Ingeborg Bachmann "Probleme Probleme" // Viktor Gallandi – drop out

 

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Probleme Probleme 

 

»Dann um sieben. Ja, mein Lieber. Wäre mir lieber. Hochhauscafe. Weil ich zufällig. Ja, zufällig, einmal muß ich immerhin zum Friseur. Um sieben, so ungefähr denke ich mir, wenn ich rechtzeitig . . . Was, ach so? Es regnet? Ja, finde ich auch, es regnet ja immerzu. Ja, ich mich auch. Ich freu mich.«

 

Beatrix hauchte noch etwas gegen die Muschel und legte den Hörer auf, sie drehte sich erleichtert auf den Bauch und drückte den Kopf wieder in das Polster. Während sie angestrengt lebhaft gesprochen hatte, war ihr Blick auf den alten Reisewecker gefallen, mit dem nie jemand reiste, es war doch tatsächlich erst halb zehn Uhr, und das beste an der Wohnung ihrer Tante Mihailovics war, daß es zwei Telefone gab und sie eines neben ihrem Bett im Zimmer hatte, zu jeder Zeit hineinreden konnte, dabei gerne in der Nase bohrte, wenn sie vorgab, bedächtig auf eine Antwort zu warten, oder noch lieber, zu späteren Stunden, mit den Beinen radfuhr oder ein paar noch schwierigere Übungen machte, aber kaum hatte sie eingehängt, schlief sie auch schon weiter. Sie konnte das eben, schon nach neun Uhr früh mit einer klaren hellen Stimme antworten, und der gute Erich dachte dann, sie sei längst, wie er, auf, vielleicht schon aus dem Haus gewesen und zu allem Möglichen bereit an diesem Tag. Es war ihm wahrscheinlich noch nie in den Sinn gekommen, daß sie jedesmal sofort wieder einschlief und sogar meinte, sie könne einen angenehmen Traum wieder aufnehmen, nur wenn er angenehm gewesen war, aber das kam selten vor, denn sie träumte nicht so recht und nichts Besonderes, und was also wirklich wichtig war, das war ihr das Weiterschlafen. Falls sie je einer gefragt hätte und sie, was unwahrscheinlicher war, je eine Antwort gegeben hätte, was sie für das Schönste hielt, womit sie sich am liebsten die Zeit vertrieb, was ihr Traum war, was ihr Wunsch und ihr Ziel in ihrem Leben, dann hätte sie mit verschlafener Begeisterung sagen müssen: Nichts als schlafen! Nur würde Beatrix sich hüten, das jemand zu sagen, denn sie hatte schon seit einiger Zeit begriffen, worauf die anderen hinauswollten, Frau Mihailovics und Erich zum Beispiel oder gar ihre Cousine Elisabeth : daß sie sich nämlich entschließen sollte, endlich etwas zu tun, ja unbedingt eine Arbeit haben müsse, und man mußte diesen Leuten eben ein wenig entgegenkommen und gelegentlich Andeutungen fallen lassen über Zukunftspläne und Interessen.

An diesem Morgen schlief sie aber nicht gleich ein, lag nur entspannt und glücklich vergraben da und dachte: Grauenvoll. Sie empfand dumpf etwas als unerträglich, wußte aber nicht, was es war, und es konnte nur damit zusammenhängen, daß sie sich doch für heute abend verabredet hatte, anstatt die Verabredung auf morgen oder übermorgen zu verschieben. Sie hatte sich nur verabredet mit Erich, um der Welt einen kleinen Tribut zu zahlen, denn eine Verabredung mit Erich war natürlich sinnlos, und sinnlos waren vermutlich alle Verabredungen, auch wenn Beatrix im Moment andere Möglichkeiten gehabt hätte, sich zu verabreden, aber sie hatte keine in dieser Zeit, und es hing wiederum damit zusammen, daß sie einfach keine Lust hatte, etwas zu unternehmen. Erich oder ein anderer, Erich oder viele andere, darauf kam es doch nicht an, und sie stöhnte laut und in einer gesunden animalischen Qual: Grauenvoll.

Erich konnte sie es natürlich nicht sagen, wie grauenvoll sie es fand, er war ein so lieber Mensch, er hatte es schon schwierig genug, und was konnte er dafür, daß sie kein Halt war für jemand und kein Antrieb und höchstens eine von ihm halluzinierte Oase in seinem Leben. Sie stieg aus dem Bett, vorsichtig, und fiel sofort zurück vor Erschöpfung, denn es mußte wieder einmal überlegt werden, was zuerst geschehen sollte. Nach einer Weile blinzelte Beatrix, eine Ohnmächtige, die langsam das Bewußtsein erlangte, zu dieser Weckeruhr hinüber, die sie ebenso brauchte zur Orientierung wie sie sie haßte, der Orientierung wegen, und sah, daß es schon elf Uhr vorbei war. Es war ihr ein Rätsel, da sie sich nicht erinnerte, wieder eingeschlafen zu sein, sie hatte sich eben schon in der ersten Viertelstunde völlig verausgabt oder sie war noch gar nicht bei sich, sondern in sich, wo tief inwendig etwas lautlos zu einem Rückzug rief, immer zu einem Widerruf.

 

 

Dämmerung

 

Die Tante haust in der Wohnung, B. bleibt in ihrem Zimmer. Die vierzehnte Stunde Schlaf wird sie sich erkämpfen, noch ist es nicht Mittag. Schlaf ist eine Frage der Disziplin. Die Tante rennt durch die Wohnung, vermutlich sinnlos. Draußen kriecht die Nässe, in Wien sammelt sich Schlamm, darin die Otter wohnen, träumt B., ein weiches, feuchtes Volk, das nicht auszurotten ist, selbst die Tante mit ihren Messern und Stampfern: keine Chance, sie erstickt am Schlamm, früher oder später.

Unkontrolliert stürmt die Tante ins Badezimmer, an B.s Tür vorbei. Immer arbeitet sie morgens, sie leidet an einer unbekannten Geisteskrankheit. Unheilbar, vermutet B. Es scheppert im Bad, B. denkt an ihre nährstoffreichen Kosmetika, zieht es aber vor, wieder einzuschlafen, anstatt der Tante an diesem frühen Morgen den Krieg zu erklären.

 

 

 

Beatrix ließ die Kleider über den Rand der Badewanne fallen und fing an, ihr Gesicht zu reinigen, denn es war noch zu früh sich zu entscheiden und weiterzudenken, aber für alle Fälle konnte sie sich ja schminken, für alle Fälle ganz unauffällig und ohne Lippenstift, da noch nicht viel entschieden war, und als sie dann doch noch einen Rest von ihrem Kaffee rettete und ihn, auf dem Bett kauernd, trank, war ihr etwas leichter zumute, es hatte ihr nur der Kaffee zu lange gefehlt, aber auch kein zweiter Kaffee konnte sie von der lebenslangen Belastung befreien, die sie auf sich genommen hatte und mit der sie noch nicht fertig wurde, weil sie, wie sie heute, zuversichtlicher dachte, einfach noch zu jung war.

Sie sagte gern zu jemand: Das ist sicher eine schreckliche Belastung für Sie! Oder: Mein Lieber, ich versteh, ich weiß, das Ganze belastet dich doch so sehr, ich kenne das!

An diesem Tag kam Beatrix auch dieses zweite Lieblingswort in die Quere, sie stieß sozusagen bei der geringfügigsten Bewegung, beim geringsten Gedanken mit den Schlüsselworten zusammen und merkte, daß alles grauenvoll und kompliziert war und daß sie unter einer Belastung litt.

Daß zwei Büstenhalter zu eng und die anderen zu locker waren, das konnte wohl nur ihr passieren, weil sie so oft ohne rechten Verstand gespart hatte, aber jetzt hatte sie wenigstens ihre hauchdünnen dreieckigen immer sitzenden Slips, die sie Jeanne verdankte, ebenso den Hinweis auf die Büstenhalter, obwohl sie nach dieser kurzen heftigen Freundschaft mit einer Französin, einer wirklichen Pariserin, zur Einsicht gekommen war, daß viel auch in Paris nicht zu lernen war und daß es sich also wohl kaum lohnte, überhaupt etwas zu lernen, wenn das der ganze Ertrag war. Jeanne war per Anhalter nach Wien gekommen, wußte aber nicht, was sie hier wollte, und Beatrix konnte es doch erst recht nicht erklären, was es in Wien zu suchen gab, aber das weitere Ergebnis einer pariserischen Unternehmungslust war gewesen, daß Beatrix, die bisher immer »Combinaige« oder »Combinaison« gesagt hatte, wie viele Wienerinnen, zu einem Unterrock jetzt wieder Unterrock sagte, weil sie herausgefunden hatte, daß die Combinaison auf einen sprachlichen Unfall zwischen Paris und Wien zurückzuführen sein mußte, und sie machte sich nicht gerne lächerlich in solchen Dingen wie die beiden Damen Mihailovics, die bestimmt noch meinten, es sei vornehmer, ein französisches Wort zu sagen. Sonst hatte sie sich mit Jeanne nicht besonders gut verstanden, deren Neugier und deren Kindischkeit vor allem ihre Nerven strapazierten. Sie waren beide gleich alt, Jeanne sogar fast schon einundzwanzig, aber Beatrix hatte gefunden, daß diese Jeanne ein Monstrum war an Aktivität und alles auf einmal wollte, wissen, wo es Hasch gab, Burschen kennenlernen, tanzen gehen, in die Oper rennen, danach noch in den Prater oder zum Heurigen, und sie war drauf und dran gewesen, Jean- ne zu sagen, daß sie ihren Pariser Kopf voll konfuser Ideen hatte und weiter nichts, denn man konnte schließlich nicht ein Hippie sein und auch noch in die Oper wollen, Riesenrad fahren und die Welt umstürzen, jedenfalls nicht in Wien, und obendrein noch arrogant im Café Sacher sitzen, obwohl Jeanne einmal wild geworden war und ihr erklärt hatte, daß sie einfach ein drop-out sei, was sie komisch aussprach.

 

[...]

 

Diese schwere Belastung [...] war[...] jetzt auch unwichtig, da Erichs Frau schon wieder einen Selbstmordversuch gemacht hatte, kurz vor Jeannes Abreise, aber da es schon der dritte Selbstmordversuch war, der in Erichs Zeit mit Beatrix fiel und von dem sie daher umgehend verständigt wurde, war sie schon geübt in einem aufmerksamen abwesenden Zuhören, während sie aufatmend an Jeannes Abreise dachte. Es war trotzdem anstrengend, mit Erich in dem hintersten Winkel des Café Eiles zu sitzen, obwohl sie das Café mochte und dann glücklich sitzenblieb, wenn Erich hastig aufbrach, denn nun mußte sie wieder von den Anfängen bis zur Gegenwart diese Ehegeschichte anhören, mit dem Wissen und dem Gefühl, daß Erich, der viel zu anständig und skrupulös war, es nie zu einer Scheidung bringen würde. Beatrix war immer teilnahmsvoll, obwohl sie Erichs Martyrium gar nichts anging. Sie überlegte jedesmal mit ihm hin und her, und sie besprachen es jedesmal durch, in allen Einzelheiten, denn Erich bewunderte die engelhafte Geduld von Beatrix, da der arme Mensch nicht verstehen konnte, daß Beatrix kein Interesse an einer Scheidung hatte, er selber ja wohl auch nicht, aber wenn er mit diesem geduldigen anspruchslosen Kind redete und redete, kam kein gemeines, gewöhnliches Interesse zutage, aber sein verzweifelter Wunsch, endlich ruhig zu leben und das ungelöste, unlösbare Problem mit Guggi doch gelöst zu sehen.

 

 

Erich, induktiv gestimmt

 

Erichs Situation ist schwerst problematisch. Will sich Erich morgens seinen Filterkaffee zubereiten, zittern ihm die Hände angesichts seiner Problemsituation und so hüpft das Kaffeepulver in kleinen Stößen vom Löffel und schwebt wie schwarzer Schnee zum Küchenfußboden.

Erichs wahres Problem ist die Abstraktion und das ist, Erich stellt es erschüttert fest, ein handfestes Metaproblem.

Konnte er früher noch über Problemfelder der aktuellen Kalenderwoche nachdenken, geistert heute nur noch die Gesamtsituation in seinem Kopf herum. Nach einigen Bier am Abend wächst sich das bis zur conditio humana aus und Erich denkt noch kurz, wenn auch nur für eine halbe Sekunde, dass es bei ihm einen klaren Problemlösungsbedarf in puncto Anwendbarkeit gibt, aber da werden schon wieder zahllose Fragen laut und lauter und am Ende landet Erich bei der Ontologie. Meist wird sein Bier darüber schal und an Schlaf ist nicht zu denken.

In den frohen Tagen, da Erichs Lebenswelt voll von Konkretionen war, pflegte er sich bisweilen einen Apfel aufzuschneiden. Heute schafft er es nur noch bis zur Halbierung, dann hält er inne, denn ohne ein teleologisches Fundament für die Separation von Obsthaftem, getraut er sich keinen Schnitt mehr zu tun.

Auch B. kommt ihm in letzter Zeit immer kugel-, kuben und quaderförmiger vor. An einem kubistischen Gemälde lobte er neulich den Fotorealismus, es war sehr peinlich.

 

 

Aber Beatrix wußte genau, daß es einfach keine Arbeit gab, auch nicht in dem erbärmlichsten Büro - denn auch dafür brachte sie keine Voraussetzungen mit - und daß man ihr nirgends erlauben werde, bis in den tiefen Nachmittag zu schlafen, weil diese unberatenen Menschen rundherum sich hineinzwängen ließen in Stundenpläne, daß sie deswegen niemals arbeiten würde, lernen schon gar nichts mehr, weil es ihr an jedem Ehrgeiz fehlte, auch nur einen Schilling zu verdienen, sich selbständig zu machen und unter schlechtriechenden Leuten acht Stunden zuzubringen. Besonders grauenvoll kamen ihr alle Frauen vor, die arbeiteten, denn sicher hatten die alle einen Defekt oder litten an Einbildungen oder ließen sich ausnutzen von den Männern. Sie, sie würde sich nie ausnutzen lassen, nicht einmal für sich selber würde sie sich je an eine Schreibmaschine setzen oder in einer Boutique demütig fragen: Gnädige Frau, darf es vielleicht etwas anderes sein? Vielleicht dieses Chemisier in Grün? Nein, beteuerte sie, aber nur einmal, um den guten Erich nicht zu verstören, Sorgen mache ich mir da gar keine, und um welche Zukunft denn? Dann sagte sie zärtlich: Was wollen wir uns beunruhigen wegen der Zukunft? Schau doch, die Gegenwart ist schon eine zu schlimme Belastung für dich, und ich möchte nicht, daß du auch noch an mich denkst, wir wollen lieber versuchen, an Guggi zu denken. Was sagt der Professor Jordan? Bitte, verschweig mir nichts, zwischen uns darf es einfach keine Geheimnisse geben. Und damit hatte sie Erich wieder bei Guggi und dieser langwierigen Behandlung, der neuen Hoffnung und den alten Befürchtungen.

 

 

Guggi, betend

 

Der Herr müsse sich bei Guggi entschuldigen, physikalisch sei sie nicht angemessen behandelt worden. Er habe einfach nicht immer den Kopf frei für Guggi, ständig an der Rotverschiebung von Quasaren basteln zu müssen, das strengt an und lenkt ab, wobei Guggi zugeben müsse, diese Urknallsache sei originell: das Universum in Punktgröße, ein kosmischer Scherz.

Jedenfalls bekomme Guggi ab heute die ganze Palette an Naturkonstanten zu spüren und ja, Er werde sie gescheit in Richtung Erdmittelpunkt beschleunigen, auch das mit den Kiemen werde Er sein lassen, Er verspreche es ihr.

Guggi bekreuzigt sich dankbar. Der Herr hüstelt und macht sich wieder an seine Photonen.

 

Sie ging ja auch nie aus oder nur mit Erich, ganz selten allein in ein Kaffeehaus, weil sie zu erschöpft war, um sich in ein Leben zu stürzen, und die einzigen Ausgaben, die ihr allerdings wichtiger waren als alles andere, wichtiger als Essen auch, waren die für den Friseur und für ihre Kosmetika. Seit einiger Zeit sagte sie : Ich bin etwas knapp mit Kosmetika. Nur deswegen hatte sie einmal einen Fünfhundertschillingschein ungerührt und ohne Bedenken von Erich akzeptiert. Zum Geburtstag hatte sie ohnedies nichts von ihm zu erwarten, weil sie nie Geburtstag hatte, mit ihrem seltsamen 29. Februar. Was Erich nicht wußte, was er auch nicht wissen konnte, weil er zu wenig Zeit für sie hatte, und was sie auch keinem anderen Mann eingestanden hätte, warum sie vielleicht auch keinen wollte, war einfach, daß sie nur gerne beim Friseur saß, daß RENÉ für sie der einzige Platz auf der Welt war, wo sie sich wohlfühlte, und dafür verzichtete sie fast auf alles, auch auf ein regelmäßiges Essen, und sie freute sich noch dazu, daß sie zart war, zum Umblasen, und so wenig wog, kaum 46 Kilo. Sie mochte vor allem Herrn Karl und auch Gitta und Frau Rosi, ja selbst der kleine ungeschickte Toni war ihr lieber als Erich und die sorgenvolle verständnislose Tante Mihailovics. Alle bei René verstanden sie auch besser als andere Menschen, es behagte ihr darum nur die Atmosphäre in der Rotenturmstraße, im ersten Stock, und es sollte nur keiner mehr kommen und verlangen, daß sie sich ein Beispiel nähme an ihrer Cousine Elisabeth, die studiert und doktoriert hatte und sich abrackerte, dieses Musterkind, und das hatte es nun davon, mit seiner ganzen Gelehrtheit, daß es schon dreißig Jahre alt war und vor lauter Selbständigkeit, Demütigungen und aussichtslosen Existenzkämpfen doch nirgend richtig unterkam, sich obendrein nicht einmal zum Friseur wagte und darum wirklich wie dreißig aussah.

 

[...]

 

Schauen Sie mich bloß nicht an, bei mir ist einfach alles da capo zu machen, von den Haaren bis zu den Füßen, ich trau mich kaum mehr auf die Straße, scheußlich, wie ich aussehe . . . Herr Karl! Bitte, erretten Sie mich, schauen Sie sich das einmal an! Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre langen, braunen Haare: Sagen Sie selber! Das kann doch nicht so weitergehen, ich war doch erst letzte Woche hier! Herr Karl sagte, mit einem anderen Kamm in ihrem Haar rührend, es ginge gewissermaßen, einigermaßen, obwohl er doch dringend zu einer biointensiven chev 09 Behandlung, die von den Oréal-Laboratorien erarbeitet worden sei, raten müsse und noch dringender wolle er ihr zu der ganzen Serie von Ampullen raten, nur zehnmal zu wiederholen. Beatrix unterbrach ihn lebhaft: Meinetwegen probeweise eine Ampulle, das seh ich ein, aber entscheiden, für eine ganze Serie, nein, Herr Karl, also heute kann ich mich wirklich nicht entscheiden, ich habe noch einen Tag vor mir, da machen Sie sich keine Vorstellung, und dann bei diesem Wetter!

 

Taschenkarl

 

Herr Karl ist Friseur und Talisman. Unters Bett gelegt, erwacht man perfekt frisiert und trägt man ihn im Laden an der Brust, kriegt man 30% auf alle Haarpflegeprodukte. Noch dazu hat man seine beratende Stimme im Ohr.

Ohne Herrn Karl geht B. nicht mehr aus dem Haus. Wenn er seine schmalen Friseursmuskeln ein wenig anspannt, taugt er auch als Sitzmöglichkeit. B. wünscht jeder sympathischen Wienerin einen Herrn Karl. Der Rumpf liegt gut in der Hand und mit einem kleinen Stück Seife in der Woche ist er günstig zu ernähren. Nur sollte man ihn nicht unterschätzen und immer ausreden lassen. Halb im Scherz sagte er einmal, er verstünde sich hervorragend mit den Läusen. Sie teilten seine Leidenschaft für Behaarung.

 

Beatrix schaute auf ihre Zehennägel, die beinahe fertig waren und nur noch lackiert werden mußten, süß, sie hatte vielleicht nichts Besonderes an sich, aber ihre Füße fand sie hinreißend, und es tat ihr nicht einmal leid, daß kein Mann je ihre Füße so sehen konnte, und Erich, auch in der Stroz- zigasse, wenn sie die Strümpfe auszog, um ihn zu reizen, schaute ihre Füße überhaupt nie an. Es genügte ihr, daß sie selber es wußte. Schöne Füße gab es selten, und besonders Frau Rosi konnte da ein Lied singen. Frau Rosi sang heute kein Lied, sondern zog das Becken weg, verschwand und kehrte wieder mit dem ganzen Besteck für die Maniküre. Beatrix rief nach hinten: Herr Karl, wie lange muß ich denn heute schmachten? was? noch zehn Minuten, das ist eine ausgemachte Grausamkeit von Ihnen, und wenn Sie sagen, zehn Minuten, dann bedeutet das doch zwanzig. Ich werde mir aber trotzdem nicht die Haare schneiden lassen, ich will Ihnen diesen Gefallen nicht tun, ich schmachte lieber.

[...]

 

Die Haube war vermutlich auf 2 eingestellt, aber 2 fühlte sich heute an wie 3 und sie rief : Bitte, Toni auf 1, es ist unerträglich, 2 halte ich nicht aus !

Wenn sie noch rechtzeitig fertig würde, mit allem Drum und Dran, dann konnte sie noch ins Kino gehen, vor ihrer Verabredung mit Erich. Allerdings, bei Regen, die ganze Kärntnerstraße hinunter und dann wieder zurück zum Hochhauscafé, das wäre zu verheerend, und ein Taxi war zu teuer. Sie seufzte. Sie würde also auf Erich wohl eineinhalb Stunden warten müssen im Kaffeehaus. Immerhin, es konnte ein neues Detail auftauchen im Drama, denn nicht jeder Mann hatte eine Frau wie Guggi, und ganz gern hätte sie Guggi einmal von weitem gesehen, aus der Nähe lieber nicht. Sie jedenfalls würde sich nie umbringen, und dabei hatte sie wahrscheinlich eine viel größere Angst vor dem Leben, einfach eine Heidenangst. Beatrix dachte, sie würde, wenn sie hier wegging von rené, einfach ein paar Zeilen hinterlassen für Erich im Kaffeehaus, dann sofort nachhause fahren in die Strozzigasse, dort konnte sie sich hinlegen, mit ihren frischen Haaren. Die Haare sind eben doch das Schönste an mir, sonst ist nicht viel los, außer den Füßen natürlich. Zuhause würde sie sich ruhig und glücklich hinlegen, ihre Haare ausbreiten, ihre Füße betrachten, denn im Kino gab es sicher wieder einen dieser anstrengenden Filme, mit Mord und Totschlag und manchmal sogar Krieg, und wenn auch alles gestellt und erfunden war, dann nahm es sie doch zu sehr mit, gerade weil es in der Wirklichkeit anders zuging. In ihrer Wirklichkeit gab es nur Guggi, die ein Problem war, aber auch das war nur leihweise ein Problem, und Erich war einfach ein schwacher Mensch, der sich auch im Büro kujonieren ließ, das wußte er auch selber, und sie hätte diesem Chef längst die Meinung gesagt und sie hätte dieser haltlosen Person längst eigenhändig die Tabletten und Rasierklingen hingelegt, ausdrücklich, damit die wenigstens einmal zur Besinnung kam.

 

Live-Übertragung

 

B. ist in Wien und in Bewegung. Guggi ist noch im Fall, Erich schläft in der Strozzigasse, Frau Jordan schläft mit dem Patienten ihres Mannes.

B. ist Belastungen ausgesetzt. Erich schnarcht auf dem Trottoir, Guggi beschleunigt in Richtung Erdmittelpunkt, Frau Jordan reflektiert.

B. spricht und altert, Frau Jordan unterdrückt ein Gähnen. An Erich zerschellt ein Fahrradfahrer. Guggi rotiert und beschleunigt.

B. geht zu Bett, Erich tritt sich fest, Guggi entropiert, Frau Jordan ist belastet.

B. überlebt Erich, Guggi und Frau Jordan. Guggi überlebt die Entropie, Erich seufzt und schläft ruhig. Frau Jordan verlässt den Bildrand.

 

 

 

Wie idiotisch, sich ausgerechnet einen solchen Tag auszusuchen, um sich mit Erich zu treffen, der keine Ahnung hatte, was sie auf sich nahm. Das Gescheiteste wäre überhaupt, ihm bald zu sagen, am besten heute noch, daß sie einander nicht mehr sehen sollten, vielmehr nicht sehen dürften, daß sie ihrer Tante zum Beispiel alles gebeichtet hätte und ihre Tante, mit ihren bornierten Ansichten, diese Beziehung zu einem verheirateten Mann skandalös fand und daß sie natürlich, abhängig von ihrer Tante und zutod erschrocken über den Ausbruch ihrer Tante . . . Nein, das ging auch nicht. Aber Guggi konnte sie als Grund anführen und ihr eigenes schlechtes Gewissen, das sie deswegen nicht mehr zur Ruhe kommen lasse. Beatrix mochte besonders gern Worte wie Gewissen, Schuld, Verantwortung und Rücksicht, weil sie ihr gut klangen und nichts sagten. Man sollte überhaupt nur Worte mit anderen verwenden, die einem gar nichts sagten, weil man sonst unmöglich zurechtkam mit den anderen, und »Gewissen« würde eine Glaubwürdigkeit für Erich haben, der ja ein exemplarisches Beispiel dafür war, wie das funktionierte, wenn man einem Mann die unsinnigsten Worte servierte, denn er konnte nur mit denen etwas anfangen. Mit den heimlichen Worten und verheimlichten Gedanken von Beatrix wäre Erich doch in einen Abgrund gefallen oder zumindest völlig desorientiert worden. Eine Orientierung brauchte er, das war alles.

Sie löste sich, immerzu in den Spiegel sehend, zuerst ein paar Wickler am Hinterkopf, dann noch zwei vorne an den Schläfen und war überrascht, als die steifen Locken ihr jetzt auf die Wangen herabhingen und ihr ein anderes Gesicht gaben als mit dem ausgekämmten Haar. So sollte sie aussehen! Das war es! Schmal, puppenhaft, mit diesen zwei Locken vorne, die künstlich aussahen, vielleicht lauter solche Korkenzieherlocken, ein ganz ausdrucksloses maskenhaftes Gesicht einrahmend, wie jetzt. Sie zog fasziniert einen Wickler nach dem anderen heraus, es war ihr gleichgültig, was Herr Karl danach sagen würde, ihr Herz fing an zu jagen, sie befeuchtete sich die Lippen und flüsterte sich etwas zu. Sie sah unwahrscheinlich aus, märchenhaft, geheimnisvoll, sie war ein solches Geheimnis, und wer würde sie je so sehen, dieses geoffenbarte Geheimnis eines Moments? Ich bin verliebt, ich bin ja richtiggehend verliebt in mich, ich bin zum Verlieben! Beatrix wünschte nur, daß die Person so schnell kein Glas und kein Wasser finden würde, denn sie war zum erstenmal verliebt, und das gab es also wirklich, ein so starkes Gefühl in einem Menschen, daß man vor Lachen und Weinen, zwischen Lachen und Weinen, keinen Ausdruck fand, aber das war ja etwas Unglaubliches, wie in den Filmen, so romanhaft, ein Erdbeben war in ihr, und weil sie auch nicht mehr Worte wußte als andre, war es sicher Verliebtheit.

 

 

 

Schenken

 

Von Erich wünschte ich mit Spiegel und Spiegel bekomme ich von Erich. Es muss immer etwas Licht im Zimmer sein, gerade genug, dass ich mich erkenne. Gelbe Lampen, abgedeckt mit Tüchern.

Auf dem Nachttisch ein aufstellbarer Spiegel, zusammen mit einem Handspiegel betrachte ich in ihm mein Profil.

Links an der Wand ein langer horizontaler Spiegel für den liegenden Akt. Und über meinem Gesicht an der Decke ein Oval, dunkel eingerahmt, in den ich schaue, bevor ich einschlafe. Der Intimspiegel, für den Blickkontakt.

Am Fußende liegt Guggi, verklebt und vollgelaufen. Es riecht nach brackigem Flusswasser. Trotzdem lieb von Erich. Immer bringt er mir etwas mit, obwohl er mich nur eine Stunde in der Woche ansehen darf. Vom Türrahmen aus.

Ich schlafe ganz unter der Decke. Dort kenne ich die Gerüche und es ist still. Dort lärmen die Fliegen nicht.

 

 

 

 

Zögern

 

Vorige Woche noch, in etwa, haben Gespräche stattgefunden. Wer braucht da jetzt Themen: an alles kann ich mich erinnern. Alles, alles. Ich in Combinaige mit einer zweiten. So aufgetan unter lauter Passanten, auch manchern Stehern, Sitzern. Hellicht kann man das nennen. Ein hellichtes Gespräch, mit gefüllten Tüten in den Fingern. Vielleicht Seifen zu 20 Schilling, vielleicht Ärgeres. Die Haltung darf nicht fehlen, die Hinwendung der Organe. Pfefferminz gehörte dazu. Und trotz des Stehens war man bewegt, wie aufgezogen, angeschnallt durch die Uhrzeit, die Tagesführung im Blick.

Vor wenigen Tagen noch meine Idee zu einer Unternehmung. Das Licht sammelte sich zögernd, etwas zwischen 4 und 5, eine leere Strozzigasse. Schon hockte ich in Bereitschaft, doch dann diese leichte Brise um die Knöchel: kalt fast, kalt – und so sprang ich nicht.

 

Ausschlafen

 

Ich bin im Bett geblieben. Das Datum sagt mir nicht zu. Ich vermute einen Feiertag. Die Tante bereitet etwas Fleischiges zu, ein Geruch wie Hundeatem. Mit den hautfarbenen Strumpfhosen stopfe ich die Ritzen in der Tür. Der Geruch setzt sich sonst ins Haar und wenn ich Schlafen will, muss ich würgen und ich muss schlafen.

Fragen werden nicht mehr durch die Tür beantwortet. Alles bleibt geschlossen. Gute Gardinen aus Schweden – da ist noch ein Witz im Zimmer. Sie haben die fröhlichsten Farben, außer Nachts.

Etwas knapp mit Kosmetika. Wobei unbelastet von Äußerem. Und rechts ein blinder Spiegel. Und Erich nicht. Oder Jeanne.

Und Tage zum Runterzählen. Wenn man horcht: immer mehr Salzwasser in der Stadt. Und wer bitteschön, wer hat heute schon ein Boot?

 

Liegen

 

Ich lebe im Bett. Kerzen an meinem Rand. Zum Schrank hin kalter Tee, Biskuit und Kleiderhaufen. Im Schrank der Nachlass: etwas Schmuck, ein Tagebuch, Fotos.

Die Kosmetika kommen mit mir.

In meinem Schoß eine Schüssel mit Wasser. So halte ich die Finger geschmeidig, die Fältchen sind eine Zier.

Neben mir liegt Erich, eingesunken in die Matratze. Er riecht alt. Erschöpft von Herrn Karls Fütterung. Ihm wurden Wunden geschlagen. Das Licht draußen steckt fest.

Werde ich wahnsinnig, dann weil meine Kopfhaut juckt. Mihailovic ist ausgefallen, eingesperrt im Klo. Alle Maßnahmen angemessen, soweit. Nur dass es immer weitergeht! Hölzern und wächsern usw.: unbegrenzte Uhrzeiten. Mein katastrophisches Bettleben. Lange trägt das nicht.

 

Im Orchestergraben

 

B. hört die Streicher im Schlaf, im Erwachen setzen die Bläser ein. Ein Konzert, mitten in der Nacht. Die Sonne brennt in der Strozzigasse. Ihr warmgewohntes Zimmer würgt sie auf die Straße. B. im Nachthemd, die Frisur verschlafen, Erich wiegt sich im Takt, den Hörer in der Hand, Verzückung im Amtsgesicht. Guggi in einer Muschel schlafend, von Elefanten getragen, vom Brustbein abwärts zerschlagen, in der Leitung dumpfes Gluggern, die sämigen Innereien noch warm, abfließend ins Netz. Und droben im Licht Jeanne mit Samen im Haar, den französischen Mund weit aufgesperrt, ihr Klagelied ein hohes Freizeichen, tönend durch die Wiener Nacht. B. faltet Frau Hilde auf, bedeckt damit ihr Haar, aus der Mundhöhle kommt Herr Karl, die Beine zusammen, die Arme ausgebreitet wie zum Flug, ein Männlein als Kruzifix gegen das anrückende Orchester. Mihailovic ganz vorn im Tross, zieht die Wagen, das Joch auf dem Kreuz, B. sieht das Weiß in ihren Augen, stierend, sie kommen immer näher. Herr Karl klappt sich ein, Frau Hilde verdunstet in der Sonne, B. fällt hinten über, sieht im Fallen Elisabeth, auf dem Berggipfel stehen: Sie grüßt und schwingt ein Beil, schlachtet B.s Bett, man hört es splittern im Tal, sie weidet ihre Matratze aus. B. schlägt hart auf, Wasser läuft aus ihrem Kopf.

 

 

Dürfen

 

Ich darf die Wickler haben. Ich darf die Abdeckcreme haben. Ich darf Lippenstift, Rouge, Puder und Wimpernzange haben! Ich darf endlos am Fenster stehen, unentwegt singen darf ich nicht. Ich darf Schwester Ella keine Zeichen meiner Ungeduld einritzen. Ich darf sticken. Ich darf nicht unbegrenzt auf dem Klo sitzen. Ich darf mit Maria nicht über ihren Wert sprechen. Ich darf schminken, für eine Schachtel das ganze Gesicht. Ich darf meinen Pillenmix nicht nicht nehmen. Ich darf mich stumm selbst beschimpfen. Ich darf mich anstellen, in den Garten gehen, nicht in den Teich, keine Frösche schmuggeln.

Ich darf, ganz besonders, verharren. Wer verharrt, wird gelobt.