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FR | 11.02 | 15:51
Iso Camartin Rede zur Literatur 2005
Am 22. Juni wurden die "Tage der deutschsprachigen Literatur" 2005 eröffnet. Die traditionelle "Rede zur Literatur" wurde diesmal von Iso Camartin gehalten. Hier zum Nachlesen...
Die Sache mit dem “Siegel”
Der eigene Stil, die eigene Stimme
Wer heute in literarischen Angelegenheiten von Stil redet, gilt als unzeitgemäss und altmodisch. Der Stilbegriff hat sich als Kunst- und als Literaturkategorie verflüchtigt. Er hat sich zur „Life-style –Frage“ mutiert. Da allerdings feiert er eine glanzvolle Wiederkunft.  Kaum ein Journal, das etwas auf sich hält, schickt seine Leserinnen und Leser ohne eine bunte Life-Style-Beilage ins Wochenende. Ging es früher bei der Stilfrage um die Klärung, auf welche besondere Art und Weise jemand zu schreiben, zu malen oder zu musizieren versteht, so geht es heute dabei um die Demonstration, wie elegant und modebewusst jemand sein Lebensumfeld einzurichten vermag. Fragte man früher nach dem Stil, zielte man auf eine Art „Physiognomik des Geistes“, eine Unverwechselbarkeit der Person, eine spezifische Eigenart ihres Ausdrucksvermögens. Stellt man die Stilfrage heute, erhält man Antworten, die mit luxuriöser Ausstattung, Accessoires und verfeinerter Lebensart zu tun haben. Wer Stil hat, lebt in Räumen mit den passenden Möbeln, trinkt zum Essen die dazugehörigen Weine, fährt die schicken Autos, ist sportlich und eben „gestylt“. Stil hat nichts mit Eigenart und Originalität zu tun. Im Gegenteil. Stil ist – wenn man den Life-Style-Gurus folgt – in erster Linie Design-Konformität. Wer sich nach der Massgabe der Trendsetter richtet, lebt stilvoll, basta. Damit ist die Stilfrage geklärt und erledigt.
Und doch hiess es einmal: „Le style est l’homme même.“ Dieser Satz, gesprochen 1753 in Buffons berühmter Akademie-Rede, hat nicht nur die Franzosen beschäftigt. In Deutschland setzte eine heftige Debatte ein über die Frage, was es denn bedeute, wenn der Stil der Mensch selber sei. Lessing hat beherzt mitdebattiert, Goethe hat sich dazu verlauten lassen. Im Streit mit Pastor Goeze schleuderte Lessing dem Kirchenmann ins Gesicht: „Jeder Mensch hat seinen eigenen Stil so wie seine eigene Nase.“ Er reklamierte damit für sich das Recht, auch honorablen Standespersonen auf die ihm eigene Art und Weise entgegentreten zu dürfen. Wenn man nach dem entscheidenden Merkmal sucht bei Franzosen, Engländern und Deutschen, was denn nun den Stil eigentlich ausmache, begegnet man immer wieder dem Wort „l’empreinte de soi“. Das Wort lässt sich unterschiedlich übersetzen: als Fussspur, Abdruck, Merkmal, Stempel, Prägung, Zeichen. Stil wird als eine Summe jener spezifischen Merkmale gesehen, in denen sich die Besonderheit einer Person ausprägt. Stil ist jene Spur, die uns zu den besonderen Gedanken, Gefühlen, Intentionen einer schaffenden Person führt, gleichsam die Ausdrucksspur ihrer individuellen Einzigartigkeit. Ein Siegel der Unverwechselbarkeit, mit welchem der Künstler sich seinem Werk auf- und einprägt.
Theognis von Megara, der Verfasser von Gedichten und Ele-gien aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, ist der Ers-te, von dem wir erfahren, wie gross sein Bemühen war, so zu schreiben, dass die Art seines Schreibens ganz und gar unverwechselbar sei. Den von ihm verfassten Versen wollte er eine „Sphragis“, also ein Siegel aufprägen, damit kein Dieb sie ihm je entwenden und als die eigenen ausge-ben könne. So sollten die Verse gestaltet sein, dass je-der, der sie hört, sofort erkenne: „Dies ist Theognis Ge-sang, / Des megareischen Manns, den weitum nennen die Menschen.“ Eigengeprägt und unnachahmlich musste ein Ge-dicht sein, dass keine Entwendung möglich sei und keine falsche Zuschreibung. Jeder Liebhaber von Gedichten soll-te es sogleich hören: So schreibt nur Theognis! Das kann nur der Dichter aus Megara sein, der hier zu uns spricht!
Seither steht die Frage im Raum, was dieses Siegel als Garant der eigenen Ausdrucksart letztlich sei. Dieses gewisse Etwas, das die Sprache kenntlich macht und einen Text so prägt, dass er unaustauschbar wird. Wie kommt es zu diesen besonderen Erkennungsmerkmalen beim Schreiben, beim Malen, beim Komponieren? Wie prägt sich die Person dem Werk so ein, dass sie unablösbar wird vom Gesagten und untrennbar vom Gezeigten und Gehörten? Wie geht diese Besiegelung, Beglaubigung und Bekräftigung der eigenen Person im entstehenden Werk vor sich und erscheint am Ende unverlierbar in Aussage und Gestaltung? Was ist persönlicher Stil und was macht ihn aus?
Dieser Frage ist man im Verlauf der europäischen Geschichte mit unterschiedlicher Intensität nachgegangen. Es hat Zustimmung und Widerspruch zur Idee gegeben, dass es nur die Individualität sei, die sich im Stil auspräge. In Zeiten des Geniekults und der Originalitätssucht war der persönliche Stil ein selbstverständliches Requisit des schaffenden Künstlers. Aber man hat ebenso von Epochenstil und Nationalstil gesprochen und mit einem gewissen Recht behauptet, dass überindividuelle Ausdrucksmanieren ebenso prägend sein können wie solche von Einzelmenschen. Abzuschütteln war die Frage nach der Leistung des Subjekts in der Stilfrage aber nie. Und selbst dort, wo ganz bewusst das Schreiben als eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und gerade nicht als reine Beschäftigung mit dem eigenen Ich deklariert wird, taucht die Stilfrage mit neuer Dringlichkeit wieder auf. Wenn Flaubert verlangt: „il ne faut pas s’écrire“ – man soll nicht sich beschreiben, so will er die Unverwechselbarkeit des Autors in seinem Werk doch keinesfalls preisgeben. Der Autor muss im Werk das sein, was Gott im Universum ist: „présent partout, et visible nulle part“ – überall präsent und nirgends sichtbar. „Que l’on sente dans tous les atomes, à tout les aspects, une impassibilité cachée et infinie.“ schreibt er einmal an seine Freundin Louise Colet. In allen Atomen, in allen Aspekten eines Werkes müsse man „eine verborgene und grenzenlose Unbeirrbarkeit“ des Autors spüren. Stil ist nicht Gefallsucht an eigenen Marotten. Stil ist eine Art von Zugangs-Prägung, mit welcher sich die Wirklichkeit erst entschlüsselt. Daher Flauberts Wunschtraum, einmal ein Buch über nichts zu schreiben, das dennoch vollkommen unverwechselbar seines wäre. Im Brief an Luise Colet vom 16. Januar 1852 schreibt er: „Deshalb gibt es auch weder schöne noch hässliche Themen, und wenn man sich auf den Standpunkt der Kunst an sich stellt, könnte man es fast zum Grundsatz erheben, dass es gar keine (Themen) gibt, da der Stil ganz für sich allein eine absolute Weise ist, die Dinge zu sehen.“ Vermutlich ist dies eine der genauesten Stildefinitionen aller Zeiten: „le style étant à lui tout seul une manière absolue de voir les choses.“ Stil ist der unbeirrbare Wille, die Dinge so und nicht anders sehen zu wollen. Und zu einer künstlerischen Existenz gehören die Fähigkeit und das Vermögen, diesen Willen gestaltend umzusetzen.
Unter den gegebenen Umständen scheint es dringlich, daran zu erinnern, dass die Stilkategorie - wie sie etwa in der Flaubert’schen Variante uns überliefert ist – mehr denn je ein Kriterium künstlerischer und insbesondere literarischer Arbeit sein muss. Künstler dürfen die Werk-Stilfrage nicht zur persönlichen Life-Syle-Frage verludern lassen. Da liegt eine Falle, in welche all jene hineintappen, die nur noch im Trend liegen wollen mit dem, was sie tun. Was wir als Leser erwarten dürfen, ist nicht, die Welt im Design-Look zu erleben, im zeitfälligen Arrangement, ornamentiert vom Flitterkram der allerneusten Saison. Wir haben die Nase voll von modischer Willfährigkeit, Beliebigkeit, anything-goes Mentalität, Versatzstück-Originalität und endlosen Reihen von disparaten Ergüssen, die so etwas wie die Denk- und Gefühlsart unserer Gegenwart abbilden sollen. Es gibt heute in dutzenden von Büchern die gleiche trostlose Befindlichkeitsprosa anzutreffen, die Verleger und Lektoren offenbar für den authentischen Ausdruck unserer Zeit halten, deren gemeinsames Merkmal aber nur der epidemisch sich verbreitende Stilmangel ist, und das heisst: der Verzicht auf jene Omnipräsenz des gestaltenden Stilwillens, mit dem allein der Inhalt, aber so eben auch jeder Inhalt zu retten ist. Wir wollen unverwechselbare und nicht beliebig austauschbare Stimmen hören. Diese dürfen rau und herb, laut und schrill, sanft und weich sein. Nur konsequent müssen sie sein, erkennbar und glaubwürdig, gerade wenn sie uns mitteilen, dass es das Glaubwürdige und für die Erkenntnis Verlässliche gar nicht gibt. Man kann uns alle Höllen der Welt und des Jenseits zumuten, wenn das Wahrnehmungsorgan für diese Realitäten und Einbildungen durchpulst ist von diesem Willen nach Formung und Gestaltung. Nur vor der Hölle der Beliebigkeit und der Willkür, der Ahnungslosigkeit im Kopf und der Gleichgültigkeit im Herzen soll man uns verschonen. Für disziplinlose Launen, ungezielte Attacken und ungeschickte Anbiederungen ist uns die Zeit zu kostbar. Verschone uns vor Stillosigkeit: diese Fürbitte muss man ins Nachtgebet aufnehmen, damit der folgende Tag weniger verseucht von jenen Dingen ist, die Anspruch auf etwas erheben, was sie selber nie einlösen: nämlich Kunst zu sein, die uns das Leben erhellt, vertieft, verschärft und manchmal sogar erheitert.
Die menschliche Stimme hat aufgrund der Beschaffenheit aller beteiligten Organe eine aussergewöhnliche Eigenprägung. Man kann zwar die Stimme verstellen, man kann sie nachahmen, man kann sie künstlich verändern: austauschbar ist sie dennoch nicht. Keine Stimme ist wie die andere. Jede hat auf den Stimmbändern, im Kehlkopf, im Brustraum, oder weiss der Teufel wo, etwas, das sie unverwechselbar macht. Eine Art Siegel also, oft so ausgeprägt deutlich, dass wir beim ersten Wort und Ton schon erkennen, wer hier spricht oder singt. Auch bei der Lektüre eines Buchs lautet eine der interessantesten Begleitfragen: Wer spricht gerade? Wer sagt dies in so bestimmter oder so zögerlicher Art? Warum diese Helligkeit der Stimme, diese Stärke und Fülle? Warum klingt eine andere Figur rau und ungehobelt? Wo wird Leichtigkeit signalisiert, wo Biegsamkeit? Warum wirkt diese Stelle so einschmeichelnd, die andere so abweisend? Man muss ein Buch auch mit den Ohren lesen, um zu begreifen, was sich darin abspielt. Der Autor hat wunderbare Möglichkeiten, mit den auftretenden Stimmen seine Geschichte zu vertonen. Er muss gar nicht selbst direkt sprechen. Und doch spricht er in gewisser Art und Weise mit, wenn seine Figuren sich äussern. Seine Möglichkeit zu sprechen liegt in der Führung der Stimmen, in ihrer Harmonisierung, in ihrer Kontrastierung. Die Tradition hat oft die Stimme als ein Signum der Seele begriffen. Die Stimme ist der Absichtsträger der Einbildungskraft, des Gefühlsvermögens, aber auch des Zielwillens des Autors. Unvorstellbar, dass über die Stimme sich eine beliebige und zufällige Begleitmusik verströmen sollte. Durch die Stimmenvielfalt wird eine eigenartige Hintergrundautorität hörbar. Es gibt nicht nur Obertöne und Zwischentöne, die das Klangspektrum erweitern. Es gibt auch so etwas wie einen alle Hörbarkeit erst ermöglichenden Klangraum. Dort sitzt der Autor selbst und grundiert durch seine permanente Anwesenheit alles, was hörbar wird. Wenn er oder sie nicht da wären, hörten wir eher Lärm als Musik, eher Geräusche als Mitteilungen. Der Autorin oder des Autors Stimmen- und Klangregie ist das, was dem Text den einmaligen und unverwechselbaren Charakter verschafft.
Da müssen wir wieder hinkommen. Die Unterscheidung zwischen Kunst und schreibender Liebhaberei fällt hier. Schriftstellerischer Ehrgeiz ist jedenfalls nicht genug. Die Reproduktion der Undurchschaubarkeit unserer Gegenwart ist kein künstlerisch befriedigendes Programm.  Die Beherrschung des Spiels um die kurzfristige Aufmerksamkeit ebenso wenig. Wir müssen auch an den literarischen Texten der Gegenwart die Siegelprobe machen. Texte, die diese nicht bestehen, soll man weder verbieten noch verbrennen. Man soll sie aber nicht für Kunst halten, sondern für das, was sie sind: Weltabschreibübungen der unergiebigen Art. Etüden zur Selbstfindung bestenfalls, Trainingsskizzen von Lehrlingen im Blick auf höhere Ambitionen und Weihen. Seien wir streng in der Gabe der Unterscheidung. Lassen wir zwar jeden schreiben, was er will und wie sie will. Aber sorgen wir dafür, dass wir unsere Zeit nicht mit Gedankenmüll und Wortabfall vertun. Es geht um Lärm oder um Musik. Neuen Lärm braucht kein Mensch, er macht uns nur taub. Neue Musik aber brauchen wir, um wach und hellhörig zu bleiben für neue Welten. Wo kein Stilwille ist, entsteht keine neue Welt. Auf die schiere Reproduktion der bestehenden können wir verzichten.
Ich wünsche allen Teilnehmern an den diesjährigen Tagen der Literatur die Entdeckung vieler Siegel und damit die Begegnung mit Texten, die einmalig und unaustauschbar sind und die allein das befördern, was das Glück der Lesenden ausmacht: das Erlebnis des frischen Blicks auf unser Leben.