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FR | 11.02 | 15:51
Anna Kim (Bild: Johannes Puch)
Anna Kim
Das Archiv

Das Archiv
Stell dir vor: Eine parallele Welt, in der Erinnerungen nur bis zum nächsten Schlaf halten, am folgenden Morgen hat man alles vergessen.
Alles?
Alles.
Der Garten der Familie Fisch liegt zwischen drei Parkhäusern. Licht fällt im Sommer und Winter spärlich, Anuschka Fisch war versucht, die Mauern der Garagen mit Himmel und Wolken zu tapezieren, tatsächlich klebt in einer verborgenen Ecke ein Stück Papier. Das Fest ist nachts, immer nachts, Laternen glühen in der Mitte des Gartens, und Wasser plätschert von den Tischen ins Gras. Sie sagt, am nächsten Morgen sei man wortwörtlich ein neuer Mensch.
Freunde, erinnert man sich an Freunde?
Nein.
Was ist mit Besitz?
Jan fragt, ob es Besitz gebe, im Hintergrund surren Mücken und Kinder im Kreis, es stauen sich Hitze und Müll. Besitz, sagt Anuschka, gebe es nicht, jedem gehöre alles.
Jeder gehört zu allen oder keinem. Es gibt keine Verwandtschaftsverhältnisse, es gibt nur Individuen.
Keine Mutter, keinen Vater?
Keine Brüder oder Schwestern. Keine Freunde. Jeder ist auf sich gestellt.
Der Geruch nach Gegrilltem, vermischt mit Benzin und Abgasen, hängt in der Luft. Das Gras ist trocken, gelb oder braun, einzelne sandige Flecken, doch an den Rändern und unter den Sträuchern grüner, jünger, kein Garten eigentlich, eher ein unbebautes Tal.
Es gibt weder Politik noch Wirtschaft. Gegessen wird, was gestern oder vorgestern produziert wurde. Produziert wird vor allem, um beschäftigt zu sein. Damit nicht vergessen wird, zu produzieren, kleben an den Mauern der Häuser Plakate: Backe lieber jetzt als später.
Backe lieber jetzt als später?
„Später“ kennen sie, „morgen“ kennen sie nicht, da für sie nur die unmittelbare Zukunft existiert. Die unmittelbare Zukunft ist die Gegenwart.
Das Klirren von Glas, ein Hubschrauber über den Dächern, der Gesang eines Katers hallt von den Wänden. Die Ersten verabschieden sich mit Kindern im Arm und Hund an der Leine, Jan winkt.
Warte, sagt Anuschka Fisch.
Warte. Die Geschichte geht weiter. Eines Nachts kann Einer nicht schlafen. Er liegt Stunden wach, schließlich wacht er die ganze Nacht. Am nächsten Tag kann er sich erinnern. Er erinnert sich an den Vortag. Erinnert sich an die Menschen des Vortags, erinnert sich an die Tätigkeiten, den Ablauf.
Aus dem Augenwinkel sieht Anuschka Fisch, dass Fotos gemacht werden, Gäste gruppieren sich um mehrere Laternen, man drückt ab, ohne Blitz, drückt ein zweites Mal ab, diesmal mit Blitz, zu groß, denkt sie, die Entfernung ist zu groß.
Auch am nächsten Tag kann Einer nicht schlafen. Einer sammelt Erinnerungen. Bald fürchtet er um sie, fürchtet, sie zu verlieren, schläft er auch nur eine Nacht.
Gibt es keine Erinnerungen, die er gerne verlieren würde?
Keine.
Ist es nicht eigentlich ein Privileg, jeden Tag wie den einzigen leben zu können?
Er empfindet es als ein Privileg von nur kurzer Dauer.
Inwiefern?
Er bemerkt, dass es die Erinnerungen sind, die seinem Leben Zusammenhänge schenken. Er beginnt, ein Tagebuch zu führen, um diese Erinnerungen festzuhalten. Eines Nachts jedoch schläft er ein. Am nächsten Tag hat er alles vergessen. Da entdeckt er sein Tagebuch, in dem die Ereignisse der letzten Woche aufgezeichnet sind. Obwohl er nicht alles versteht, sich vieles seiner Deutung entzieht und vieles von ihm falsch gedeutet wird, erscheint es ihm wie ein Geschenk.
Der Ursprung der Krankheit Pauls bleibt unauffindbar, die Symptome, ständige Müdigkeit, das Verkümmern der Muskeln, Fieber und ein stetes Abmagern, nicht zu lindern, weder mit gängigen noch mit unkonventionellen Methoden, Paul unter ständiger Beobachtung seit einem Jahr im Krankenhaus; die Krankheit kann nicht geheilt, sein Verfall nur beobachtet werden. Anuschka Fisch beobachtet ihn durch die Linse ihrer Kamera, nie betritt sie das Krankenzimmer ohne Fotoapparat, nie legt sie den Apparat beiseite, sie fotografiert die Fenster, die Schränke an der Rückwand, den Fernseher vor den Betten, sie fotografiert Paul schlafend, essend, sprechend, sie fotografiert seine Augen, seine Nase und seinen Mund, manchmal auch seine Zähne, fotografiert die abgemagerten Hände, Beine unter der Bettdecke und besonders seine Zehen, sie denkt, sie hätten sich nicht verändert, vergleicht ihre mit seinen, sie denkt, sie würden sich kaum ähneln, er habe die Zehen der Mutter, sie die des Vaters. Sie verbindet eine schweigsame Beziehung, Paul spricht, Anuschka fotografiert, sie hört ihm zu, beantwortet aber keine seiner Fragen, sie lacht nur, um zu sehen, ob sie ihn zum Lachen bringen kann. Ein Mal, ein einziges Mal, schnappt Paul nach dem Apparat und macht eine Aufnahme der kleinen Schwester; durch die fehlenden Farben im Raum ist Anuschka verwackelt, die blonden Haare fast weiß, nur ihre Augen scharf, von dunklem Grau, heller aber als die Schatten unterhalb. Auf die Frage des Arztes, weshalb sie ihn ständig fotografiere, antwortet sie, sie wolle sich später an jeden Moment mit Paul erinnern.
Sie dokumentieren seinen körperlichen Verfall. Sie möchten sich nicht daran erinnern.
Römer spricht schnell und leise, Anuschka hat Probleme, ihn zu verstehen, also fotografiert sie ihn, ein Schnappschuss, Römer verzieht das Gesicht, hebt abwehrend die Hände, obwohl die Aufnahme bereits gemacht wurde. Er sagt, er übernehme ab heute Pauls Behandlung.
Fotografieren Sie weniger, es könnte Ihren Bruder stören.
Ich fotografiere ohne Blitzlicht.
Anuschka flüstert, sie fotografiere nie mit Blitz, die Bilder würden unecht, nicht authentisch wirken, sie wolle die Echtheit der Aufnahmen nicht gefährden, sie wolle keine Erinnerung fälschen. Paul mischt sich ein, es störe ihn nicht, er sei daran gewöhnt, er kenne Anuschka nur mit Kamera, ohne Kamera sei sie ihm fremd, er räuspert sich und dreht sich zur Wand. Römer sagt, ihm sei aufgefallen, dass sie Paul nie berühre, sie dürfe ihn berühren.
Die Krankheit ist nicht ansteckend.
Wir umarmen uns nicht.
Sie sagt, sie hätten sich noch nie umarmt, Umarmungen seien ausgeschlossen. Während sie mit Römer spricht, beobachtet sie ihn durch die Kameralinse, sie stellt scharf, während sie spricht, drückt ab, immer wieder, Römer wehrt wieder lachend ab. Eine unausgesprochene Familientradition, sagt Anuschka, sie seien eine kalte Familie, sie würden ihre Zuneigung anders äußern.
Wir äußern unsere Zuneigung anders.
Wie?
Meistens genügt ein Blick.
Sie fahren an verlorenen Feldern vorbei, Sonnenblumen reifen am Straßenrand, die Blätter auf der Jagd nach Erde, Anuschka löst Jan beim Fahren nicht ab, sie kann nicht fahren, sie hat sich stets geweigert, fahren zu lernen. Die Ebene ist weit, für einen Moment glaubt sie, sie würden halten, sie sagt, Jan, weiter. Sie wünscht sich, sie würden hierher ziehen, sie sagt, an einen Ort ohne Zeit, er sagt, sie würde hierher ziehen und am nächsten Morgen weiterziehen, es würde sie doch nicht halten.
Es hält dich nirgends.
Das rote Haus im Schilf entdecken sie an der Küste, es ist gerade noch umzäunt, Wind und Regen haben den Zaun angeknabbert. Die Tür öffnet sich leise, Anuschka erwartet ein Knarren. Durch das Loch im Dach sieht sie den Himmel, einen Schwarm schwarzer Vögel, sie sagt, dieses Haus sollten wir kaufen und renovieren. Jan antwortet nicht, er geht in den zweiten Stock, Anuschka in den Keller, sie klettert durch die Falltür, sie erwartet Ratten, Gestank, eine Leiche und einen fliehenden Mörder, sie hält die Kamera bereit, um jeden festzuhalten. Durch das zerbrochene Fenster scheint Sonne, die Erde ist feucht, die Wände trocken und in der Ecke steht ein rotes Fahrrad mit Hupe. Jan liegt im Dachgeschoss auf dem Boden, starrt durch das Loch in den Himmel.
Dieses Haus sollten wir kaufen.
Es ist verfallen.
Es braucht nicht bewohnbar zu sein. Es ist ein Spielplatz.
Wozu kaufen?
Vielleicht möchten wir später in ihm wohnen.
Er sagt, vielleicht später, und mustert Anuschka. Er sagt, sie solle sich entspannen, Paul werde es bald besser gehen.
Ich weiß.
Du fotografierst ihn zu oft.
Das Gleiche hat Römer gesagt, sein neuer Arzt.
Jan umarmt sie, sie weicht aus, in letzter Sekunde, die Umarmung findet ohne sie statt. Es ist dunkel trotz Loch in der Decke, eigentlich ein Riss, Anuschka fotografiert den Riss. Ihr Schweigen lähmt, Jan schläft ein, sein Kopf rollt auf die Seite, gräbt sich in ihren Arm, sie spürt sein Gewicht, schiebt ihn weg.
Eine Stunde später sinken seine Füße, seine Sohlen, gefüllt mit Nacht, ein rundes, taubes Gefühl, in den Tag; sie verlieren mit jedem Schritt Luft, sacken ein. Anuschka wartet im Garten, die Arme vor der Brust verschränkt. Er küsst sie, sie weicht aus, in letzter Sekunde, er küsst Luft; sie entdeckt Schluckauf in seinen Augen. Er geht voraus, öffnet und schließt das Gartentor, er streichelt mehr, als er schließt, und wartet im Auto.
Du fotografierst mich nie, sagt Jan während der Rückfahrt.
Die Verabredung findet in einem Restaurant in der Nähe des Krankenhauses statt. Der Spielplatz vor dem Gasthaus ist leer, Sand klebt an der Mauer, und ein verbeulter Einkaufswagen rastet neben der Bank. Wasser spritzt auf ihr Objektiv, im Regen schmelzen Spuren. Für einen Moment ist es vollkommen still, weder Stimmen noch Musik, weder menschlich noch tierisch, kein Geräusch von Wind oder Regen, für einen Moment ist es vollkommen still.
Sie hätte sich nicht verabredet, hätte Römer nicht gefragt, sie hätte es sich vielleicht nur gewünscht. Er bat sie unerwartet um das Treffen, sie glaubte, er wolle mit ihr Pauls Krankheit besprechen. Später dämmerte ihr, dass es sich um keine berufliche Besprechung handeln konnte. Sie beschloss, die Verabredung zu ignorieren, es gelang ihr nicht, nun ist es für einen Moment vollkommen still. Auch Jan hatte sie unerwartet um ein Treffen gebeten, damals hatte sie ihn fotografiert, das einzige Mal, auf diesem Bild war er ihr endlich lebendig erschienen.
Sie wartet vor dem Gasthaus, liest die Speisekarte im Schaufenster und überlegt, welches Gericht sie bestellen könnte. Römer verspätet sich um eine halbe Stunde, Anuschka will gehen, als sie ihn durch ihre Kamera entdeckt. Sie versteckt sich in der Blockhütte des Spielplatzes, beobachtet ihn durch ein Astloch. Er hält seine Uhr umklammert, während er läuft, sich seine Beine verheddern, er stolpert und fällt. Er steht nicht auf; Anuschka lacht über seine Sommersprossen am Kinn, die verbundene Brille, verbunden mit Pflaster und Mull, die Hose durchweicht von Regen, den schiefen Schirm in den blauen Händen. Sie flieht unbemerkt, vom Blockhaus ins Spital.
Paul schläft, diesmal betrachtet sie ihn ohne Objektiv, diesmal widerstrebt es ihr. Er erwacht, sie senkt den Blick, ertappt. Sie fotografiert seine fragenden Augen.
Anuschka Fisch versteckt die Hausschlüssel. Sie steckt sie in eine Spalte im Bordstein und bestreut sie mit Erde. Sie fotografiert die Stelle, eine Ameise rennt durch das Bild, Anuschka wiederholt die Aufnahme. Sie gräbt die Schlüssel wieder aus, sie fallen auf die Straße, eigentlich fallen sie weniger als sie fliegen und landen auf der Straße, auf einer weißen Linie, sie versucht, sie aus der Luft zu fangen noch vor der Landung, es glückt ihr nicht. Sie übersieht das Auto, wird von ihm angefahren und kullert in den Park, eigentlich fällt sie weniger als sie fliegt, ihr Kopf schlägt auf die Kante der Parkbank.
Anuschka Fisch verlor den Schlüsselbund absichtlich, sie hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, sie würde Jan gestehen, dass sie den Bund verloren hatte und dass sie, solange es keine Zweitschlüssel gebe, in Pauls Wohnung ziehen müsse. Es wird etwa sieben Tage dauern, wollte sie sagen, bis alle Schlüssel nachgemacht sind, solange haben wir Urlaub, wir sehen uns nur ab und zu, Paul brauchst du auch nicht zu besuchen, Paul besuche ich. Er würde nicken, ihr nachsehen, er konnte nicht anders, als ihr nachzusehen, oft hielt er seinen Blick zurück, dann wanderte der heimlich, wanderte mit Anuschka um die Ecke und blieb am Straßenrand zurück. Neulich aber musste er ihn zwingen, mit ihr zu gehen, er wollte schlafen, blieb in ihm zusammengerollt, bis er ihm einen Stoß gab. Anuschka sah den Stoß, sie prallte gegen ihn an der Kurve.
Sie würde die Schlüssel im Gehsteig vor ihrem Haus vergraben, sie würde den Platz fotografieren, um sich die Stelle zu merken, doch während sie grub, erinnerte sie sich, dass Jan die nächsten drei Tage beruflich verreisen wollte. Sie grub sie wieder aus, sie würde ihr Vorhaben um eine oder zwei Wochen verschieben, sie würde sich von ihm trennen, eine oder zwei Wochen später. In diesem Moment verlor sie die Schlüssel, sie dachte, nicht diese, nächste Woche, versuchte, den Schlüsselbund aufzufangen, als sie angefahren wurde, ihr Kopf auf die Kante einer Parkbank schlug.
Einen Tag zuvor hatte sie Römer im Krankenhaus eingeholt, sie hatte ihm erzählt, dass sie auf ihn gewartet hatte, dass sie wieder warten würde. Römer hatte gelacht, sie hatte sein Lachen fotografiert, während sich eine Fremde ins Bild geschmuggelt hatte, eine ältere Frau im langen, weißen Mantel, sie hatte sie zunächst nicht bemerkt, sie hatte geglaubt, für einen kurzen Moment, sie wäre erblindet.
Jan holt Anuschkas letzte Bilder aus dem Fotolabor, er sieht sie kurz durch, ehe er sie in das Archiv einordnet, nach einem von ihr erdachten System, die ältesten Bilder zuoberst, die jüngsten zuunterst, es sei denn das Ereignis ist noch nicht abgeschlossen, in diesem Fall ist es umgekehrt, die Ältesten zuunterst, die Jüngsten zuoberst. Er stutzt bei den Aufnahmen von Römer, stutzt, da Anuschka sie ihm weder gezeigt noch von ihnen berichtet hat. Es sind Schnappschüsse von Römers Gesicht, Römer lacht, das Lachen erscheint Jan wie die Spiegelung von Anuschkas Lachen, zärtlich, ein unbeholfenes erstes Greifen.
Kälte schlüpft in die Kehle, gewinnt an Hals und sinkt. Er ordnet die Bilder fertig ein, er wird Anuschka nicht darauf ansprechen, sie wird sich noch nicht erinnern, überhaupt ist ihr Gedächtnis gelähmt, auch ihn hat sie nicht erkannt. Er fragt sich, ob sie ihn nicht erkennen möchte.
Römer fängt Jan im Flur ab, er müsse ihn dringend sprechen, der Zustand von Paul sei kritisch, jemand müsse ihm vom Unfall seiner Schwester berichten. Jan wendet sich ab. Er hat Paul seit dem Unfall nicht mehr gesehen, er hat ihn vergessen.
Paul ist wach, als Jan sein Zimmer betritt. Ob es ihm halbwegs gut gehe, fragt Jan, Paul antwortet nicht, er hat seine Augen geschlossen. Es habe einen Unfall gegeben, sagt Jan, er glaubt, dass Paul zuhört, Anuschka sei von einem Auto angefahren worden, sie habe keine schlimmen Verletzungen erlitten, ein paar Brüche, aber sie habe ihr Gedächtnis verloren, sie werde ihn die nächsten Tage nicht besuchen können. Paul antwortet nicht, er scheint zu schlafen.
Er schläft.
Römer sagt, Paul schlafe schon seit einigen Tagen und wache nur selten auf. Er sehe ihr ähnlich, sagt Römer, die Haare fast weiß, ebenso seine Haut, und unter den Augen dieselben Schatten, Anuschkas Schatten, sagt er, als habe es sie schon immer in zwei Hälften gegeben.
Paul stirbt, noch bevor sich Anuschka an ihn erinnern kann. Er stirbt unauffällig, im Schlaf. Man benachrichtigt Jan als nächsten Verwandten, Jan kommt sofort, geistesgegenwärtig mit Anuschkas Fotoapparat. Er fotografiert Pauls Leiche einige Male, aus verschiedenen Perspektiven, bemüht sich, ihre Art zu fotografieren zu kopieren, es gelingt ihm aus seiner Sicht nicht. Man fragt ihn nicht, weshalb er Pauls Leiche fotografiere.
Anuschka Fisch erholt sich, Jan scheint es, als würde sie schneller genesen, nun, da Paul tot ist. Sie hat ihr Gedächtnis noch nicht wiedergefunden, sie macht auch keine Anstalten es zu suchen, als würde es ihr gefallen, sich an nichts mehr zu erinnern. Auch lehnt sie es ab, wenn Jan versucht, ihr von ihrem früheren Leben zu berichten, sie sagt, es interessiere sie nicht heute, später, morgen, sagt sie, vielleicht morgen.
Am Tag ihrer Entlassung besucht sie Römer ein drittes Mal. Anuschka weigert sich wieder, ihn zu sehen, sie sagt, sie misstraue Ärzten, sie ziehe es vor, von Jan zu erfahren, was sie zu tun habe. Römer wollte mit ihr nicht über die Behandlung sprechen, sie lässt ihn verstört zurück, Jan beruhigt ihn nicht.
Das Archiv ist ein Kabinett mit einem notdürftig zugemauerten Fenster. Durch die Ritzen fällt wenig Tageslicht, da es hofseitig liegt. Regale an drei Wänden, die vierte Wand ist eine Tür, der Raum hat gerade genug Platz für eine Person, für zwei wird es sehr eng, Anuschka drückt sich an Jan. Er erklärt ihr das Archiv, das Ordnungssystem der Bilder, sie möchte zunächst nichts hören, wieder sagt sie, es interessiere sie heute nicht, morgen vielleicht, er unterbricht sie nicht, zieht sie mit sich in das Archiv, das kleine Kabinett mit dem notdürftig zugemauerten Fenster.
Dein Tempel.
Mein Tempel?
Niemand durfte ihn betreten.
Du durftest ihn auch nicht betreten?
Nur in Ausnahmefällen.
In Ausnahmefällen, lacht Anuschka. Sie sagt, sie verstehe nicht, sieht ihn fragend an, er blättert wortlos in den Bildern, er sagt, die Tage vor dem Unfall.
Sie nimmt die Bilder, es sind drei Stöße, nimmt sie mit sich ins Wohnzimmer und beginnt sie durchzusehen. Sie gibt vor, sich für die Fotografien zu interessieren, tatsächlich bleibt keiner ihrer Blicke hängen. Jan hält Abstand, wieder fragt sie, in welcher Beziehung sie zu ihm gestanden sei? Er sagt, sie seien befreundet gewesen. Gute Freunde, fragt sie? Er nickt. Sie sagt, er habe gezögert, sie habe das Zögern gesehen. Er verschweigt, dass sie verheiratet sind, er verschweigt auch Römer. Römer selbst hatte bisher nicht den Mut, Anuschka zu erinnern. Jan wird ihm nicht helfen.
Du musst versuchen, dich zu erinnern.
Er sagt, sie müsse es versuchen, im Haus frische Stimmen, scheinbar öffnen sich alle Türen zugleich, Altpapier wird über den Hof gekarrt, frühe Sonne weht durch das gekippte Fenster.
Warum eigentlich?
Pauls Bilder hat Jan weder durchsehen noch ordnen wollen, er hat die Aufnahmen von seiner Leiche abgelegt und vergessen. Anuschka beginnt, den Stapel durchzusehen, sie sagt, diesen Menschen kenne sie nicht.
Dein Bruder, Paul.
Er sieht krank aus.
Sie sagt, er sehe krank aus, die Haut fahl, die Augen geschlossen. Er müsse krank gewesen sein, sehr krank?
Jan nickt. Sein Nicken ist schnell, spontan, es kitzelt die Frage aus ihr heraus, sie fragt trotz allem unhörbar, ihre Stimme klettert im letzten Augenblick ins Innenohr, ob sie ihn mochte?
Jan antwortet nicht. Er brauche es ihr nicht zu sagen, sagt sie, sie könne sich erinnern, sie habe sich sehr gut mit Paul verstanden, sie spricht seinen Namen noch fremd aus, Paul, der Name Paul sei ihr noch fremd, aber sie verbinde mit ihm ein Gefühl, sie habe ihn wohl geliebt.
Er scheint zu schlafen, er scheint auf jedem Bild zu schlafen. Bis auf dem letzten. Er lacht auf dem letzten.
Sie sagt, er müsse sich wieder erholt haben, sie könne sich nicht vorstellen, warum sie sonst diese Fotos aufgehoben habe. Jan antwortet nicht. Sie übersieht die Beschriftung auf der Rückseite, er sagt, die Rückseite, nimmt sie ihr aus der Hand, doch Anuschka unterbricht, natürlich, sie sagt, natürlich.
Ich habe die Fortschritte dokumentiert. Er erholt sich von Bild zu Bild.
Auf dem letzten, sagt sie, sei er wieder ganz gesund, ein wenig dünn vielleicht, blasse Wangen, aber gesund. Ein Geburtstag, es müsse eine Geburtstagsfeier gewesen sein, die Torte, die vielen Kerzen. Der wievielte Geburtstag, fragt Anuschka Fisch?
Jan nimmt ihr die Bilder aus der Hand, er sagt, genug für heute, genug. Er sagt, stell dir vor. Eine parallele Welt, in der Erinnerungen nur bis zum nächsten Schlaf halten, am folgenden Morgen hast du alles vergessen, ein Privileg.