Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Eva von Schirach (Bild: Johannes Puch)
Eva von Schirach
Susi Voss

Manchmal gehen morgens die Löffel aus. Also wir merken es erst in der Früh. Weil weder sie noch ich an so etwas wie Löffel denken. Nur eben wenn keiner da ist, fällt uns auf, dass es die bei ihm geben muss. Ungeheuer banal. Denn Löffel verschwinden ja nicht so einfach. Sie wechseln nur den Haushalt.
Weil die Tochter in der Pause gerne Joghurt isst, kriegt sie auch einen Löffel mit in die Schulbrotbüchse. Immer wieder. Und wenn sie abends beim Vater ist, dann gibt sie ihm, was sie noch von mir hat, damit er es in seiner Küche in die Spüle legt. Irgendwann kramt er dann in seinem abgewaschenen Geschirr herum, sucht vielleicht einen heraus, der sowieso nicht zu den anderen passt, steckt ihn zu einem neuen Joghurt in die Schulbrotbüchse. Da habe ich ihn schon längst nicht mehr im Kopf. Den Löffel. Erst wenn er mit der Tochter zu mir zurückkommt, erinnere ich mich neu an ihn. Weil ich nichts anderes zu tun habe mit diesem Löffel, der mit meinem Kind weg geht. Immer wieder. Was? Habe ich was vergessen?
So wie auf ganz andere Art Susi Voss nichts merkt. Aber ich weiß es. Das Leben einer weiblichen Fernsehhauptfigur ist nicht einfach nur ein normal komplizierter Weg. Sondern ein Ereignis. Spannend. Neu. In sich nachvollziehbar und doch hässlich darauf ausgelegt, für diesen liebenswerten Menschen nichts als ein Dilemma zu produzieren.

Dass sie mit einer leichten Gehirnerschütterung im Krankenhaus liegt, wird Susi in diesem Augenblick erst wieder bewusst. Als sich ein Mann über sie beugt, um sie am Gehen zu hindern. Aber der Mann wird ja dafür bezahlt. Er tut nur seine Arbeit. Der Arzt fühlt ihr den Puls, beobachtet stumm. Susi blickt unsicher in den kargen Raum. Nichts. Gar nichts da, um nicht weiter den Arzt ansehen zu müssen.

ARZT
Sie sind süß...

SUSI (errötend)
Danke.

Der Arzt zeigt auf ein kleines Sträußchen, das neben Susi auf dem Tisch liegt. Ein Missverständnis, das ein Problem mit sich bringt. Auch weil der Arzt die Blumen ja wirklich mehr aus Versehen hier in das Zimmer seiner Verkehrsunfallpatientin mitgebracht hat.

ARZT
Die Vergissmeinnicht. Riechen Sie die nicht?

Susi zeigt sich unbeeindruckt. Der Arzt stutzt, gibt dann einfach Susi zum Früchteteetrinken ihre Hand zurück. Der Ehering klirrt an der Tasse.
Ganz alleine ist sie hier. Bis morgen früh. Dann erst kommt der Mann dieser Frau, um sie abzuholen. Noch ist sie Patientin. Noch scheint sie nicht verstanden zu haben, dass sie die Blumen hätte riechen müssen.

Mit der Aufforderung zur erholsamen Reizarmut nimmt der Arzt die Vergissmeinnicht vom Tisch weg und erzählt Susi, dass die für seine kleine Tochter sind. Dass er übermorgen nach der Doppelschicht sein Mädchen übers Wochenende bei sich hat. Er hofft, dass sie die Vergissmeinnicht mag und, dass seine Tochter in Zukunft, wenn sie mit ihrer Mutter zu Fuß unterwegs ist, nicht bei jedem roten Auto "Papa" ruft, sondern lieber bei jedem Vergissmeinnichtsträußchen. Denn, wenn man genau hinsieht, dann gibt es beinahe das ganze Jahr über diese kleinen Gewächse. Oder eben auch andere Pflanzen. Natur. Bunt. Auch mitten in der Stadt.
Die Vorstellung, dass das Kind sich in Zukunft den Vater nicht als Auto, sondern als Blümchen am Straßenrand vorstellt, findet er verlockend. Erstens, weil es schöner ist und zweitens, weil er hofft, dann weniger häufig mit seiner Ex-Frau über die Tatsache streiten zu müssen, dass er sich ein Auto leisten kann und sie, die wegen der kleinen Tochter so dringend eines haben möchte, nicht. So ist eben die Realität, sagt der Arzt und riecht an den Blumen in seiner Hand. Ziemlich schwacher Geruch. Da hätte er sich wirklich mehr erwartet. Susi schläft.

Ich habe keine Löffel im Haus und Susi Voss keine Erinnerung. Ihr verschüttetes Gedächtnis ist mir viel wert. Weil es nicht aus Argumenten besteht, sondern aus Emotionen, die sich direkt an den Zuschauer weiter vermitteln lassen. Ob Susis vorheriges Leben spannend war, ist dabei völlig unerheblich. Es geht viel eher um das Warum. Warum dieses Schicksal und kein anderes?
Susi Voss könnte die Frau an der Seite eines Wirtschaftslobbyisten sein. Ein langweiliges Leben, das sich für Susi unter anderem dadurch auszeichnet, billigen Strom zu beziehen und somit bei der Auswahl einer Wasch- oder Spülmaschine ganz auf das Design und nicht auf den Energieverbrauch konzentriert zu sein. Gut, dass sie sich daran nicht mehr erinnert. Aber warum eigentlich nicht? Was ist denn passiert, dass sie jetzt mit einem Mal vergessen muss, was gewesen war? Antwort: Weil erst das Sich-erinnern-müssen ihrem Fernsehschicksal einen Sinn gibt. Warum? Weil es nicht um sie geht, sondern um das, was ihr zustößt. Um den Fall, der vielleicht daraus bestehen könnte, dass ein Oberbürgermeister einen befreundeten Martin Voss mal überredet hatte, ein bestimmtes Stück Land als nicht windparkgeeignet zu begutachten und dafür einen Posten im Vorstand des Interessenverbandes der etablierten Stromversorger erhielt.

Im Zuge dessen könnte alles damit angefangen haben, dass es auch am Abend vor Susis Beschädigung ein Leichtes war, sie, die gern und viel zu Hause ist, anzurufen. Eine Frau war das. Es würde vielleicht bald Gerüchte geben, hat die Stimme am Telefon gesagt. Was, wenn nun jemand käme und behaupten würde, Susis Mann, Martin Voss, hätte - zum Beispiel privat - Dreck am Stecken? Schlimm, hat die Frau für Susi geantwortet. Am besten gar nicht hinhören. Lieber zusammenhalten und vor andersgearteten Aufforderungen beharrlich die Tür verschließen. Es wäre doch gut, so wie es ist.
Susi hat benommen ins Telefon genickt und sich weiter zusäuseln lassen. Der Frau am anderen Ende hat es auch gar nichts ausgemacht, von Susi nichts Wesentliches dazu zu vernehmen. Weil das quasi das richtige Zeichen war. Susi hat es nicht gewusst, aber die Frau schon. Nicht, dass Susi nicht zu merken scheint, dass sich Nicken nicht über den Apparat vermittelt, sondern dass in Susi ein ihr selbst unbekanntes Potential schlummert. Vom anderen Ende der Telefonverbindung aus hat diese zarte Stimme erreicht, dass Susi keine Ruhe geben wird. Also eben genau das, was die Frau erreichen wollte.

Susi hat aufgelegt und sich beratungsresistent auf die Suche gemacht. Nach dem, was ihr schönes Heim gefährden könnte. Das war nicht schwierig. Weil sie sich einfach immer nur an das Gegenteil halten musste. Also immer in die andere Richtung. Nicht privat, sondern Beruf. Also Büro im Haus. Nicht Gerüchte, sondern Beweise. Also Papiere, die ihn schuldig machen. Susi hat nachgesehen. Immer wieder. Bis sie ihrem Mann nachweisen konnte, dass er für das Fälschen eines Gutachtens zur Förderungsablehnung einer Windkraftanlage mit einem Vorstandsposten im Interessenverband der etablierten Stromversorger bezahlt wurde.
Dieses Papier hat Susi dann im Haus versteckt. Abgewartet. Sie hat sich aufs Sofa gesetzt und ungerührt in die Stille gelauscht. Sie hat in Zeitschriften geblättert und den Bezirksanzeiger studiert. Manche Absätze hatte Martin schwach markiert. Alles über die Möglichkeiten einer Reduzierung der Abrollgeräusche in ihrer Straße, die derzeit auf Grund der verschiedenen Höhenunterschiede in der Fahrbahnoberfläche entstehen und bei den Anwohnern zu einer nicht unbeträchtlichen Lärmbelästigung führen. Susi hat die Broschüre durchgelesen, sich aber gar nicht angesprochen gefühlt. Schließlich ist es nicht ihr, sondern Martins Bestreben im Leben, sich darum zu kümmern, dass es da, wo alle sein wollen, auch so ist, wie es sein soll. Begehrenswert. Unbegreiflich schön leise.
Und als genau diese Worte von Martin in Susis Kopf kamen, fiel ihr erst recht ein, dass sie sich dieses zu vollendende Werk eigentlich viel zu selten von außen ansieht. Susi ist herausgetreten. Erst in den hübschen Vorgarten und dann auf den frischen, noch unbefestigten Gehsteig und darüber hinaus. Um etwas mehr Abstand zu gewinnen. Sie hat gestaunt, wie spät es schon geworden war. Dunkel. Kaum Sicht auf das unbeleuchtete Haus. Dann mit einem Mal wurde außen alles schwarz und irgendwie innen ganz hell. Autoscheinwerfer haben sie geblendet und noch mehr. Susi hatte Martins Wagen nicht kommen, nicht sie erst um- und dann weiterfahren gehört. Auch nicht den Krankentransport, der sie mit Blaulicht und Gehirnerschütterung weggebracht hat. Weil sie schlichtweg vergessen hatte, dass die Ausgabe des Bezirksanzeigers schon vom letzten Jahr war und Martin seitdem eine ganze Menge für den anwohnergehörfreundlichen Autoverkehr vor der eigenen Haustür getan hatte.

So stelle ich mir Susis Befindlichkeit auch weiterhin vor. Nicht üppig an Charakter. Bisschen sympathisch. Realitätsfern. Eine trotz allem eigensinnige Susi, die froh ist, dass Martin sie aus dem Krankenhaus abholt. Endlich. Weg von diesem Arzt und seiner Art, sie in Verlegenheit zu bringen. Lieber ist ihr da Martin. Weil er sagt, dass das mit dem Nichtriechen sogar ein praktischer Zufall sein kann. Gestern ein unerklärlicher Unfall. Heute ein Hund, von dem sich Susis Nase nun gar nicht erst gestört fühlen muss. Martin hat einen Gordon Setter besorgt. Ein Jagdhund, der auf sein Haus und alle darin befindlichen Schätze aufpasst und dem, der sich nähert, entgegen läuft. Bei Sonne und Regen. Übersprudelnd vor Freude, nicht verlassen worden zu sein.
Durch den Matsch läuft das Tier auf Martin zu und springt an seinem neuen Herrchen hoch. Unermüdlich trieft der Hund Martin voll. Unerträglich für Susi, die mit dem Köter gar nichts anzufangen weiß. Martin lacht und geht zurück ins Haus. Weil es ja gar nicht um den Dreck geht, sondern um das, wofür die verschmutzten Hosen stehen. Um das darunter. Der Mann innen drin und der Hund nur als Signal.

SUSI
Ein Hund bedeutet Unfreiheit.

MARTIN
Ein Kind auch.

Und im nächsten Moment hört sie schon den Reißverschluss seiner Hose. Nach dem ganzen Hundegebell hat sie gar nicht damit gerechnet, so schnell wieder so feinfühlige Ohren zu kriegen.
Schmutz und Flecken zieht Martin aus und möchte von dieser reinen Susi angenommen werden, so wie er ist. Liebend. Liegend. Auf der Rücken schonenden Couch, die auch ausgezogen werden kann. Aber wer liegt schon aus gesundheitlichen Gründen auf einer Ausziehcouch? Auf keinen Fall Susi. Denn Sex hat sie, nicht weil es gut tut, sondern weil es Spaß bringt. Schonungslose Liebe zwischen Martin und Susi. Das funktioniert und erschöpft. Schön findet Susi das und steht keine Widerrede duldend auf, um Martin etwas zu trinken zu holen.
Susi versteht ihre eigene Hilfsbereitschaft nicht als Makel. Auch weil sie nur auf Grund dieser Eigenschaft, als sie in ihrer gut sortierten Designerküche nicht gleich die passenden Gläser sieht, stutzig wird. Zu bemerken, dass in diesem Überfluss etwas fehlt, hilft ihr. Heilende Energie. Ein Schub, der sie am tiefsten Punkt ihrer Lebensgeschichte abholt. So weit unten ist sie schon. Auch das hat sie nicht gewusst. Bis es ihr jetzt wieder einfällt. Schließlich hat sie Martin ja selbst irgendwann mal gesagt, dass sie hofft, auf dem Sterbebett nicht bedauern zu müssen, zu wenig Sex im Leben gehabt zu haben.
Mit einem Mal ist es anders als vorher. Sie trinkt, verschüttet, ohne vorher überhaupt etwas vom Leitungswasser geschmeckt zu haben. Mist. Egal. Ist ja nur der Glastisch nass geworden. Doch nicht. Denn das Wasser tropft auf die Stuhllehne und damit auf Martins neuen Smoking. Glück im Unglück. Erleichtert entdeckt Susi das zwar immer noch gefälschte, aber dafür trockene Gutachten bei Martin in der Brustinnentasche und räumt die Gefahr weg. Durchatmen.

Ab und zu glänzt Susi Voss in meinen Augen. Etwas verhalten. Aber ich bin zufrieden. Wie ein von mir gepflegter Löffel im Besteckkasten wirkt sie. Den Vergleich erlaube ich mir, weil ich das Anschauungsmaterial da habe. Löffel. Kind. Viel von beidem. Satt und noch mehr davon. Mit dem, was sie in der Schule nicht mehr essen konnte, füttern wir ihre Hasen. Wir lachen und sprechen darüber, was es heißt, sich pflichtbewusst um die Tiere im Kinderzimmer zu kümmern, wenn sie doch eigentlich viel lieber irgendwo unterwegs von einem glücklichen Hund gefunden werden möchte.
Immer wieder denke ich, dass es nicht richtig ist, dem Vater vorzuenthalten, mit welchem Genuss ihre Hasen über seine teuren Honigwaffeln herfallen. Aber ich ruf ihn nicht an. Weil es als System so gut geht.
Selbst wenn ich mich um deren Ernährung nicht kümmere und sie es nicht tut, übernimmt er diesen Part. Er hat eine Funktion, von der er keine Ahnung hat. Die Hasen leben gut damit. Nicht ewig. So wie auch irgendwann Schluss ist mit Susi und mir. Nach dem strahlenden Abschluss geht es anders weiter. Niemand weiß wie. Konsens ist nur, dass alles, was geschehen ist, ja nur deswegen sein musste, um dieser einen auserwählten Susi etwas zu ermöglichen. Ihre Zukunft nenne ich Entwicklung. Vielfältig vorstellbar. 

Susi bügelt Martins Smokinghemd, das er für den Empfang beim Oberbürgermeister brauchen wird. Sie tut das gern und es ist ihr schlicht und ergreifend egal, ob Martin findet, dass Männer dazu neigen, Frauen Dinge tun zu lassen, die ihnen (also beiden) zeigen sollen, wer der Chef ist.

SUSI
Nur weil ich deine Oberhemden bügle, bin ich doch nicht schwach.

MARTIN
Mit deiner Ignoranz bringst du uns noch alle um.

Er möchte ihr den Empfang des Oberbürgermeisters anlässlich der Einweihung der Flugzeugkonstruktionshallen, die beinahe am Vorhaben eines Windkraftaktivisten gescheitert wären, ersparen. Er will sie abhalten, aber er kann es nicht. Immer wieder versuchen. Immer wieder versagen. Aber irgendwann ist auch für Martin der Endpunkt erreicht. So geht es nicht mehr weiter. Jetzt ist er dazu bereit, sich von Susi nicht alles kaputt machen zu lassen. Ahnungslos denkt er sich, dass dazu schon eine andere kommen muss. 

Die andere ist Regina, die Frau vom Cateringservice. Susi merkt das an der Stimme. Immerhin hat sie mal mit diesem Krisengebiet telefoniert. Und jetzt gleich dieses Organ direkt am Ohr. Weil Regina ein paar Worte zum Büfett verlieren und jeden Gast auf zarte Art dazu anregen möchte, nicht gleich von zu wenig Salz in der Suppe auszugehen. Lieber sich erst verführen lassen von dem, was auf der Zunge ankommt. Regina verschenkt ihre Anweisungen wie Garantiescheine. Auch an Martin, dessen Regina-Anbetung sich durch demonstratives Nachsalzunterdrücken zu erkennen gibt. Die beiden haben also eine Baustelle miteinander. Langsam nimmt der Abend für Susi Formen an, die sie versteht. Susi hat gelernt, sich zu orientieren und lächelt unaufgeregt an Regina vorbei.

Von weitem betrachtet findet Susi den Oberbürgermeister richtig interessant. Stattlich. Ergebnisorientiertes Denken macht sexy. Denkt sie sich, weil sie das auch an sich selbst bemerkt. Als ob die schicksalhaften Umstände ihre sonst eher lasche Wirkung wegdesigned hätten. Einfach damit das Außen optisch besser zum Innen passt.
Weil es für Susi darum geht, künstliche Geschmacksverstärker unterzubringen, tritt sie heute Abend anders auf. Auch wenn das die anderen Gäste ja gar nicht wissen können. Oder es gibt so etwas wie geheime Absprachen. Könnte Susi fast meinen. Denn lange braucht sie, die sich ganz an den Rand der riesigen Veranstaltung gestellt hat, auf den Oberbürgermeister nicht zu warten. Er hat sie gesucht und gefunden. Sogar hier und ohne wirklich zu wissen, wie sie aussieht. Er sagt, dass es in seinem Leben darum geht, Entscheidungen zu treffen. Er hat die Nerven dazu und sie, als Gestalterin glücklicher Zufälle, das Gutachten. Weil er davon ausgeht, dass Erfolg eine Mutter hat. Der Oberbürgermeister sagt, was Susi denkt. Es ist toll. Eine tolle Kommunikation, die darauf baut, dass sie, um sich selbst zu verstehen, von einem anderen verstanden werden muss. Endlich. Susi gibt besagtes Stück Papier dem Oberbürgermeister und macht es gut.

Es interessiert Susi nicht, was weiter passiert und ob Martin von einem Mitarbeiter des Oberbürgermeisters ein Martiniglas in die Hand gedrückt bekommt. Susi geht. Martin hinterher. Und da es sich mit einem vollen Martiniglas so schlecht läuft, trinkt Martin den Martini auf einen Zug aus. Dann stellt er das Glas auf dem Bordstein ab, zückt unkontrolliert eine Waffe aus seiner Smokingjackentasche. Eine Jagdpistole. Wenn es so etwas überhaupt gibt. Aber Susi sieht gar nicht auf die Waffe, sondern auf den immer noch vorhandenen Fleck auf Martins Smoking. Als ob er den extra präpariert hätte. Wie er sie ja auch die ganze Zeit schon mit Warnungen torpediert hat.
Mit ihrer Angst vor dem verzweifelten Martin ist Susi wirklich ein bisschen spät dran. Ihr Erfolg wird ihn einsam machen. Daran ist sie selbst schuld. Aber ehe sie überhaupt großartig damit anfangen kann, sich seinen Argumenten zu widmen und eigene zu entwickeln, bricht Martin schon zusammen. Schaum vor dem Mund. Vergiftet. Mann und Glas wirken unattraktiv, findet Susi.
Kein passender Kommentar. Aber Susi steht eben unter Schock. Nichts anderes ist von einer Frau zu erwarten, die sich im Leben geirrt hat. Ich kann das verstehen. Ich habe es ja auch so gewollt. Erkenntnisschub. Kein Knall. Kein von Martin verwackelter Streifschuss, der Susi dann für den Rest ihres Lebens dazu zwingt, sich mit einer durch die Nickelplattierung des Geschosses ausgelösten Allergie herumzuschlagen. Nein. Ganz klare Ansagen gebe ich ihr. Leben und Tod als zwei Seiten einer Medaille. Nur Martins Ende kann für Susi ein neuer Anfang sein. 

Doch zufrieden ist sie mit ihrer geretteten Haut kein Stück. Erst recht jetzt nicht. Dafür anders. Aufgeladen. Euphorisch fährt sie den armen Teufel Martin ins Krankenhaus, sucht in ihrem Gedächtnis herum. Sie will mir nicht sagen, nach was.
Ich finde, ihr Leben ist eine Aufgabe, die sie zu erfüllen hat. Mehr nicht. Sie sagt, dass ihr das zu wenig emotional ist. Weil sie sich ja auch durch ihr besonderes Schicksal verändert hat. Sie ist ein anderer Mensch geworden. Sie sagt mir, dass der Sinn ihres Lebens darin bestehe, eben dieses zu erleben. Mehr nicht. Weil es ja auch nicht "Die Einsamkeit der Langstreckenläuferin" heißt. Eben, sage ich. Susi nickt. Aber wieso hat sie dann nicht Martin sterben lassen, sondern auf eine so undramatische Art gerettet? Leben ist Verantwortung, sagt Susi und geht. Ich hinter ihr her. Immer wieder.

Ich verstehe nicht, was in Susi vorgeht. Weil sie so leise spricht und es selbst wohl auch nicht richtig weiß. Ihr Handeln ist unlogisch. Inkonsequent. Sie und ich stecken in einem Dilemma der besonderen Art. Susi hat nämlich Martins Leben nur gerettet, weil Regina ihr vorher gesagt hat, dass sie von Martin schwanger ist, aber natürlich mit so einem Menschen nicht zusammen sein will. Susi hat mich nicht gefragt, was sie mit dieser Information tun soll. Ganz schön gemein von ihr. Aber so ist es eben, entgegnet Susi. Martin wird überleben und daran kann sie ja nun auch nichts mehr ändern.
Also schnell zu Ikea, Besteck klauen und sich anders fühlen. Schadensminimierung nennt Susi das. Damit wenigstens immer genug Löffel in Reginas Haushalt da sind. Weil sie, als neue Susi Voss, ein wenig übermütig davon ausgehen möchte, dass der Vater trotz allem auch miterziehen darf. Wie sie eben auch jetzt schon weiß, dass Martin seine viele freie Zeit dazu nutzen wird, den Hund zu einem folgsamen und lieben Familientier zu erziehen. Damit es ein glückliches Kind wird. Wieso auch nicht? Es kann den Köter ja später einfach vergessen. Schon wieder so ein unsinniger Gedanke, der Susi aus dem Tritt bringt.
Eben als ich noch darüber nachdenke, wie viel besser es doch wäre, meine Tochter diesen Hund finden zu lassen, auch wenn ich nicht genau weiß, wie das Tier dann zwischen unseren beiden Haushalten hin und her transportiert wird, weil der Hund ja am Kind hängt und demnach also nicht wie Löffel oder Hasen behandelt werden darf, stolpert Susi mit ihren besteckgefüllten Taschen über den Bordstein.

Susi liegt auf dem warmen Betonboden. Aus dem Hinterkopf tropft das Blut. Aber auch vorne. Wie eine Krone um den ganzen Kopf herum. Sieht hübsch hässlich aus, so eine Sissi-Voss-Krone. Steht ihr irgendwie. Passt zu Susi. Auch weil es blöd ist, dass sie sich selbst nicht sehen kann. Ein Leben lang leiden, und keiner kriegt es mit. Weil sie eigentlich aus ihrer Rolle raus ist. Gelaufen. Vorbei. Ich bleibe trotzdem bei ihr. Immer wieder. Denn es ist ja meistens so, dass die Dinge sich aus einander ergeben. Fließend, nicht schlagartig. So wie sie eben auch hier ganz weich zum liegen gekommen ist.
Damit er sich hinunter beugen muss. Weil er es nicht lassen kann. Aber der Mann tut nur seine Arbeit. Er ist sofort aus dem Auto gesprungen, um sich zu kümmern. Ich stelle mir vor, wie sie ihm Vergissmeinnicht ins Ohr flüstert. Ganz leise. Weil es ja nicht jeder hören muss. Und dann sehe ich, wie er so tut, als würde ihm das mit den Vergissmeinnicht wieder einfallen. Er macht das wirklich ganz gut. Die ganze Sache mit dem Arzt und dem Ehering und der armen Frau, die Hilfe braucht.

Aber Susi sagt ihm noch was. Sie will wissen, wieso er seiner Tochter die Vergissmeinnicht immer noch nicht mitgebracht hat. Das ist doch schon so lange her. Der Mann, der den Arzt spielt, hält kurz verständnislos inne. Dann lächelt er Susi an. Glücklich, dieses Phänomen selbst miterleben zu dürfen. Weil diese Frau, obwohl keine da sind, Vergissmeinnicht riecht. Der Reiz ist nicht da, aber das Sinnesorgan arbeitet. Als wären im Gehirn die unterschiedlichen Signale durcheinander geraten. Vielleicht ist es beim Sturz zu einer inneren Verletzung am präfrontalen Stirnlappen gekommen. Er sagt Susi, dass sie möglicherweise eine Synästhesie entwickeln könnte. Vielleicht wird sie in Zukunft ein anderer Mensch sein.
Das glaube ich dem Arzt nicht. Ich kenne Susi. Die war im Leben noch nie eine besonders sensible Person gewesen. Da hilft auch so ein Sturz nicht. Der Arzt beugt sich über sie, um sich ihre Kopfverletzung anzusehen und atmet schwer.

SUSI (leise)
Das sind gar nicht die Vergissmeinnicht, die so riechen, sondern Sie.
 
Susi reißt sich zusammen und errötet nicht. Vor allem deswegen, weil das in ihrem aktuellen Zustand sowieso schlecht gehen würde. Aber jetzt schließt sich hinter ihr erst mal die Krankenwagentür und es wird ganz dunkelblau. Susi denkt sich, dass das löffelweise sehr gut schmecken müsste und freut sich, genug davon dabei zu haben. In ihren Taschen. Die Löffel. Das Besteck. Aber stimmt gar nicht. Susis Geschichte endet mit leeren Händen.

Warum? Nein. Das kann gar nicht sein. Ich habe nicht vergessen, Susi die Löffel zurück zu geben, die ihr bei dem Sturz auf die Straße verloren gegangen sind. Das erinnere ich genau. Weil ich die ganze Zeit, als sie auf dem Boden lag und mit dem Arzt über Vergissmeinnicht gesprochen hat, daran denken musste, dass Susi unbedingt ihre blöden Löffel braucht. Denn ohne ihre Entscheidung das Besteck klauen zu wollen, wäre das alles ja gar nicht passiert. Selbst Martin hätte in Ruhe sterben können. Also die Löffel. Immer wieder die Löffel. Nicht vergessen. Nein. Eben nicht. Ich weiß, dass ich ihr die Löffel noch zugesteckt hatte. Als es noch nicht zu spät war. So wie jetzt. Aus. Vorbei.
Ich bin verzweifelt, weil die ganze Sache für Susi so saudumm gelaufen ist. Sie tut mir leid. Sie hat das alles nicht verdient. Vor allem nicht, wenn es sich zum Schluss nicht auszahlt. Ihr Glück wären die Löffel gewesen. Wieso hat sie diese blöden Dinger wieder verloren? Alles weg, wenn man nicht auf jede Kleinigkeit achtet.

Der Arzt sieht mich streng an. Weil ich mit mir selber spreche und schimpfe. Er nimmt meine Hand, und als ich sie zurückziehe, liegen die Löffel drin. Viele Löffel. Der Arzt sagt, dass Susi ihm die gegeben hat, ehe der Krankenwagen wegfuhr. Weil sie wollte, dass ich sie habe. Also nicht, dass ich mal gesagt hätte, ich würde zu wenig Löffel zu Hause haben. Eher susiartig unüberlegt hat sie sich gedacht, dass ein gutes Geschenk für mich keinen Sinn haben darf.

ICH
Danke, Susi.

Benommen stehe ich da. Unglaublich. Das meint der Arzt, der immer noch neben mir steht und meine Hand mit den Löffeln hält, auch. Das würde sich so unglaublich anhören, wie wenn er jetzt behaupten würde, dass er mich süß findet. Süß? Ich glaube nicht, dass ich süß bin. Ja eben, lacht der Arzt. Er teilt meinen Vorbehalt. Eine bloße Vermutung. Lebensfern wäre das. Sagt er. Weil, um es wirklich wissen zu können, muss er es schon selbst ausprobiert haben.
Weil Wahrheit das ist, was funktioniert, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Sage ich, um mit Sicherheit das letzte Wort zu haben. Den ersten Kuss auch. Immer wieder.
ENDE