Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Susanne Heinrich
Susanne Heinrich
Die Frage wer anfängt

Susanne Heinrich
DIE FRAGE, WER ANFÄNGT

Ich will geliebt sein oder ich will begriffen sein.
Das ist eins.
Bettina von Arnim
 

Zwei Zigaretten später liege ich auf ihm und weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin. Wir rauchen beim Ficken. Er will, dass ich die Zigarette in seinem Bauchnabel ausdrücke, ich schleudere sie aus dem Fenster, ich will nichts davon hören. Von draußen zieht ein Stöhnen ins Zimmer, ich stelle mir vor, dass es vom Mond kommt, dass da am Himmel Dinge passieren, von denen wir nichts ahnen.
Der Neujahrstag ist der erbärmlichste Tag überhaupt. Wir sitzen auf der Heizung. Ich habe ein Ziehen in der Brust, seit ich aus dem Bett und aus dem Schlaf gefallen bin, und ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist und wie es überhaupt so gekommen ist, mit uns und zwischen uns und mit all dem, und was das, was passiert ist, mit mir zu tun hat, und ob es so bleibt oder anders kommt, was danach geschieht und was es für Namen dafür gibt. Wir schwitzen Alkohol aus, unsere Haut trauert. Man muss etwas Neues anfangen, bevor etwas Altes aufhört, hat Mirko gesagt, sonst hängt man in der Luft. Wir trinken grünen Tee aus Tetra Packs.

Der Neujahrstag ist der unbarmherzigste Tag überhaupt. Da liegen Fetzen von Menschen und Papier auf den Gehsteigen und treiben mit dem schmelzenden Schnee in Gullylöcher. Vor sechs gibt es keine Stadt, abends schleichen die ersten zerstörten Gesichter an Häuserwänden entlang, die Schatten körpernah, wenn man in den Menschen lesen will, muss man ihnen nur ins Gesicht schauen, heute sieht man, wie sie aussehen werden, wenn sie alt sind.
Das Zusammensammeln, Zusammenkehren, Zusammenraufen. Das Zusammenflicken. Ein letzter verirrter Chinaböller und das metallische Echo von Stöckelschuhen vielleicht. Etwas ist gebrochen, es muss einen Riss geben irgendwo, ich bin sicher.
Die Stadt macht mir klar, dass sie nichts mit mir zu tun hat. Meine Wollstrümpfe kratzen zum ersten Mal, und alles ist voller Einbahnstraßenschilder.  

Leanders Husten kommt über die Treppe näher, ich höre das Kratzen seines Schlüssels und dann das Aufschnappen der Tür, ich höre Leanders überlegte Schritte und ich warte auf sein vorsichtiges Rufen, Luna, ruft er, ein Name, der nur ihm und mir gehört und nur in diese Wohnung, ja, rufe ich leise und behutsam zurück und fahre mit den Fingern durch meine Haare und setze mich so hin, dass meine Beine zur Tür zeigen. Das Fensterbrett ist kalt, und hinter mir wächst der Himmel aus den Dachgiebeln. Leander legt eine Hand auf den Türrahmen, er lächelt und ist müde, er sieht krank aus und so, als ob mit diesem Jahr noch etwas anderes zu Ende gegangen wäre. Ich warte, dass Leander näher kommt, kein Raum ist zu groß, um von Leander ausgefüllt zu werden. Leander legt seine roten Hände auf meine Hüften und gräbt den Kopf in meinen Schoß, er sagt: Das war das kränkeste Silvester, das ich je erlebt habe. Ich lege meinen Oberkörper über seinen Rücken wie eine Decke, es ist immer dasselbe: Wenn wir zu Hause sind, lassen wir niemals voneinander ab, unsere Körper sind wächsern und fügen sich zusammen, sie brauchen einander. Ich mag Leander, wenn er erschöpft ist. Er hat dann diese Falten links und rechts vom Kinn, die ihn zerstört aussehen lassen und lebendig, ich kann Leander vertrauen wie keinem anderen, in seinem Gesicht ist etwas passiert, da sind die Jahre hineingegangen. Wir sind tief und kompliziert heute morgen und zerknittert, wir zittern von Kaffee und Zigaretten, von Alkohol und Erbrechen, und Leander streicht mit seinen Händen meine Waden glatt.

Wir sitzen an der Heizung und machen ein verspätetes Frühstück. Wir hören fröhliche Musik, von der wir nichts verstehen, wie Katzen sind wir manchmal, die schnurren und buckeln und sich überall kratzen. Leander erzählt zuerst, er legt sein Ohr an meine Schulter und raucht eine Zigarette und erzählt von der Frau, die ihm Briefe schreibt, in denen steht, dass ihr Leben ohne ihn keinen Sinn habe und dass dies ihr letzter Brief sei, er erzählt von der Frau, die er auf dem Markt getroffen hat und mit der er später auf dem Rummel war und mit der er sich gut necken kann, er erzählt mir von der Frau, mit der er aus Versehen zusammen gekommen ist und die er verlassen hat, er sagt: Es ist schlimmer, eine Tür zuzumachen, als eine Tür zugemacht zu bekommen. Er erzählt mir von der Frau, die ihm seltsame Kosenamen gibt und die ein großes Lachen hat, und von der Frau, die er bei der Blutspende kennen gelernt hat, als er im Vorraum wartete. Er erzählt mir sein Silvester, in dem die Frauen alle vorkommen und ihn verwirren und einnehmen, er erzählt mir davon, wie eine Frau geweint hat und eine andere geschrien und eine noch andere vor ihm gesessen und sich besoffen hat, er erzählt davon, wie er selbst auf einem Balkon stand und die Stadt Feuer spucken sah, er erzählt mir, wie er aufbrach und mit dem Taxi durch die Stadt fuhr. Dann knickt er ein wenig ein und raucht noch eine Zigarette, und ich erzähle ihm von diesem Mann, der bis zwei Stunden nach der Vorstellung auf mich gewartet hat, um mich anzulächeln und mir zu sagen, wie faszinierend er mich finde, und davon, wie einfach es ist, mir zu imponieren. Ich erzähle ihm von dem Mann, den ich jede Woche anrufe, weil ich ihn immer noch nicht loslassen kann, der mir jede Woche wieder verspricht, etwas mit mir zu unternehmen, und der es jedes Mal auf die nächste Woche verschiebt, und ich erzähle mein Silvester. Von diesem Mann erzähle ich, der mich küssen wollte und der meine Brüste angefasst hat, von dem Mann mit dem Telefon erzähle ich, der traurig klang und endgültig und zu freundlich, als dass er mich noch lieben könnte, von dem Mann, der gewartet hat, erzähle ich und dass ich mein Silvester bei ihm verbracht habe. Leander sagt: Ich merke, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann und dass ich vieles durcheinander bringe und dass das Durcheinander mich wahnsinnig macht. Er seufzt und legt seinen Kopf wieder in meinen Schoß. Es fällt uns nicht schwer, uns alles zu sagen. Wir haben uns niemals etwas verschwiegen. Wir reden uns zum einzigen Thema hin, das es gibt, und dann sehen wir uns an und wissen, wie es sich anfühlt, regellos zu leben.
Ich schiebe den Fernseher in die Mitte des Zimmers, und wir schmiegen uns auf der Matratze aneinander. Wir verfolgen Julie Delpy auf dem Bildschirm und verlieben uns in sie, ich sage: Ich finde Frauen viel schöner als Männer, aber ich könnte sie niemals begehren.

Der Neujahrstag ist der empfindlichste Tag überhaupt. Das Abendrot kommt zu früh und ist schmierig und fiebrig. Ich reiße die Fensterläden auf, und Leander schraubt den Weihnachtsbaum aus der Halterung. Dann schleifen wir die Tanne durchs Zimmer und gucken uns durch die Zweige an, Leander grinst. Wir stopfen den Baum durch die Fensteröffnung und sehen zu, wie er fliegt, aufprallt und ausrollt, um schließlich liegen zu bleiben. Durchs Zimmer zieht sich eine grüne Spur.
Leander steht an der Seite des Raums, an der sich die Schatten sammeln. Er stellt den Plattenspieler an, und wir tanzen die einzigen paar Schritte Tango Argentino, die wir gelernt haben, zu Piazzollas unfassbarer, ferner Musik, wir sind ungeübt, und ich weiß, dass ich mich mit jedem anderen außer Leander verheddern würde. Das Parkett seufzt unter unseren fusseligen Sohlen, wir müssen ein bisschen was weiter trinken, sage ich, sonst stürzen wir noch ganz ab. Das Zimmer ist wenige Minuten lang aus Gold und voll von Luft, wir schwenken Weingläser, und ich möchte gern kluge Sätze sagen und dabei sicher und fest klingen, aber Leander kennt mich und weiß, was ich sagen könnte an Abenden wie diesen, so wie er immer weiß, was ich sagen könnte und so wie er niemals aufhört, mir zuzuhören, auch wenn er weiß, was ich aussprechen werde, weil ich weiterrede, obwohl ich weiß, dass er weiß, was ich sagen werde, weil das so ist und nur hier so sein kann und weil ich niemals aufhören will, mich Leander zu erzählen. Ich habe Leander ein einziges Mal geküsst, das war ein Unfall, an der Kasse im Getränkemarkt.

Ich ziehe mich im Bad aus, und Leander geht Zigaretten kaufen, um die Ecke steht unser Automat. Im Bad stockt die Luft, und die Nacht liegt im Waschbecken und regt sich nicht. Ich schaue mir in der Wanne beim Aufweichen zu und steige in ein Nachthemd, ich lege das Metall ab und kämme meine Haare und sehe vor dem Fenster Leander in der Kälte stehen und zittern, und es ist das erste Mal, dass ich Wiederholung als etwas Angenehmes empfinde, als eine Möglichkeit, zu lieben, und ich weiß, dass Leander in der Tür stehen und nichts sagen wird und nur so gucken wird wie er guckt, wenn er sagen will, dass ich seine Frau von Bedeutung bin und es nur nicht sagt, weil ich es ohnehin weiß. Das sind unsere kleinen Riten, diese Dinge, die später auf den Fotos nicht mehr zu sehen sein werden.
Leander schleicht die Treppe nach oben, wir legen uns auf die Matratze und schlingen uns umeinander. Das ist alles so schwierig, sage ich, nein, sagt Leander, wir machen es uns nur viel zu schwer. Ich habe einen Traum: Leander und ich und wie wir in einer Kammer aus Menschen stehen, Männer, mit denen ich zu tun hatte, die sich abgewendet haben und sich ab und zu nach mir umdrehen, ich sehe Leander, wie er pustet, und wie die Männer einfach verschwinden wie Staubfiguren, und dann ist nur noch Leander da und ich bekomme Angst, weil es kein Dazwischen mehr gibt, keine Bewegung und kein Irrelaufen.
Als ich am Morgen aufwache, sitzt Leander vor der Matratze und sieht so aus, als habe er mir die ganze Nacht beim Schlafen zugesehen. Er gibt mir Kaffee und Zigaretten und zieht die Gardinen auf, so dass die Sonne von der Terrasse ins Zimmer stürmt mit ihren Lichtfiguren. 

Am Nachmittag stehe ich vor Mirkos Wohnungstür und lache und frage, ob da noch ein Zimmer frei ist. Ich schiebe Mirko zur Seite und breite mich aus in seiner Wohnung. Ich koche uns etwas und mache einen Pflaumenschnaps auf, ich erinnere mich, wie Mirko Luftgitarre gespielt hat zu Silvester, er sah so dumm aus und so hilflos, dass ich mich ein bisschen zu schnell verliebt habe. Wir müssen die Sache langsam angehen, sagt Mirko, du darfst nicht gleich alles in mich reinprojizieren. Mirko kennt mich nicht. Mirko macht Dinge, die ich nicht verstehe. Mirko weiß nicht, wie Leander sich anfühlt.
Mirkos Hände sind überall, sie sind schnell und geübt und verspielt, manchmal lacht er unvermittelt auf, heftig und melodiös, ich erschrecke immer wieder darüber. Ich kann ihn nicht finden zwischen seinem grundlosen Enthusiasmus, seiner gelangweilten Kühle und der Jungenhaftigkeit, ich weiß nicht, wann ich seiner Art glauben kann. Manchmal kommt es mir so vor, als wolle er sich möglichst nah an sich heran spielen und bekomme dann Angst.
Nach dem Mittagessen bin ich ein bisschen betrunken. Ich lasse mich von Mirko ausziehen, der sehr erregt ist und seine Blicke zwischen meinen Brüsten herumrutschen lässt. Mirko stöhnt beim Sex, er dreht sich auf die Seite, als er gekommen ist. Er dreht sich noch einmal um, er legt seine Hand zwischen meinen Po und die Oberschenkel und sagt: Die Stelle mag ich besonders an dir. Er weiß nicht, wie mich das entzückt, er weiß nicht, dass das die ersten Worte sind, die mich heute verliebt machen können wie zu Silvester.

Das neue Jahr beginnt mit kindischen Sturmböen, die Linde vor dem Haus, in dem Mirko lebt, schlägt aus. Die Stadt verwittert, und mein Kopf ist ein Raum, den die Bewegungen durchstreifen.
Es wird Abend, und mit dem ersten Schritt über die Türschwelle nach draußen ist die Erhabenheit da, das Nachgefühl der Hände überall, eine Körperoberfläche voll Restwärme, auf einmal das triumphale Gefühl, eben noch beschlafen worden zu sein, das ich den anderen Fußgängern zulache, wenn sie mich streifen. Ich will zu Leander, und ich will mich ein bisschen schmutzig fühlen, damit ich niedergeschlagen sein darf vor seinem weichen Gesicht.

Leander klingt dumpf aus dem Bad, im Duschvorhang tänzelt sein Schatten, Leander, sage ich, du musst mich jetzt auf der Stelle in den Arm nehmen, und Leander steigt aus der Dusche und zieht den blauen Bademantel an, der Frotteestoff kitzelt an meiner Wange. Durch die Socken schraubt sich die Kälte der Badfliesen in meine Fußsohle. Abende im Winter sind gefährlich, sie können einem Angst machen, und wenn sie auch dem anderen Angst machen, macht sie zwei, die Angst haben, zu zweien, die einander nicht ausweichen können. Ich gehe in die Küche und nehme Lachsölkapseln gegen die Traurigkeit, von der ich nicht weiß, woher sie kommt und was sie bei mir will. Ich lege mich auf Leanders Matratze, mit dem Gesicht nach unten, und warte, bis Leander nicht anders kann als sich auf mich zu legen. Es wird kühl, und die Anlage spielt Musik, die immer leise klingt, egal, wie laut man sie dreht.
Bevor wir einschlafen, stellt Leander komische Theorien auf, die mich zum Schmunzeln bringen, er sagt: Man muss nur Stirnfalten haben und große Augen und auf den Boden gucken, man muss ein bisschen tapsig aussehen und sehr gepflegt, man muss schweigen und manchmal ganz wenig sagen im richtigen Moment, das macht die meisten Frauen an. Er erzählt mir von ihren Dreistigkeiten, den Briefen und den Küssen, und von der Frau, die ihre Hand in seine Hose geschoben hat, und von der anderen, die ihm ins Ohr gebissen hat, und ich sage: Dafür kannst du nichts, wenn man in so einem Club arbeitet, da ist die Welt eine andere, da sind Liebesgeschichten so lang wie die dunklen Stunden und meist nur mit Musik und blauem und rotem Licht, da ist auch die Sache mit dem Mut ganz anders und mit der Ernsthaftigkeit. Ich höre Leander lächeln. Wir sprechen das Theaterstück, die Szenen, die mir am schwersten fallen, er berichtigt mich und legt seine Hand auf mein Hohlkreuz. Sarah Kane spüre ich zwischen den Wirbeln. Mach mich glücklich. – Ich kann nicht. – Bitte. – Nein. – Warum nicht? – Kann nicht. – Ich liebe dich. – Ich liebe dich nicht.
Ich stelle mir vor, dass Leander mich nach dem Schlussapplaus in den Arm nimmt und nach Hause trägt. Ich stelle mir vor, dass Leander auf dem Weg nach Hause wieder diesen unbeschreiblichen Gang hat, der ein Schaukeln ist, ein rhythmisches Wiegen, wie ein Ja-Sagen mit den Beinen, ich stelle mir vor, dass ich glücklich bin und dass alle anderen das auch sehen und dass mir das aber ausnahmsweise egal ist, weil ich selber so glücklich bin, dass ich das gespiegelte Glück in den Gesichtern der anderen nicht brauche.

Am Ausgang steht Mirko und schenkt mir Handschuhe für den Winter. Er macht blöde Witze und nennt mich seine Prachtstute. Er knetet meinen Nacken und wirft Schnee nach mir, und ich finde das alles nicht lustig. Mein Verliebtsein in ihn ist vielleicht nur ein Wunsch, weil Mirko einfach ist und ein bisschen dumpf, und weil es unheimlich wäre, wenn monatelang nichts funktionierte mit mir.
In Mirkos Wohnung ist der Strom ausgefallen. Wir legen uns sofort in sein Bett. Je t’aime, sagt Mirko. Wirklich, sage ich. Nein, sagt er, aber das ist der einzige französische Satz, den ich kenne. Wir schlafen miteinander, und es ist schön, weil ich laut sein darf und weil er mein Gesicht nicht sehen kann, wenn die Geräusche Lücken suchen, durch die sie nach draußen dringen können. 
Wenn Leander und ich in einem Bett schlafen, schlafen wir uns zueinander hin. Wenn ich bei Mirko einschlafe, schlafe ich mich von ihm weg. Der Schlaf unterbricht meine Anstrengung, nach Dingen zu suchen, die mich in ihn verliebt machen könnten.

Zu Hause bei Leander wasche ich Mirkos Überreste von mir ab, aber es ist etwas davon durch die Haut nach innen gegangen, da bin ich sicher. Ich weiß noch nicht, ob es besser ist, Leander schmutzig oder sauber gegenüberzutreten. Leander sieht bei allem, was er macht, aus, als habe er eine Gelassenheit, die niemals aufhört, die unbegründet und unbezwingbar ist. Leander schläft, und ich kann in seinem Gesicht lesen, dass sich etwas umschichtet und ordnet, wenn er schläft, dass sich etwas leise bewegt. Seine Haut ist warm und schmeckt nach Rauch, und sogar im Schlaf ist Leander jemand, der weiß, was er tut. Ich würde Leander gern sagen, dass die Dinge durchschaubar werden in seiner Anwesenheit, dass ich mich sehe, weil er mich sieht, dass er mich sichtbar macht. Aber ich will ihn nicht wecken. 
Der Schlaf hat ihn umgarnt, Leander murmelt etwas Flüchtiges, dann hebt er den Arm für mich, als Einladung.

Der Morgen ist blau, eine Schar blauer Vögel oder Lichter, ein Treibsandmorgen. Ich habe das Gefühl, angestoßen zu werden, ich stelle mir Fragen. Was unsere Absichten waren zum Beispiel, als wir zusammengezogen sind, warum Leander alles für mich tun würde, warum ich mich scheue, ihn zu berühren und ob das, was ich für Leander fühle, eine Form haben könnte. Leander ist schön. Die Haut an seinem Hals ist müde. Ich mag Leanders Beine und wie sie so tun, als würde er auf Schaumgummi gehen. Leander zieht ein weißes Hemd an und eine blaue Hose, seit ich ihn kenne, mag ich sogar den Morgen.
Beim Frühstück sitzen wir in der Mitte unseres Staubzimmers, Musik tastet unsere Rücken ab, und wir sehen einander an, es gibt zwischen uns immer nur diese eine Frage: die Frage, wer anfängt.
Leander fängt an und erzählt mir seine Dummheit: Die Frau mit dem Lachen, sagt er, hat einen tollen Körper und einen trägen Kopf, ich habe gestern mit ihr geschlafen, und es fühlte sich an wie lästige Briefe schreiben. Ich habe auch eine Dummheit gemacht, sage ich, aber nicht zum ersten Mal. Ich verrate Mirko. Du schmeißt dich ja weg, sagt Leander, er sieht aufgebracht aus. Aber ich meine das doch nicht ernst, sage ich. Aber der meint es noch weniger ernst als du, sagt Leander und zündet sich eine Zigarette an. Ich mag es, sage ich, wenn er so ein kleines bisschen blöd ist und wir deshalb nicht viel reden. Leander schiebt seine Hand in mein Haar. Ich gehe auf den Balkon und sehe, wie die Nacht sich über die Landstraßen aus der Stadt schleicht, eine große, verhüllte Frau mit dunklen Haaren und Händen. Leander, sage ich, was würdest du machen, wenn ich etwas tun würde, das du nicht erwartet hättest. Leander steht auf und geht mir nach auf den Balkon, er bläst immer zweimal aus, obwohl beim zweiten Mal gar kein Rauch mehr aus seinem Mund kommt. Ich würde vermutlich etwas anderes machen, das dann du nicht erwartet hättest, sagt er, und sammelt braune Blätter aus einem Blumenstock vor dem Brüstungsgeländer.

Vor Abenden mit Leander allein habe ich Angst, weil ich Angst davor habe, dass sich etwas verändert. Wir hören Piazzollas Oblivion, ich kann nicht anders, als dazu meine Arme zu bewegen, ich kann nicht anders, als aufzugeben, dies ist meine Musik vom Weinen, das außerhalb des Körpers geschieht, anderswo. Wie ich Piazzolla für Tristeza, separacion liebe, weiß nur Leander, die Sirenenvioline im Hintergrund, die meine Nackenwirbel erklimmt. Die Musik macht das Nichtreden einfach, sie löst die Worte auf, dass da, wo eben noch welche waren, nur Farben bleiben und die Erinnerung an einen Versuch, sich auszudrücken, an einen kleinen, heiteren Krampf. Pizzicato in Los sueños und ich bin zu allem bereit und weiß von nichts. Man darf Piazzolla niemals abrupt abstellen, sonst ist man augenblicklich allein und nackt.

Ein Mädchen ruft am Morgen bei uns an, ist Leander da, fragt es. Es hat eine Stimme ohne Ton, die nach Geschirr klingt. Nein, sage ich und sehe zu Leander, der schläft, nein, sage ich noch einmal, Leander ist nicht da. Naja, sagt das Mädchen. Ist es denn wichtig, sage ich, soll ich ihm vielleicht was ausrichten, und ich drehe eine Zigarette zwischen den Fingern und drücke den Tabak fester. Naja, sagt das Mädchen, ich müsste schon mit ihm selber reden. Das geht nicht, sage ich. Soll ich ihm nicht vielleicht doch was ausrichten. Das Mädchen fragt: Sind Sie seine Schwester? Ich schaue zu Leander und aus dem Fenster in die tiefroten Straßenschluchten und sage: Nein, ich bin die Verlobte. Das Mädchen klingt noch mehr nach Geschirr, als es sagt: Ich rufe dann später noch mal an.

Ich will, dass etwas passiert, dass irgendjemand irgendetwas von Bedeutung tut. In den Straßen liegen graue Schneedünen, ich nehme das Telefon wieder in die Hand, es wiegt schwer. Hallo, sagt der andere. Hallo, sage ich, ich wollte mich nur mal wieder melden. Hören, wie’s dir geht. Wie immer. Ja, sage ich, dachte ich mir schon. Der andere sagt nichts. Wollen wir uns vielleicht diese Woche mal sehen, auf einen Kaffee vielleicht. Du, sagt der andere, diese Woche ist schlecht, aber nächste Woche sieht gut aus. Ja, sage ich, dachte ich mir schon. Ich ruf an, sagt der andere, na denn. Ja, sage ich. Tschüss, sagt der andere. Kopfleerlauf und die Sicherheit, wieder schwach gewesen zu sein, der Versuch einer Rechtfertigung vor mir selbst, Umherstreifen zwischen den Wänden wie ein verwundetes Tier. Frank Sinatra singt charmant an mir vorbei, ich muss einkaufen gehen, denke ich, und ziehe mich an, ich zerre meinen Körper durch die Stadt und lasse mich zerreiben von den Sonntagspaaren, ich bin angewidert und aufgekratzt und fasziniert, ich kaufe ein Kleid, das ich nie anziehen werde, ich kaufe Unterwäsche und ein schwarzes Satinnachthemd, ich esse Amerikaner in der Bäckerei, ich tue so, als ob ich Geld hätte, ich fahre mit dem Taxi nach Hause und schlage die Beine sauber übereinander. Der Taxifahrer trägt mir die Tasche hinterher, die ich vergessen habe.

Wo warst du, sagt Leander und lächelt, einkaufen, sage ich. Leander hat Augenringe und lässt sich von Sinatra betören, den ich in der Wohnung stehen lassen habe, für das Heimatgefühl beim Öffnen der Tür. Leander hört Musik anders als ich. Die Wohnung ist warm. Da war ein Mädchen für dich am Telefon, sage ich, es hat aber den Namen nicht verraten. Ich setze mich auf die Matratze im Wohnzimmer, ich sehe mir Lost in translation an, wieder, aber ich kann mich kaum konzentrieren, wenn ich an Leander denke, denke ich an Florentino Ariza. Unser Balkon fängt den Schnee auf, Januartage sind eng und seltsam substanzlos. Wir waren lange nicht zusammen draußen, sagt Leander.

Winterrummel. Ich sitze auf einem verschneiten Plastikpferd und lasse mich schaukeln und drehen, ich kaue Zuckerwatte, die am Gaumen festklebt, und zwischen den Karussells halten Leander und ich uns an den Händen und hören den Losmännern zu, wie sie ins Mikro gurgeln. Leander schießt mir einen roten Hasen und eine weiße Rose, ich schieße Leander einen orangefarbenen Herzluftballon. Mein Körper ist nicht mehr luftdicht, er ist durchlässig, auf der Achterbahn reißen die Schreie nicht ab, sie sind Schleier, die hinter uns herwehen. Ich will kopflos sein und widerstandslos.

Vor der Garderobe presse ich mich an Leanders Brust, jetzt kommt die Spiegelwelt, in der ich jeden Abend gleich schön sein muss, in der ich jeden Abend wieder etwas gelten muss, jetzt kommt die Welt, in der ich zweifellos sein muss und in der ich aufrecht gehe und in der ich weiß, was ich zu tun habe, ich schließe die Tür und lasse mir das Unentschiedene wegschminken.
Als ich spiele, denke ich an Mirko, ich fühle nichts dabei außer vielleicht ein Sattsein. Die Scheinwerferlanzen reißen meinen Körper auf heute Abend, nur manchmal sprengt eine durch mich hindurch ohne zu verletzen. Ich denke an diesen Satz von Marguerite Duras: Ich habe ein zerstörtes Gesicht, ich denke auch an Piazzolla, und als ich mich nicht mehr konzentrieren kann, wachsen meine Gedanken an Leander fest, sie werden geschmeidig und weich und absolut.

Im Schnee steht Mirko und kaut Streichhölzer. Er nimmt mich an der Hand und schlenkert meinen Arm, wie war’s, sagt er, er fragt zu viel, und ich antworte zu viel, und dann beschimpfen wir uns gegenseitig. Du mieses Wrack, sagt er. Du lauwarmer Dickhäuter, sage ich. Du personifizierte Unvernunft, sagt er, was mich glücklich macht.
Wir setzen uns auf den Sockel eines Denkmals und essen Schokolade, und Mirko bemerkt mich nicht. Wollen wir ficken, sagt Mirko. Ich stehe auf und muss mich zum Geradelaufen zwingen, der Schneewind beult meinen Bauch aus und will meine Knie brechen. Ich renne ein Stück.

Als ich zu Hause bin, hat sich der Mond wie ein Loch ins Finstere gefressen, ein Himmel wie ein Sieb fährt über die Siedlungen. Ich haste Treppen nach oben und schließe mich im Badezimmer ein, ich lasse die Wanne volllaufen und schminke mich ab bis zurück zu meiner Unentschiedenheit. Im Spiegel habe ich Falten, die von der Angst kommen, Falten um die erschrockenen Augen und von der Nase bis in die Mundwinkel. Ich weiß Leanders gespannten Kopf auf der anderen Seite der Tür, seine gespannten Finger. Du darfst nicht in meine Nähe kommen, schreie ich, ich bin heute Abend unerträglich.
Es wird still. Mein Ohr denkt sich Geräusche. Ich bin ein Vorhang, durch den die Nacht steigt. Ich habe nichts als Ekel übrig in mir. Ich will die Seife von mir werfen, das Waschbecken anschreien, ich will nicht auf den Fliesen laufen müssen, ich will die Deckenlampe bespucken. Ich will, dass sich etwas verändert. Im Bad schiebe ich alle Dinge in andere Richtungen, verrücke den Schrank und die Baumwollvorleger, den Handtuchschrank und die Kommode, erst als mir das Bad fremd ist, weiß ich: Das ist mein Neujahrstag, das ist die Stadt, die nicht zu mir gehört.
Ich fliehe vor der Wohnung, die sich ohne Leander aufbläht, auf die Matratze, ich decke mich zu und lege mir die Hände auf die Brüste.

Als es Morgen wird und ich meine verklebten Wimpern aufschlage, wirft die Sonne einen Takt ins Zimmer, sie tänzelt über den Boden und schwingt. Neben mir liegt Leander, als würde er schon immer da liegen. Die Luft flimmert orange zwischen den Büchertürmen, und die Vorhänge wabern wie hinter Kerzenlicht. Das Laken unter mir ist nass, auch das Hemd, das ich trage. Ich krauche durchs Zimmer und den Flur ins Bad, ich dusche mich und wasche das Prickeln von meinem Unterleib. Ich koche viel zu starken Kaffee und schlurfe über den Boden auf den Balkon, ich schneide die Luft mittendurch, laufe eine Schneise ins Zimmer.
Die Sonne steigt in meine Augen, an diesem Morgen fühle ich mich schön. Ich trage ein hellblaues Nachthemd, das bis zu den Fesseln reicht, und bade im Winter. Noch bin ich schlafdurchdrungen und glänze, ich sitze mit angewinkelten Beinen am Terrassengitter und rauche. Es ist, als wäre heute morgen alles einfach, weil ich beschlossen habe, nichts mehr begreifen zu wollen, ich halte meine Aufmerksamkeit in den Fingerspitzen fest, und Augenblicke sind kleine Plateaus, auf denen ich mich ausruhen kann, während davor und dahinter alles in schwefelfarbenem Nebel verschwimmt.
Ich esse im Stehen in der Küche, ich gehe aus dem Haus ins Glühen, heute zügellos. Am Ende irgendwelcher Straßen stehen Boutiquen, ich will mich verführen lassen. Ich ziehe Kleider an, die eher wie ein Vorschlag aussehen als wie ein Versprechen, ich kaufe beinahe alle, ich bin gewichtiger mit Tüten in den Armen, ich bin unübersehbar. Einmal habe ich zu Leander gesagt: Wenn wir uns ausgetobt haben, dann. Ich habe gelacht dabei. Leander hat gesagt: Ich glaube, es geht eher darum, dass du dich austobst und wann du damit fertig bist und ob es dann zu spät ist. Leander hat nicht gelacht.

Ich verbringe den Nachmittag bei Mirko. Er drückt Windbeutel auf mir aus und leckt die Sahne von meinem Bauch. Wir schlafen miteinander, und die Taubheit zieht sich von den Füßen durch den gesamten Körper. Das geht so nicht, sage ich und ziehe mich an, nimm mir das nicht übel, sage ich, ich glaube, ich habe mich geirrt.

Hinter der Bühne lacht jemand und legt seine Hände auf meine Schultern. Du bist eine tolle Frau, sagt er, du bist so eine Fangfrau, in der man sich verheddert. Ich kann nicht mehr spielen. Wir sind eine Handvoll Halbnackter, in meinem Kopf tragen wir fleischfarbene Unterwäsche und sind unbewegt schweigende Newtonfotografien, ausgestellte Körper, ich bin verletzlich, ich bin Haut.
Nach der Vorstellung renne ich nach Hause. Ich werfe den Mantel ab und schleudere mich in Leanders Arme und ein klein wenig weine ich auch. Wenn ich die Augen schließe, ist es nicht schwer, meine Schwäche zu ertragen, ich fühle mich dann, als wäre ich mit Leander allein auf der Spitze eines Eisbergs, ich fühle auch den Wind und das Knacken unter den Sohlen, ich fühle auch so etwas wie Horizontlosigkeit.
Ist es Mirko, sagt Leander. Nein, sage ich. Der mit dem Telefon, sagt Leander. Nein, sage ich. Das neue Jahr, sagt Leander. Nein, sage ich. Piazzolla, sagt Leander. Nein, sage ich. Winter, sagt Leander. Nein, sage ich. Ich, sagt Leander. Ja, sage ich und wundere mich. Auf dem Balkon lehnen wir aneinander und lassen uns festfrieren. Ich höre die letzten Worte auseinanderfahren und sehe sie auf dem Gehsteig zerschellen wie Glasperlen, ein klimperndes Zerspringen. Ein Wort und sein Danach und die Angst vor wässrigen Rechtfertigungen, Leander schweigt und streckt den Arm, als wolle er die Stadt segnen, du bist am schönsten, sagt er, wenn du von dir selbst angewidert bist, dann bist du dir am nächsten. Ich erschrecke, erst über Leander, dann über mich selbst. Heute Abend ist Leander ein Gefäß, eine Tür, ein Bett und eine Möglichkeit. Es gibt nichts, was nicht schon einmal zwischen uns gesagt worden wäre. Ich habe Angst, könnte ich sagen, oder: Tu mir nicht weh, oder: Lass deinen Kopf da liegen, ich könnte auch sagen: Lieblingsmensch, ich könnte sagen: Jetzt vielleicht. Ich denke mir eine Nacht, die keine wäre.                   
Wir haben mit dem Danach angefangen, würde ich sagen, wir müssen lernen, wie das ist, sich zu verlieben. Leander würde sagen: Ich muss mich jeden Tag neu von dir überzeugen und von diesem Zustand. Welchem Zustand, würde ich sagen, und die Zigarette über das Gitter werfen. Dich küssen zu dürfen. Ich würde lachen. Krankheit, würde ich sagen, Lieblingsfrau, würde er sagen. Du bist der erste, würde ich sagen, der zählt, weil nur die zählen, die einen mehr lieben als man selbst. Wir könnten heiraten, würde Leander sagen. Idiot, würde ich sagen, niemals. Wir haben uns lange Zeit erfolgreich gegeneinander gewehrt, würde Leander sagen. Es ging nur darum, wer anfängt, würde ich sagen, darum geht es immer. Nein, würde Leander sagen, das kommt erst danach. Davor geht es darum, wer zuerst genug hat.
Ich bin müde, sagt Leander. Die Stadt hat blaues Blut und ist in der Nacht nicht geometrisch. Leander tritt aus dem Bild heraus, das sich in meinen Kopf zurückfaltet. Manchmal denke ich an Zwiebeln, die man endlos schälen kann, manchmal denke ich daran, dass es einen Kern geben muss, immer, manchmal stelle ich mir die Frage, ob man auch den Kern noch schälen kann und ob man das merkt. Manchmal denke ich, Leander muss überlaufen vor Zärtlichkeit. Die Stadt atmet Fäulnis aus und Gift, darum ist es so schwarz.

Leander schläft, als ich mich neben ihn lege. In sein Schlafgesicht hat sich ein Warten festgewoben. Die Falten um die Augenwinkel sind ein Strahlenkranz. Eine Heizung tickt. Ich könnte neben Leander sitzen bleiben und warten, bis ich nicht mehr anders kann als ihn zu wecken. Ich könnte noch einmal alles sagen, was zwischen uns schon gesagt worden ist. Ich könnte versuchen, auch das zu sagen, was ich ausgelassen habe.
Leanders Zehen sind kleine Eisberge. Bis zur ersten Sonne sind es noch zwei Schachteln Zigaretten und vier Mal Piazzolla im Repeat.