Bachmannpreis ORF.at Information
FR | 11.02 | 15:49
Stimmungsbild (Bild: Johannes Puch)
Wettlesen - der zweite Tag (23. Juni)
Die Autoren des zweiten Lesetages: Claudia Klischat, Thomas Melle, Dirk von Petersdorff, Paul Brodowsky, Annette Mingels, Hanno Millesi und Norbert Scheuer.
Von kontroversiellen Diskussionen geprägt
Am Freitag wurde das Wettlesen um den Bachmannpreis im ORF-Landesstudio fortgesetzt. Die Texte polarisierten diesmal die Jury: Die Meinungen reichten von Begeisterung bis zur völligen Ablehnung.
Schlafend im Park (Bild: Johannes Puch)
Offenbar waren einige der Texte doch recht ermüdend. Das ORF-Gartl vor dem Landesstudio ermöglichte zwischendurch ein kleines Schläfchen.
Bereits der Vormittag verlief recht abwechslungsreich. Nachdem der Donnerstag eher unspektakulär verlaufen war, wurde es am Freitag doch noch spannend. Sieben Autoren stellten sich der Jury.
Alle Zusammenfassungen der Diskussionen von ORF ON Redakteurin Barbara Johanna Frank
Claudia Klischat, Autorin (Bild: Johannes Puch)
CLAUDIA KLISCHAT
"Sprachlich solide" mit Detailschwächen
Claudia Klischats Text "Stillstand" eröffnete den zweiten Lesetag des Bachmannpreises 2006. Die in Leipzig lebende Autorin war auf Einladung Heinrich Deterings nach Klagenfurt angereist.

Klischats Text erzählt vom Obdachlosen "Fechter", der an einem "guten Tag" "wieder auf die Beine kommen will", während er die Wirklichkeit als undurchschaubar erfährt.
"Hier wird eine Expedition beschrieben, die schwieriger und komplizierter nicht sein könnte - der Weg aus der Obdachlosigkeit", so Ursula März. Sie habe dennoch die "Tonlosigkeit" zu bemängeln, in der diese Expedition erzählt würde.

"Sie fordern etwas von dem Text ein, was er nicht sein will", konterte Martin Ebel. Ihm habe die "Binnendifferenzierung der porträtierten Figuren" und jene Momente im Text zugesagt, "in denen "Sand ins Getriebe gestreut" würde.

Klaus Nüchtern stufte den Text als stimmig und schön gemacht ein, wobei die gezeichneten Figuren allerdings manchmal "zu klischeehaft" geraten seien. Daniela Strigl habe die "nicht geradlinige Erzählweise" als störend empfunden, da werde teilweise nicht "präzise genug" erzählt: "Es hapert im Detail", so Strigl.

Für Karl Corino reflektiere der Text die "Musik versteinerter Verhältnisse" innerhalb des labilen Gefüges eines "Ost-Milieus" präzise. Dies sei sprachlich solide beschrieben worden, obwohl es "manchmal etwas verrutscht".

THOMAS MELLE
Der Text polarisierte die Jury
Mit Thomas Melles Text über das "Nachtschwimmen" ging es am zweiten Lesetag weiter. Burkhard Spinnen hatte den Berliner Autor zum Klagenfurter Wettlesen im Rahmen der deutschsprachigen Tage der Literatur eingeladen.

Melles Text erzählt von den Ereignissen in einem deutschen Sommercamp, einem Russischkurs mit "Ost-West-Gefälle" und dem Schwimmen bei Nacht.
Der Großteil der Jury-Mitglieder zeigte sich begeistert von Melles Text: "Eine wahnsinnig gut gemachte Geschichte", lobte Heinrich Detering; "Bis ins letzte Komma aufgeladen", urteilte Iris Radisch und auch Karl Corino stufte die Prosa als aus den bisherigen Texten "herausragend" ein.

Kritische Äußerungen kamen von Daniela Strigl und Klaus Nüchtern: Strigl empfand die Sprache im Text "auffrisiert wie ein Motor" und meinte, der Autor wolle damit nur "Eindruck schinden". Klaus Nüchtern räumte ein, dass Melle zwar "sehr viel" könne, dennoch sei dessen Werk wie eine "Hochschaubahn" und biete "viel Arbeit für einen Lektor".
Dirk von Petersdorf, Autor (Bild: Johannes Puch)
DIRK VON PETERSDORfF
Jury uneinig über Darstellung der Idylle
"Anfang" lautete der Titel des von Dirk von Petersdorff eingebrachten Textes. Der deutsche Autor war von Heinrich Detering zum Bachmannpreis eingeladen worden.

Die Geschichte "Anfang" handelt vom "Eintritt in eine neue Welt", von den Veränderungen, die im Leben eines Intellektuellen durch die Geburt seiner Zwillingskinder vor sich gehen.
Für Juror Klaus Nüchtern gebühre dem Autor-Unterfangen "volle Sympathie", dennoch sei der Text "spektakulär gescheitert". Karl Corino fand es "sehr begrüßenswert", dass diese "dramatische Phase im Leben junger Erwachsener" und die "Schule des Sehens, die man durchlaufe", im Text beschrieben werde. Der Text beobachte "sehr genau und subtil", allerdings wären die Veränderungen der Beziehungen manchmal "zu lyrisch" geraten. Dem Text fehle es an "Spitzen", er sei "zu wenig realistisch", so Corino.

Über die im Text gewählte Darstellung der Idylle gingen die Meinungen der Juroren weit auseinander: Während Ilma Rakusa den Text als "zu idyllisch" beschrieb und Klaus Nüchtern ihn als "kitschig und betulich" kritisierte, bewertete Burkhard Spinnen die "Möglichkeit der Idylle, das Fragen nach ihr" als gescheitert. Daniela Strigl stufte den Hang zur Idylle des Textes als "gelungen" ein. Iris Radisch vertrat den Standpunkt, der Text sei "ganz schutzlos" und "überhaupt nicht idyllisch".
Paul Brodowsky, Autor (Bild: Johannes Puch)
PAUL BRODOWSKY
Debatte über "handwerkliches Niveau"
Mit Paul Brodowskys Text "Aufnahme" ging der Vormittag des zweiten Lesetages zu Ende. Iris Radisch lud den in Berlin lebenden Autor zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur ein.

"Aufnahme" erzählt von der ausbrechenden Blindheit bei einer Fotografin, die sich das Sehen, die Wahrnehmung, eines Mannes leiht.
Heinrich Detering äußerte sich positive über das "handwerkliche Niveau" von Paul Brodowsky, das jedoch Karl Corino als fehlend erachtete. Ilma Rakusa schätzte die "schnelle, musikalische Sogwirkung" am Text, auch Burkhard Spinnen lobte dessen fesselnde Wirkung - er freue sich, beim Lesen immer weiter in den Text vorzudringen. Martin Ebel zeigte sich von der "reichen" und "literarischen Poetik" begeistert.

Daniela Strigl stieß sich an der "störenden Chronik des angekündigten Todes". Jurorin Ursula März kritisierte das "zu große Pensum der Geschichte". "Dabei bleibt nicht viel übrig", so März.
Annette Mingels, Autorin (Bild: Johannes Puch)
ANNETTE MINGELS
"Beschreibungsfetischismus" fiel auf
Annette Mingels leitete den Nachmittag des zweiten Lesetages mit ihrem Text "Nachbeben" ein. Die in Zürich lebende Autorin war von Martin Ebel für das Wettlesen vorgeschlagen worden.

"Nachbeben" erzählt von der Gefahr persönlichen Scheiterns nach einem Seitensprung, von Ehekonflikten und drohendem Kindesmissbrauch vor der Kulisse eines Feriendorfes.
Ursula März bewertete den Text als "straff, komplex und gut", obwohl sie zunächst skeptisch gewesen sei. Burkhard Spinnen fühlte sich durch den Text "sympathisch berührt". Ilma Rakusa lobte den "schönen, lakonischen Ton" des Textes, dem "das Können seiner Autorin" anzumerken sei.

Kritisiert wurde die "Plakativität" (Daniela Strigl) und die "Glätte und Durchziseliertheit" (Heinrich Detering) des Textes. Für Iris Radisch sei der "Beschreibungsfetischismus" erkennbar gewesen, der ständig auf die Tragik des Textes hinweise, dessen Auflösungsmotiv am Schluss "wie rangepappt" sei.
Hanno Millesi, Autor (Bild: Johannes Puch)
HANNO MILLESI
Kontroverse über Sprache des Jugendlichen
Hanno Millesi trat mit dem Text "Werktagsüber" in Klagenfurt an. Daniela Strigl hatte den in Wien lebenden Autor zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen.

Der Text erzählt von einem Jugendlichen, der von der Schule verwiesen wird und seine Vormittage stattdessen in einem Park verbringt.

Für eine Kontroverse unter den Juroren sorgte die Sprache des Jugendlichen: Heinrich Detering kritisierte den eingehaltenen "Dauerton" als für einen Schüler "unglaubhaft"; Ilma Rakusa beschrieb ihn als "zu souverän", er verrate eine zu "große Überlegenheit" des Erzählers.

Burkhard Spinnen erachtete den Umstand, dass es der Autor verabsäumt habe, dem Schüler "eine eigene Sprache für dessen Überkompensation" zu geben als "nicht wirklich gelungen".

Klaus Nüchtern begründete das Fehlen der "eigenen authentischen Jugendsprache" des Protagonisten darin, dass er damit als "putzig-dämonischer Früherwachsener" charakterisiert werde.

Daniela Strigl befürwortete gerade dieses Fehlen einer "Jugendsprache" des Protagonisten, denn "hätte dieser die Sprache eines 17-jährigen, würde man der Geschichte den Lebensnerv ziehen". Das sei "Pseudorealismus von Anfang an", so die Jurorin.
Norbert Scheuer, Autor (Bild: Johannes Puch)
NORBERT SCHEUER
Die Jury war sich wieder völlig uneinig
Die Lesung von Norbert Scheuers Text "Überm Rauschen" ließ den zweiten Lesetag zu Ende gehen. Die Juryvorsitzende Iris Radisch hatte den deutschen Autor nach Klagenfurt eingeladen.

Der Autor entführte mit seinem Text in die deutsche Provinz, wo die Geschichte einer sich auflösenden, zerbröckelnden Familie und der Werdegang eines begabten Buben hin zum Verrückten geschildert wird.
Daniela Strigl war von der "uneitlen Darstellung" und "fachlichen Genauigkeit der Wörter" schwer beeindruckt. Martin Ebel fühlte sich mit dem Text zu sehr in ein "Tatort-Szenario" versetzt. Beim Lesen "warte man nur darauf, dass der Kommissar endlich kommt und den Fall abschließt". Ähnliche Assoziationen hatte auch Burkhard Spinnen, der die Figurenzeichnung als zu "finit" empfand.

Klaus Nüchtern lobte den Text angesichts der "vielen, im bislang unbekannt gebliebenen Dinge", er fühle sich dadurch in eine "vollkommen andere Welt" versetzt. Auch Ilma Rakusa zeigte sich vom Text "sehr beeindruckt". Die Familiengeschichte sei auf sehr "knappem Raum" erzählt, was "allein schon ein Kunststück" zu nennen sei.

"Ich kann die Begeisterung nicht teilen, obwohl ich den Text nicht unsympathisch fand", relativierte Detering das Lob seiner Kollegen: man habe es mit einem "Neue Heimat-Roman" zu tun, der nicht auf Erklärung, sondern dessen Gegenteil ziele.

Karl Corino hielt die "genaue Arbeitsweise des Textes" hoch: Dieser "verdient Respekt und gehört mithin zum Besten, was Herr Scheuer bis jetzt geschrieben hat", so Corino.