungsgleich werden, bevor sie wirklich und
endgültig verschwindet.
Aber sie konnte wohl noch nicht gehen, weil etwas für sie noch nicht
stimmte, etwas noch nicht fertig war. Wie soll man auch etwas beenden,
das noch nicht mal angefangen hat? Dabei hätte sie leicht gehen
können, mit ihrem Ameisenhemd und der grünen Seifendose und den
Koreanischlehrbüchern, sie hat ja hier sonst nichts, kennt niemanden
und niemand hat sie gesehen, lebt sozusagen ganz flach hier, als lauere
sie auf irgendwas: dass es irgendwann mal losgeht oder die Koreaner
kommen.
Aber ich war leer (naheliegenderweise wie eine leere Batterie), ich
wusste nicht, was ich ihr schreiben sollte, nach dem zweiten Bier bin ich
dann gegangen, ich rief ihr ins Wohnzimmer ein schwaches „Viso gero“
zu, litauischer Abschiedsgruß, aus ihrer Welt kam nur ein
markerschütternder koreanischer Schrei, einer in ihrem Film murkste
wohl gerade einen ab. Ich zog Mantel und Schuhe an und ging auf die
matschige Straße, ging zum schaffnerlosen J-Wagen, der nach
modrigem Holz und Bohnerwachs roch, fuhr in den ersten Bezirk, setzte
mich ins Alt Wien, so wie üblich, irgendwer fand sich immer,
Sauerstoffdiebe, die sich mit ihren Zigaretten betranken, ihre einzige
kreative Leistung, immer noch ergiebiger als eine autistische
Batteriesäurelitauerin mit Faible für eine Sprache, die sich aus siebzehn Buchstaben zusammensetzt. Andi und Chappi waren natürlich da, sie
sahen erschöpft aus, pappäugig, nach ihrem offenbar harten Tag in der
Schachtel-Uni, ich trank fünf Bier und zwei Knoblauchschnäpse, redete
mit einem ungelüfteten Typen namens Hans-Werner (keine Ahnung,
worüber, alles vergessen, die üblichen Sozialgeräusche eben, aber so
war das ja auch angelegt in diesen Läden, nichts sagen, um nichts
mitnehmen zu müssen) und ging wieder nach Hause, Straßenbahn fuhr
keine mehr, mitten auf der Josefstädterstraße stand plötzlich ein Reh.
Komischerweise wunderte mich das überhaupt nicht, und es
interessierte mich auch nicht, alle meine Gedanken waren bei Irma, so
als würden meine Gedanken sie mehr an mich binden, immer wenn wir
getrennt waren, ersetzte eine Sehnsucht eine diffuse Leerstelle namens
Liebe, und diese Sehnsucht war viel stärker, und, ja auch, befriedigender
als das, was wir hatten.
Ich hoffte, sie würde schon schlafen, mich nicht hören, ich könnte quasi
ins Bett diffundieren, so leise, dass ich sie nicht weckte, denn der Schlaf
war die Zeit, in der wir uns wirklich nahe waren, als wären wir eine
Person, angeschlossen an dieselbe Herz-Lungen-Maschine, wir atmeten
im gleichen Rhythmus und brauchten keine Angst vor dem Nichts zu
haben, zumindest ich empfand das so, unsere Liebe war ungefährdet, all
das, was sie gefährden hätte können, waren Träume, und wir träumten
häufig ähnlich beunruhigend, und man war am nächsten Morgen
wohltuend erschöpft und schwach, wie nach einem Kampf, und
erleichtert, dass man sich hatte, noch frei von allem Komplizierten, den
klebrigen Dingen, die zwar alles zusammenhalten, aber doch alles auch,
jeden noch so schuldlosen Tag, so zäh und mühsam und unberechenbar
machen. Einmal schaute sie mich, gleich nachdem sie aufgewacht war,
erstaunt an und meinte: „Ich vermisse dich“.
Aber das war eine seltene Ausnahme. Normalerweise stießen wir uns
wie zwei Magneten sofort voneinander ab. Wenn ich beispielsweise, was
nicht unüblich war, eine Erektion hatte, versuchte sie, von hinten in ihre
so genannte Körpergabelung zu schieben, beiläufig, so als sei das nicht
ich, der da schiebt, sagte sie immer so was wie: verschon mich bitte
damit, sei nicht albern, das ist nicht deine Erektion (nein, Garderobe
sagte sie dazu), sie gehört ja nicht dir, die gehört noch dem Traum, damit hast du nichts zu tun, und ich will damit nichts zu tun haben, also
wach auf. Und irgendwie hatte sie ja Recht, die Garderobe war nicht
meine Leistung, leider, auch wenn sie noch so hart und prachtvoll war,
stolz kann man darauf nicht sein.
Ich schlich wie eine Gebüschkatze in unsere 26-Quadratmeterwelt, in
der der alte Rauch jetzt nicht mehr als Gardine hing, sondern inzwischen
eher wie die letzten Takte eines lästigen Liedes war, das man nicht
loswird, ein Lied, bei dem man sich für seine Ohren schämt, ich zog mir
die nassen Schuhe aus, Irma war nicht da, nicht vorm Fernseher, nicht
im Bett, auf dem Küchentisch lag ein Zettel:
„Es sind immer die anderen, die verschwinden.“
Tex Rubinowitz