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Paul Brodowsky
Aufnahme
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Wie schlafend. Gestern Abend, oder war es vorgestern oder einer der anderen Abende, gestern Abend, seit Tagen fahre ich und versuche alles zusammenzubringen, konzentrier dich, sagte sie, über mir muss die Kreuzung sein, über die sie gelaufen ist, die ausgestorbene Straße entlang, das Geräusch ihrer Schritte zwischen den Häuserwänden, die überfrorenen Pfützen, sie schrie kurz auf, einen Moment lang ein hilfesuchender, beinahe verzweifelter Ausdruck in ihrem Gesicht, ich war ihr aus der Bar gefolgt, trotz allem, sie hatte sich umgeschaut, aber mich nicht gesehen, ihr grauer, selbstgenähter Rock auf dem weiß gesplitterten Eis, als schließlich ein Taxi anhielt, ging ich über die Straße, winkte den aussteigenden Taxifahrer mit einer Handbewegung zurück auf seinen Fahrersitz, ich half ihr aufzustehen, auf der Rückbank küssten wir uns wieder, im Taxi, wie in der ersten Nacht, die Leuchtreklamen hinter dem Fenster, geschwindigkeitsverzogen, der feine Maronengeruch ihrer Haare, in ihrer Wohnung der bröckelnde Deckenputz, die Neonröhren, Stoffreste, die mit Schablonen an die Wände gesprühten Abzeichen und Sprüche, dazwischen Fotos, großformatige Abzüge, aufgepinnt mit Stecknadeln, die noch vom letzten Regen dastehenden Blumenvasen gegen das eindringende Wasser, auf der Tischplatte Acrylfarben, weitere Fotoabzüge, eine Nähmaschine, Chemikalienflaschen, eine Schale mit Obst, zwei schimmelnde Zitronen, das Knistern der Zigaretten auf dem Dach, das Bahnareal, die Weichen, die sich knäuelnden Schienenstränge, ihre um die Augen leicht knitterige Haut.
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Vergiss den schwach beleuchteten Club nicht, bei dem man klingeln muss um eingelassen zu werden, du erinnerst dich, der Club, in dem wir diese dunkelhaarige Frau getroffen haben, die Frau mit den zwei Muttermalen unter dem linken Schlüsselbein, obwohl, sagte sie, die hast du ja nie zu Gesicht bekommen, vergiss nicht die japanischen Nudelsuppen, sagte sie, erzähl mir, wie sie aussehen, mit dem rauen, tiefschwarzen Nori vor den hellen, beinahe hautfarbenen Nudeln, vergiss nicht die verzweigten Subwaystationen, die Tunnelsysteme, die Abfahrt auf der steilen Rolltreppe an der Station vor dem Fluss, die unzähligen Tesafilmfetzen der an die Decke geklebten und wieder abgerissenen Plakate, die Mäuse zwischen den Gleisen, ich will, sagte sie und erschauerte leicht, ich will wissen, wohin die Mäuse verschwinden, zwischen den Batterien, den Getränkedosen und Kondomen, ob sie auf den Bahnsteig kommen, spät nachts, vergiss nicht nach Chinatown zu fahren, der Glühbirnenhändler, der mit seinen Goldzähnen vor dem Laden steht und auf Kundschaft wartet, aber Glühbirnen brauchst du mir keine mitzubringen, sagte sie, vergiss den Club nicht, den ich dir gezeigt habe, ich möchte, dass du noch mal hingehst, alleine oder mit einem Freund, den Club, in dem die Besucherinnen sich ausziehen, sag mir, ob die mit den wasserstoffblonden Strähnen noch hinter der Bar arbeitet, die immer alle anfeuert und die Eindollarnoten für die Stripperinnen einsammelt, zur Not auch mal selber einspringt und eine Runde auf der Theke tanzt, erzähl mir, wie die Barfrau den Stripperinnen zur Ermunterung Whiskey in den Mund und über das Gesicht spuckt, ob die Frauen sich hastig ausziehen, während die Männer johlen und dabei unauffällig den Kopf recken, um einen besseren Blick zu erhaschen, sich gegenseitig Kommentare zuraunen und kurz schimpfen, wenn eine Frau zu früh wieder von der Theke springt, wie die Frauen, die oben durchhalten, verschämt, wie probehalber ihre Brüste in die Luft strecken, vergiss nicht die Reihe der Ampeln, die aufgehängten, leicht schwankenden Rotgrünfolgen im Nachthimmel, vergiss nicht, das scharfe Brennen von chinesischem Reisschnaps zu kosten, vergiss nicht, noch einmal in diese andere Bar zu gehen, in der wir uns das erste Mal getroffen haben, der hohe, mit hellem Holz ausgekleidete Raum mit den schrägen Wänden, die wie verdrehte, aufgebogene Quader aussehen, du sollst warten, bis eine kommt, du sollst mir beschreiben, wie sie aussieht, wie sie dich anlacht, ob sie sich auch auf den Hocker neben dich setzt, ob du sie ansprichst oder sie mit dir ein Gespräch anfängt, erzähl mir, wie sie dich berührt, beiläufig, wenn sie ihr Glas abstellt, sagte sie, erzähl mir, ob sie sich wie verträumt mit einer Hand durch die Haare fährt, den Ellenbogen abgespreizt, oder ob sie beim Lachen den Kopf zurückwirft, die helle Haut ihrer Kehle, das Kribbeln, das du empfindest, wenn sie eine Hand auf deinen Oberschenkel legt und dir dabei in die Augen sieht, lange, merk dir ihre Augenfarbe, blau oder grau oder grün, die kleinen Falten um die Augen, ob sie geschminkt ist, Maskara oder ein schwungvoll auslaufender Lidstrich, und wenn ihr euch ein zweites Mal in die Augen seht, verpass den richtigen Moment nicht, stell dich geschickter an als damals, nicht zögern wie bei mir, schließlich soll sie sich nicht in dich verlieben, ich will nur wissen, wie sie küsst, ob zart, mit weichen Lippen oder drängend. Wenn ihr dann zu ihr fahrt, sagte sie, nehmt ihr ein Taxi, genauso wie wir, du sollst mir das Gefühl beschreiben, das Gefühl in dem Moment, wenn ihr dem Fahrer schon erklärt habt, wo es hingehen soll und ihr allein seid auf der Rückbank, und ihr wisst, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt und ihr beide schweigt, leicht erschrocken über die Schnelligkeit, mit der ihr da hineingeraten seid. Gestern bin ich in der Subway eingeschlafen, als ich aufwachte, waren außer mir nur zwei Obdachlose im Wagen, irgendwann wachte einer von ihnen auf, grauhaarig, abgemagert, als er den Kopf zu mir drehte, sah ich seine milchweißen Augen, er war blind, er stand auf, tastete sich vorwärts, trat auf die kleine Plattform zwischen den Waggons, um von dort auf die Gleise zu pinkeln. Merk dir, wie ihre Wohnung eingerichtet ist, ob sie in einem Doorman-Building wohnt, was man in ihrer Wohnung beim Blick aus dem Fenster sieht, was für Gewürze in der Küche stehen, ich will, sagte sie, dass du dir ihren Körper einprägst, wie sich die Haut ihrer Beine anfühlt, ob sie auch ihr Oberteil über den Kopf zieht, oder ob du es ihr aufknöpfen musst, die weichen, kaum sichtbaren Falten zwischen Hals und Schlüsselbein, wie ihr Körper nackt aussieht, ungeschönt durch die Kleidung. Konzentrier dich, sagte sie, deine Bilder, du sollst sie mir beschreiben, ich will alle deine Eindrücke, sagte sie, möglichst genau. Ihr heller Hals, wie sie den Kopf in den Nacken warf beim Lachen, immer wollte ich in diesen Hals hineinbeißen, mit aller Kraft, irgendwann in dem Taxi hörten wir auf uns zu küssen, fuhren schweigend durch die Stadt, was siehst du, sagte sie, ich will wissen, was du siehst. Denk daran Taxi zu fahren, die weiche Federung, sagte sie, der Geruch, denk daran in dieses verlassene Fotostudio zu gehen, Hinterhof, die vergilbten Wände, Staub auf den stehengelassenen Strahlern, den Aluminiumstativen, ich sehe Büsche, ein graues Eichhörnchen, sagte ich ihr, präziser, sagte sie, so habe ich keine Bilder. Ich ging und ließ sie in der Bar, kurz vor der Subwaystation drehte ich um und lief zurück, sie saß noch immer an der Theke, sie saß alleine, die Bar war fast leer, der Drink beinahe ausgetrunken, ach, sagte sie, du möchtest also noch mehr von mir sehen, sie lachte. Sie rutschte von ihrem Barhocker herunter und blieb eine Handbreit vor mir stehen, jetzt küsste ich sie, ich schloss die Augen, als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass sie mich die ganze Zeit über beobachtet hatte, was ist los, fragte sie, du zögerst, sagte sie, du schaust mich ja an, sagte ich, natürlich, sagte sie, was denn sonst? Irgendwann gestern Nacht bin ich an einer leeren Station ausgestiegen, Kalkablagerungen, Rost von eindringendem Wasser auf den Wandkacheln, dem Fußboden, ein halbes Dutzend Mäuse auf dem Beton, als ich zu der Wartebank in der Mitte des Bahnsteigs ging, liefen sie alle zur Bahnsteigkante und verschwanden zwischen den Gleisen, nur eine Maus blieb zurück, sie lief immer im Kreis über schwarzgetretene Kaugummis und ein Bodengitter hinweg, als ich mich zu ihr herunterbückte sah ich, dass ihr ein Stück vom Schwanz fehlte, von einer der Bahnen angefahren vermutlich, eines der Augen frisch verschorft, sie reagierte nicht, als ich sie mit dem Schuh berührte, lief nur weiter im Kreis. Nimm die Frau auch mit zum Strand am Morgen danach, sagte sie, die Fahrt durchs Häusermeer, die Subway größtenteils oberirdisch auf dieser Strecke, der Morgennebel, es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, sagte sie, der Strand ausgestorben um diese Jahreszeit, zumindest wenn keine Sonne scheint, der Flugsand auf der Honigmelone, den Oliven, schau ob die Lifeguards wieder da sind, ob sie wieder wie letztes Jahr schlafen vor Langeweile, eingehüllt in ihren knallorangen Jacken, du sollst die Frau zum Schwimmen überreden, trotz der Kälte, so wie mich damals, erzähl mir, ob sie sich wie beiläufig ihr helles T-Shirt über das noch nasse Bikinioberteil zieht, um beides am Körper trocknen zu lassen, schau, ob ihr auch Fotos findet zwischen den vom Wind zerstreuten Plastikflaschen, den Orangen und Glühbirnen, Fotos mit euch unbekannten Menschen darauf, die sofort eine Geschichte suggerieren, Menschen mit einem gefrorenen Lächeln, einem abwesenden Blick oder wie mit offenen Augen schlafend. Also noch mal, sagte sie in dem Taxi, als wir die lange Straße am Park entlangfuhren, was siehst du jetzt, fragte sie, Hochhäuser sagte ich, hohe Wohnhäuser, sagte ich, so kann ich mir nichts vorstellen, sagte sie, hier neben uns zum Beispiel drei Sandsteintürme, genau baugleich, sagte ich, hinter einigen Fenstern brennt noch Licht, schwach gelbes Glühlicht, das bläuliche Flackern von Fernsehern, die Türme sind unten breiter und verjüngen sich treppenförmig, wie was, fragte sie, wie diese Sandburgen, die man als Kind gebaut hat, aus feuchten Sandtropfen, gut, sagte sie, geht doch. Bevor wir einschliefen, ging sie ins Bad, im Dunkeln, ich dachte, sie gehört zu den Frauen, die immer noch einmal ins Bad gehen, bevor sie einschlafen können, aber es war wegen ihrer Kontaktlinsen, bis zum Schluss weigerte sie sich, eine Brille zu tragen, als sie zurückkam, machte sie kein Licht, tastete sich zum Bett. Ich versuche zusammenzubringen, was passiert ist, konzentrier dich, sagte sie, seit gestern oder seit vorgestern fahre ich Subway, ununterbrochen, ich bin nicht in der Lage zurückzugehen zu ihrem Appartement, vielleicht hätte ich die Zeichen wahrnehmen können, aber sie hat nichts preisgegeben, mich nicht eingeweiht in ihre Pläne, vielleicht, weil man in solche Pläne niemanden einweihen kann. Als ich das zweite Mal bei ihr war, zeigte sie mir ihre Fotos, sie arbeitete an verschiedenen Projekten gleichzeitig, Geld verdiente sie vor allem mit Aufnahmen von Essen für Stadtmagazine und Nobelrestaurants, vor einiger Zeit hatte sie einen Zyklus mit Aktfotografien begonnen, sie hatte dafür Freundinnen gefragt, Frauen in Bars und Clubs angesprochen, die Frauen waren auf den Bildern geschminkt, die nackten Oberkörper und die Gesichter mit einer zarten Schicht Grundierung und Puder überzogen, Wimpern, Lippen und Brüste in dem gleichen, hellen Ton, die Körper erschienen glatt, wächsern, beinahe unlebendig; zugleich schauten alle direkt in die Kamera und immer war etwas aus der fast graubeigen Maske hervorgehoben, glänzende, kirschrote Lippen, überlange Maskarawimpern, einige der Frauen trugen Piercings, andere standen in leeren Zimmern, die Fußböden voller Reißzwecken oder Holzsplitter. Beschreib mir den Schnee, sagte sie, weiß, sagte ich, nein wirklich, sagte sie, also gut, sagte ich, ein strahlendes Weiß, wo der Schnee unberührt ist, haben sich über Nacht hauchdünne Eisplättchen aufgerichtet, wie papierdünne Scherben oder wie Klingen, der Schnee überdeckt alles, die Hydranten, die Müllsäcke wirken wie Pilze, die weiß aus dem weißen Boden geschossen sind; auf der Straße ist der Schnee zerfahren, grauschwarz, angetaut von den Salzen, mit Dreck versetzt, dazwischen die gelben, schon wieder gefrorenen Urinspuren der Hunde, der nächtlichen Betrunkenen. Ich fragte sie nach den Bildern an ihrer Wand, ein Mann, eine Frau und zwei Kinder in grauen, aus unzähligen Stoffstücken zusammengenähten Hemden, alle vier lagen sie einzeln mit geschlossenen Augen auf dem Boden, wie schlafend, von den Hemden wie von Decken umhüllt, das Gewand der Frau endete wie ein Kleid in einer Spitzenborte, sie erklärte mir, das seien ihre neuesten Arbeiten, die Hemden habe sie selber genäht, sie wolle mir aber nichts weiter dazu verraten, bevor der Zyklus fertig sei. Oft gingen wir nachts spazieren, sie schloss die Augen, und ich musste sie durch die Straßen führen, sie vor Kantsteinen und Hydranten warnen, zunächst ging sie zögerlich, sie drückte sich dabei dicht an mich, eine Hand schützend vor ihrem Bauch, dann gewann sie zunehmend an Vertrauen, lief halbe Stunden lang so an meiner Seite und ließ mich beschreiben, was mir in den Blick kam, den Schattenriss einer Frau beim Abspülen auf dem heruntergelassenen Rollo im sechsten Stock, die hochgestelzten, spitzkegeligen Wassertanks auf den Dächern, ein Obdachloser in Plastiktüten gewickelt mit einem Einkaufswagen voller Stofftiere, was für Tiere, fragte sie, zwei pinke Plüschhasen, sagte ich, ein Elefant, ein Hund, zwei unförmige Mangafiguren mit aufgedruckten Riesenaugen, siehst du einen Maulwurf, fragte sie, nein, sagte ich, ein Maulwurf ist nicht dabei, deinen Maulwurf musst du dir schon selbst erfinden, wenn du unbedingt einen brauchst, ich mag Maulwürfe nun mal gerne, aber ich komme auch gut ohne Maulwurf aus, sagte sie und kniff mir in den Rücken, außerdem sind Maulwürfe überhaupt nicht blind, sagte sie, das ist ein Märchen. An einem Abend zeigte sie mir einen Club im zweiten Stock eines unscheinbaren Reihenhauses, auf halber Treppe eine Gittertür, man musste klingeln, warten bis ein Türsummer ging, oben wurden wir gefragt, wen wir treffen wollten, Carlos, sagte sie, der Raum war langgestreckt, niedrige Decke und keine Fenster, ein DJ spielte Merengueplatten, wir setzten uns an eines der Tischchen, ich holte uns zwei Drinks, an der Bar saß eine Frau, die mir vage bekannt vorkam, sie saß dort alleine, sie war schmal, beinahe hager, dunkelbraune Haare, ihre Arme waren sehnig, ich konnte die Muskeln erkennen, lange Fingernägel, wir schauten uns kurz an, dann bekam ich die Getränke, ich ging zurück zu unserem Platz, ich spürte den Blick der Dunkelhaarigen in meinem Nacken, plötzlich rief sie quer durch den Raum, Ella, rief sie, du bist das, ich kannte die Frau von einem der Aktfotos, ich hatte sie nicht wiederkannt, sie trug jetzt ein schwarzes, hochgeschlossenes Oberteil und kein Nasenpiercing, sie kam zu unserem Tisch, stellte sich mir beiläufig vor, die Fotosession war ein knappes Jahr her, der Kontakt zwischen den beiden war wenig später eingeschlafen, jetzt unterhielten sie sich in kurzen, mir unverständlichen Sätzen, ich kam mir unwichtig vor daneben, ich erklärte, ich würde eine Runde spazieren gehen, stand auf und verließ die Bar, lief zwei Mal um den Block, dann wurde es mir zu kalt, als ich die Treppe hoch kam, sah ich, wie die beiden sich anschauten, sie redeten nicht mehr, sie hielten sich an den Händen, plötzlich beugte die Dunkelhaarige sich vor und küsste sie, dann bemerkte ich, dass die Dunkelhaarige ihr mit einem Fingernagel über die Haut am Handgelenk fuhr, in der Nähe der Pulsadern, nach einigen Sekunden bemerkten die beiden Frauen mich, die Dunkelhaarige rückte von ihr ab, lächelte sie an, strich ihr mit einer Hand über die Wange, stand auf und ging an mir vorbei, ohne mich anzuschauen, sie hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, traurig, und doch schien sie zu lächeln, sie verließ die Bar. Inzwischen wurde geraucht, trotz der No Smoking-Schilder, als ich zurück an unseren Tisch kam, stand sie auf, sie drückte eine Serviette gegen ihr linkes Handgelenk, entschuldige, sagte sie, ich hatte nicht so schnell wieder mit dir gerechnet, das war nur eine Freundin, nichts Ernstes, sagte sie, ich wollte dich nicht verletzen. Irgendwann sagte sie beiläufig, dass sie die Etiketten auf den Flaschen in der Dunkelkammer nicht mehr entziffern könne, auch das Gelb und das Blau der Verschlusskappen könne sie nicht mehr unterscheiden, sie sagte, sie würde Entwickler und Fixierlösung am unterschiedlichen Geruch auseinanderhalten. Am Thanksgiving Day führte ich sie von ihrer Wohnung aus zur Subwaystation, nachmittags hatte es geregnet, das Wasser stand in Pfützen, wir fuhren mit der Bahn unter dem Fluss durch in die Stadt, als wir aus dem Schacht kamen, waren die Pfützen plötzlich überfroren, der Himmel war klar, sie hatte die Augen, seit wir ihre Wohnung verlassen hatten, nicht geöffnet, die Stadt wirkte wie ausgestorben, die ersten Bars, die wir aufsuchten, waren geschlossen oder machten gerade zu, wir liefen in dem eisigen Wind rasch weiter, sie rutschte auf einer Eisfläche beinahe aus und schrie auf, fast verbittert, pass doch auf, sagte sie und ließ mich los, sie hatte die Augen offen, ging jetzt alleine, zwei mal musste ich sie an einem Subwayeingang vorbeimanövrieren, ich legte den Arm um ihre Taille, zog sie sanft in meine Richtung, schließlich fanden wir eine Bar, die noch geöffnet hatte, sie tastete sich zwischen den dichtgedrängten Menschen durch, ich besorgte uns zwei Drinks, was sind das für Leute, fragte sie, wie sehen sie aus, angetrunken, sagte ich, fast alle haben so einen leicht entrückten, glasigen Blick, der Mann am Billardtisch trägt einen Rauschebart und eine Thriftstorehose, drüben sitzt ein Fünfzigjähriger in einer Kutte aus Lodenstoff, die grauen Haare mit einem Lederband zurückgebunden, vorne ein schlaksiger Junge mit einer weichen, tänzelnden Gestik, schlohweiße Jeans und endlos lange Wimpern, und die Frauen hier, sagte ich, da rechts eine in engen, dunkelblauen Jeans, rote, lange Haare, Pony, auf ihrem Rücken verteilt ein halbes Dutzend Muttermale, vor der Toilette sitzt eine mit schwarzgefärbten Haaren, verwischtes Make-up, tiefer Ausschnitt, oben ein schwarzer Riemen, der das Oberteil zusammenhält, sie hat nichts darunter an, bleiche Haut, danke, unterbrach sie mich, ich kann schon selber kucken, sagte sie, ganz blind bin ich nicht, und wenn du so scharf auf die Schwarzhaarige bist, geh doch hin und frag sie, ob sie dich nicht mitnimmt auf die Toilette, sagte sie, stand auf und ging aus der Bar. Einige Wochen später liefen wir nach einer Party in der Morgendämmerung durch einen ausgestorbenen Park, Nebel über den Wiesen, irgendwann blieb ich stehen, da vorne, sagte ich, ein Fuchs, und zeigte in den Nebel, das ist doch ein Hund, sagte sie, Vorsicht, sei still, sagte ich, sonst läuft er weg, natürlich ein Fuchs, sagte ich, du siehst ihn nicht richtig, sie drückte sich an mich, das ist mir unheimlich, hier mitten in der Stadt, sagte sie, Tiere sind mir unheimlich, ich schob sie von mir weg, willst du nicht ein Foto machen, sagte ich, jetzt sehe ich ihn nicht mehr, wo ist er denn jetzt, sagte sie, da vorne, sagte ich und holte ihre Kamera aus der Tasche, siehst du nicht, er scheint irgendwas zu fressen, einen Hasen, einen toten Vogel vielleicht, sie nahm die Kamera und schaute hindurch, sie zog die Augenbrauen zusammen, konzentrierte sich, drückte zwei mal auf den Auslöser, dann drehte sie sich um und fasste mir ins Gesicht, du lachst ja, sagte sie, als ich schwieg, schlug sie auf mich ein, mit beiden Händen, ich hielt sie bei den Handgelenken fest, fass mich nicht an, sagte sie, wieso, sagte ich, die Richtung hat doch gestimmt, das hast du doch gut gemacht. Seit dem Morgen im Park wirkte sie verändert, sie aß kaum noch, schickte mich los, ohne mir konkrete Anweisungen zu geben, sie nähte jetzt viel, stundenlang saß sie an der Maschine, als sie einige Zeit später mit der bloßen Hand in die Fixierlösung fasste, hörte sie mit dem Entwickeln ganz auf, sie weigerte sich, mich oder jemand anders mit in die Dunkelkammer zu nehmen, du kannst mir da nicht helfen, sagte sie und lächelte, beinahe spöttisch, eine blinde Fotografin, sagte sie, jetzt musste sie lachen, eine blinde Fotografin lebt ohnehin in einer Dunkelkammer. Eines Morgens lag eine blaue Mappe auf ihrem Arbeitstisch, sie war gerade unter der Dusche, mehr zufällig öffnete ich die Mappe und fand eine Serie mit Selbstportraits, Aktfotografien, das erste Bild zeigte sie von hinten vor einem Spiegel, in schwarzweiß, im Vordergrund ihr Rücken, sie hielt einen Arm vor die Brust, sie hatte die Augen geschlossen, ihr Gesichtsausdruck wirkte aufmerksam, als würde sie den Betrachter durch die geschlossenen Lider hindurch im Spiegel anschauen, auf einem zweiten Bild lag sie auf einer Bergwiese, frisch gemähtes Heu, wieder hatte sie die Augen geschlossen, aber ihr Gesichtsausdruck war anders, seltsam leblos, wie schlafend, der Körper komplett erschlafft, auf einem dritten Bild erkannte ich sie kaum wieder, das Bild zeigte ihren Oberkörper, die Haut hellbeige, wie ich das von ihren Aktfotografien kannte, perfekt geschminkt, dünner Lidstrich, am unteren Bildrand konnte man erkennen, dass sie eine Jeans trug, in der rechten Hand hielt sie eine Rasierklinge, auf dem linken Oberarm war ein handbreiter, feiner Schnitt zu sehen, der gerade erst begonnen hatte, sich mit Blut zu füllen, sie schaute direkt in die Kamera, herausfordernd, beinahe glücklich, ich starrte eine Weile auf das Bild, plötzlich stand sie hinter mir, was machst du da, sagte sie, ich erschrak, sie nahm mir die Mappe aus der Hand, diese Bilder gehen dich nichts an, sagte sie leise, ich lese ja auch nicht in deinem Tagebuch, wollen wir spazieren gehen, sagte ich, ich legte einen Arm um ihre Taille, lass mich los, sagte sie, verschwinde, sagte sie, ich will dich nie wieder sehen, dann lachte sie plötzlich auf, ein helles Lachen, das ich so noch nie an ihr gehört hatte, hast du getrunken, fragte ich, sie antwortete nicht, sie drehte sich um und setzte sich an ihre Nähmaschine. Als ich sie das nächste Mal besuchte, brachte ich ihr einen Strauß weißer Lilien mit, sie roch daran, Lilien, sagte sie, gute Idee, sie stellte die Blumen in eine Vase mit Regenwasser, gestern Nacht kam ich in eine Station, die gerade gesäubert wurde, eine Handvoll Männer und Frauen liefen in Gummistiefeln durch Schaumberge und Wasserlachen, spritzten alle Flächen mit Hochdruckreinigern ab, die rotweiß gekachelten Säulen und Wände, den grauschwarzen Fußboden, Wasser, Schaum und Dreck ließen sie auf die Gleise rinnen, eine Frau ging vor den Schaumbergen her und bemühte sich, mit einem langstieligen Schaber die schwarzen, festgetretenen Kaugummis vom Boden abzulösen, auf den nassen, gereinigten Abschnitten des Bahnsteigs standen spiegelnde Wasserpfützen, der Beton glänzte, aber unter dem Wasser konnte man sehen, dass der Bahnsteig noch immer die gleiche, schmutziggraue Farbe hatte, der Dreck tief in den Poren saß. Genäht hat sie immer weiter, auch als sie nichts mehr sehen konnte, wenn ich ihr den Faden eingespannt hatte, strich sie mir wie zur Belohnung über die Wange und schickte mich dann aus dem Zimmer, sie bestand darauf, dass ich sie beim Nähen alleine ließ, oft hörte ich abends, wenn ich in ihre Wohnung kam, das Rattern der Maschine, einmal hatte sie sich mit drei Stichen in die Haut ihres Fingers genäht, als ich nach Hause kam, fand ich sie an der Maschine, vorgebeugt, sie war eingeschlafen, sie sah friedlich aus, wie ein Kind, die Gesichtszüge weich, die Fingerkuppe mit einem Stück Wildleder vernäht. Sie wollte mir nicht erzählen, was sie nähte, ich musste ihr nur die Stoffe zurechtlegen, dünnes Leinen, Wildleder, graue Spitze, manchmal saß sie abends an ihrem Arbeitstisch und trank Wodka, kippte mehrere Wassergläser voll in sich hinein, ich versuchte sie davon abzubringen, aber sie redete kaum mehr mit mir, sie schlief wenig, setzte sich nach dem Frühstück wieder an die Nähmaschine, dann war sie an einem Morgen plötzlich ausgeschlafen, sie sah besser aus als sonst, sie saß am Tisch, sie hatte die Farben und Fotos weggeräumt, die Nähmaschine beiseite gepackt, sie hatte Frühstück gemacht und Croissants geholt, es war das erste mal seit Wochen, dass sie rausgegangen war, vor ihr eine Tasse Kaffee, sie sagte, sie sei jetzt mit dem Nähen fast fertig, zeigst du mir, was du genäht hast, fragte ich, natürlich, sagte sie, sie lächelte, aber vorher sollst du noch einmal zu den Galerien gehen, zu so vielen bis dir schlecht wird, und dann sollst du mir davon berichten, sagte sie, die überbunten Farben der Blumen vor den Delis, sagte sie, das Pink, das Minzgrün der Cupcakes, ein verbotenes Dosenbier auf der Straße trinken, sagte sie, die hellen Bagels, die übergroßen Brezeln, sagte sie, das Gefühl, Haut aufzureißen, wenn du hinein beißt, das sollst du mir beschreiben, sagte sie, wie sehe ich aus, fragte sie mich an diesem Morgen. Wie schlafend. Du musst mir sagen, wie ich aussehe, du bist mein Spiegel, sagte sie, du bist dünn geworden, sagte ich, dünn, dünn, sagte sie, dein Schlüsselbein tritt hervor, deine Taille ist noch schmaler als früher, man erkennt die Sehnen an deinem Hals, mein Gesicht, sagte sie, deine hohen Wangenknochen, die etwas große, sehr gerade Nase, dein immer zerlegenes, beinahe struppiges, dunkelblondes Haar, die Haut um deine Augen ist faltig, fast knittrig, als ich von der Galerietour zurückkam, ich hatte Kopfschmerzen, ich hatte stundenlang Kunstwerke angeschaut, versucht, mir alles zu merken, ich konnte ihr von dreißig Ausstellungen erzählen, von den mit schwarzer Kohle gezeichneten, vogelartigen Kindern, von den meterlangen Kastenlandschaften, komplett mit Spiegeln überzogen, glasgrün, merkwürdige Einblicke, Durchblicke zu Blumen, zu kleinen Figuren, von den Portraits aus einem Leichenschauhaus, den ausdruckslosen, ruhigen Gesichtern, als ich zurückkam, hatte sie Stoffbahnen aufgehängt, quer durch das meterhohe Atelier, gestern Morgen sehr früh fuhr die Subway plötzlich aus dem Tunnel heraus, ein oberirdischer Streckenabschnitt, das durch die Scheiben hereindrängende Tageslicht, ich stieg aus, die um diese Zeit noch wie ausgestorbene Häuserschlucht, ein fliegender Händler, hinter den zerkratzten, matten Scheiben seines Wagens stapelten sich Plastikflaschen mit Eistee, Styroporbecher, Pumpernickelbagels, grauviolette Blueberrybagels, der Händler wärmte gerade eine Handvoll übergroßer Brezeln auf, der Geruch von verbranntem Salz, bei dem Anblick der Brezeln musste ich plötzlich an ihren Hals denken, mir wurde übel, ich musste mich setzen. Als ich zurückkam, war es draußen schon dunkel, ich rief ihr von der Treppe etwas zur Begrüßung zu, aber sie antwortete nicht, vielleicht schläft sie, dachte ich, als ich nach oben kam, konnte ich in dem Halbdunkel sehen, dass sie Stoffbahnen aufgehängt hatte, quer durch den meterhohen Raum, ich fragte mich, wie sie das geschafft hatte, einmal, als ich bei ihr geschlafen hatte, weckte sie mich früh morgens, es hatte nachts gewittert, der Keller war überschwemmt, kniehoch stand das Wasser, sie war auf dem Weg zum Bad die Stufen herunter direkt in das Wasser hineingelaufen, dann erst hatte sie begriffen, was passiert war, als ich von der Galerietour zurückkam, war im Haus nichts zu hören, sonst hatte ich sie in den letzten Tagen oft nähen gehört, schon beim Hereinkommen das Rattern der Maschine, aber jetzt lag eine merkwürdige Stille über dem Haus, ich hatte eine Lilie für sie dabei, nachdem ich ihr den Strauß gebracht hatte, hatte sie sich gewünscht, dass ich ihr weiter Lilien mitbringe, täglich eine, obwohl sie sie nicht mehr selber sehen konnte, sie stellte sie nebeneinander auf das Fensterbrett, ich musste sie ihr beschreiben, alle der Reihe nach, die noch geschlossenen, zartgrünen Knospen, die sich gerade öffnenden, die Blüten in voller Pracht, die schneeweißen, die rosaviolett eingefärbten Blütenblätter, Stempel und Staubgefäße beinahe wie Fremdkörper im Zentrum, die sich immer weiter zurückbeugenden Blütenblätter, die plötzlich begannen, braun, dann grau zu werden, das trübe Wasser in den Glasvasen, die rostfarbenen Staubgefäße, die heruntergefallenen Blätter, wenn nur noch der Stempel übrig war, ich durfte die abgeblühten Lilien nicht fortwerfen, nach zwei Wochen holte sie eine Kamera und ein Stativ und fotografierte die Blumen, jede einzeln, sie fühlte vorsichtig nach dem Stiel, der Blüte und der Wand dahinter und wählte den Ausschnitt intuitiv, ich musste für sie scharf stellen, sie sagte, sie interessiere sich für die Verfallsstadien, als ich zurückkam, gestern Abend, oder es war vorgestern, war es still im Haus, ich rief nach ihr, beinahe fröhlich, wenn auch etwas müde von meiner Galerietour, aber ich bekam keine Antwort, draußen war es dunkel, ich ging nach oben ins Atelier und rief noch einmal nach ihr, leiser, etwas war anders, sie hatte Stoffbahnen quer durch den Raum gehängt, von der Decke bis hinunter zum Boden, eine riesige Leinwand, ich rief nach ihr, und wieder bekam ich keine Antwort, meine Stimme klang dumpf in dem Raum, wie verschluckt, komplette Stille bis auf das regelmäßige Tropfen des Wasserhahns aus dem Bad, plötzlich überkam mich eine Vorahnung, ich hätte umdrehen sollen, gehen, schon vor Wochen hätte ich umdrehen sollen und gehen, jetzt war es zu spät, ich stand vor den Stoffbahnen, ich war eingenäht in ihre Geschichte, ich wusste nicht, ich schaltete das Licht ein, die Neonröhren, ich schaltete das Licht ein und sofort, wie in einem Reflex, schaltete ich das Licht wieder aus, das Bild auslöschen, den Schattenriss verschwinden lassen, die Erinnerung an das Bild tilgen, einen Moment lang dachte ich, hoffte ich, ohne wirklich daran zu glauben, alles sei ein Trick, ein böses Schattenkabinett, ich riss die Stoffbahnen herunter, das Seil, ihr heller Hals, sie hatte ein graues Hemd an, Leinen und Spitze, ihre etwas großen, beinahe kantigen Zehen eine Handbreit über dem Boden, links an der Wand ihre Kamera auf einem Stativ, der lange Drahtauslöser war ihr aus der Hand gerutscht, das aus vielen Stücken zusammengenähte Hemd umhüllte ihren Körper wie eine Decke, ihr Kopf lag schief, zur Seite gekippt, die Augen geschlossen, wie schlafend.
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