Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Thomas Melle, Autor (Bild: Johannes Puch)
Thomas Melle
Nachtschwimmen
1

Die ästhetische Erfahrung eines Swimmingpools konnte mich schon immer begeistern. Das krasse Türkis, das mein Auge, kaum klebt es fest, mit seiner grellen Patina überzieht, zeitrafferschnell, Neon rostet auf der Hornhaut; die Rhythmen der Kachelmuster, die vom Grund des Pools heraufstrahlen und an der Wasseroberfläche hängen bleiben, dort in Schauder verfallen, so wie der Wind weht; das Wasser, welches das herumliegende Morgenlicht in sich versammelt und gemäß einem mächtigen Gesetz gleichmäßig verteilt; die Luft über diesem Wasser, die feucht ist und stillsteht und innerlich vibriert, hochschwanger mit überhitzten Teilchen, die sich niemals entladen werden; und der Schall, der im Bauch des Pools begraben liegt und nur wach wird, wenn ein eingecremter Körper die Wassermassen durchschneidet. Dann rumort es kurz im Innern des Pools, dort wo der Körper seine Blasen und Wirbel, seinen feuchten Lärm abwirft; und an anderer Stelle breitet sich ein umso dichteres Schweigen aus.
Mein Auge kann dieses Schweigen nicht sehen. Mein Ohr kann es nicht hören. Ich würde dieses Schweigen am Boden des Pools gerne hören oder sehen. Ich kann es nicht. Wenn ich hinuntertauche, bin ich selber ein Körper, der das Schweigen verscheucht. Ich kann nicht im Schweigen sein.
Ernst Grandits (Moderator), Thomas Melle, Autor (Bild: Johannes Puch)
Es war Sommer, der heißeste Sommer seit Jahren vielleicht. Es war Sommer, die Sonne knallte, Freizeit in Brilon, waldüberbogen, nichts zu holen, nichts zu tun. Ich lernte Russischvokabeln und langweilte mich. Wochen schon war ich hier und lernte Russischvokabeln und langweilte mich. Die russische Denkweise wollte mir nicht in den Kopf, die Aspektpaare, die Präfigierung, die Verben der Bewegung. Für jedes Gehen, ob hin-und-her, hin-und-zurück oder hurtig-im-Kreis gab es ein eigenes Verb, vollendet oder unvollendet, zielgerichtet oder unbestimmt. Die Russen schienen immer schon beim Aufbruch zu wissen, wohin und weshalb sie gingen, und vor allem, wann genau sie zurückkommen würden.
Anders ich. Ich hatte nicht gewusst, wohin es ging, als ich diesen Kurs belegte. Brilon war mir ein Fremdbegriff gewesen, das Sauerland mehr Witz als fernes Kleingebirge. Schon gar nicht hatte ich gewusst, weshalb ich mein geliebtes Berlin, du Herz aus Beton, verlassen sollte. Nur wann ich zurückkehren würde, hatte festgestanden. Betonfest: in vier Wochen.
Instinktiv war mir klar, dass der Kurs ein Fehler wäre. Ich hatte den Jahresbericht der Stiftung durchgeblättert, mich an den albernen Fotos erfreut, Porträts aller Preisträger, Freak an Freak, zudem die Praktika-Angebote studiert. Dann, schon mit schlechterem Gewissen, hatte ich die Anmeldungen für die Sommerkurse angesehen. Irgendein ehrgeiziges Über-Ich drängte mich seit Monaten dazu, das Angebot der Stiftung zu nutzen, die Möglichkeiten wahrzunehmen, die Perspektiven. Einen Russischkurs an der Universität hatte ich bereits belegt – warum nicht diese Kenntnisse, wie man so sagt, vertiefen? Ralf ermunterte mich: Sei doch mal initiativ. Ich füllte den blauen Anmeldebogen aus und warf ihn ein, ohne weiter darüber nachzudenken.

Von der Stiftung kannte ich vorwitzige Bürgerkinder, Abkömmlinge behandschuhter Großfamilien, welche die Weisheit mit Silberlöffeln gefressen haben. Sie behaupten sich bodenständig und stehen mit durchgedrückter Wirbelsäule im vollen Menschenleben. Ihr Habitus hat etwas Einschüchterndes, die Legitimation von Generationen im Rücken, sehr altes Kapital im Knochenmark. Die Freaks der Stiftung dagegen sieht man selten. Sie sorgen für die Ehre, die Preise und kümmern sich nicht um den Ruhm.
Anders in Brilon. Die Bildung, die Brillanz, die messerscharfe Intelligenz – das alles war zwar vorhanden wie immer. Aber eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang damit fehlte: der Kitt, der die Einzelqualitäten zu einem organischen Ganzen verbindet.
Bianca vielleicht. Bianca hatte diese Härte und Selbstgewissheit. Aber auch einen Zug ins Hysterische. Wir teilten ein Doppelzimmer. Die Art und Weise, wie sie ihre Kleider faltete, machte mich gleich ganz kirre, zack, zack, rum und fertig, wie am Fließband, ein Teil nach dem anderen. Dazu ihre ewig beleidigte Miene, die Mundwinkel leicht verrutscht und zerfranst zur Seite.

Bier und Wein am ersten Abend, und Beschnuppern hinter vorgehaltener Hand. Timo, ein glattblonder BWLer aus Leipzig, musterte unverhohlen das weibliche Material. Er sah gut aus, gelockter, gelgehärteter Seitenscheitel auf stattlichem Kreuz und mit einem Blick ausgestattet, der einen spöttisch durchdrang, sekundiert von einem wissenden Lächeln. Er fixierte erst Bianca, dann mich. Und wie heißt du, fragte er. Jaa, dachte ich und starrte auf sein gespaltenes Kinn, mit mir nicht, du Schleimer, mit mir nicht.

Als Einzelkind ohne große Beziehungserfahrung bin ich es gewohnt, alleine zu schlafen. Die Geräusche fremden Atems machen mich unruhig. Legte Bianca sich hin, dauerte es keine Minute, und sie schlief tief und fest wie ein Baby. Sie lag dann da wie ein toter Mann auf dem Rücken, die Arme nach außen gedreht, so als würde sie irgendetwas empfangen. Ich versuchte, mich zu vergessen in Zahlen und leeren Formen, um den Schlaf heranzulocken und Biancas Atem, das leise Pfeifen der Nüstern, auszublenden. Es gelang immer erst nach viel Herumwälzen.

Am ersten Unterrichtstag wurden wir in zwei Gruppen eingeteilt. Ich war in Fortgeschrittene I. Die Witwe würde also für mich zuständig sein, während eine freundliche, blondierte und feine Russin, Frau Larissa, sich um die Fortgeschrittenen II kümmerte.
Von Anfang an standen Bianca und ich in heimlicher Konkurrenz. Ich merkte, wie sie mich und meine kyrillischen Buchstaben genauestens beobachtete. Hatte ich eine Aufgabe vor ihr gelöst, beeilte sie sich, mich wieder einzuholen. Seltsamerweise verhielt ich mich genauso. Wahrscheinlich merkte auch sie, wie ich sie beim Beobachten beobachtete. Einmal trafen sich unsere Blicke. Sie hob die Augenbrauen. Ich lachte. Sie prustete los.

Die Witwe verlor schnell die Lust an uns. Morgens verteilte sie übelriechende Kopien mit handgeschriebenen Übungen, die wir in Stillarbeit ausfüllen sollten. Nachmittags ging es in der Grammatik weiter, aber kreuz und quer im Schneckentempo. Stellten wir zwei, drei Nachfragen, wurde sie ranzig. Sie schien über die Jahre eine ansehnliche Abneigung gegen die Stiftler entwickelt zu haben. Es machte keinen Spaß.
Die anderen dagegen ulkten am Mittagstisch herum und machten deutliche Fortschritte. Überhaupt waren sie die homogenere Gruppe, eine Gruppe, die für sich etwas miteinander teilte. Wir waren nur in der Opposition zur schlechten Lehrerin vereint.
Nach dem Nachmittagsunterricht entspannten wir meist im Freibad. Man musste die Landstraße hinuntergehen, dann in einen Waldweg durch unwegsameres Gelände, bis sich der Blick auf das von dichtem Wald umfasste Bad eröffnete. Es lag da wie ein eingesenkter Fremdköper, hellgrün in schwärzlichem Dunkelgrün. Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, wenn wir die Badetücher ausbreiteten. Man kam sich vor wie in einem Behältnis. Es gab zwei Becken, ein kleineres mit geometrischen Formen, clean, ein System klarer und distinkter Ideen. Kinder tollten darin herum, Erwachsene erfrischten sich und hielten ihre Gesichter ins Licht, die Arme schlaff auf dem Beckenrand gelagert wie gebrochene Albatrosflügel. Das andere Becken, das eigentliche Freibad, war größer, amorph, mit moorigem Wasser. Es erstreckte sich von Waldgrenze zu Waldgrenze. Tief und weit, schien es zur Natur zu gehören.
Timo setzte sich bisweilen zu mir, um sein aalglattes Lächeln zur Schau zu stellen. Er blieb nie mehr als fünf Minuten und warf mir zum Abschied stets einen unheimlichen Blick zu, verschlagenes kaltes Graugrün, leicht hängende Lider. Man sah, dass es hinter diesen Augen rechnete und rechnete. Henry lud mich ein ins Wasser, und ich plätscherte ein wenig. Er schien gehemmt und wenig zu Scherzen aufgelegt. Dann wurde er von Timo zurückgepfiffen. Am besten verstand ich mich mit Lucie, einem langhaarigen, leicht pummeligen Mädchen. Sie war naiv und ohne Hintergedanken. Sinnlich, würden manche sagen.
Die beiden Gruppen gingen nie zusammen zur Pension zurück. Die anderen verließen das Freibad stets früher oder später als wir, wie ungewollt, als wenn es einfach so passieren würde. Es war ein Hauch von Feindseligkeit darin. Bianca ging eh immer alleine. Und ich ging mit Hans oder Jochen, und wir redeten über die Stiftung.

Natürlich wussten wir, was los war. Aber wir sprachen nicht darüber. Vielleicht aus Trotz, vielleicht aus Überraschung, vielleicht, um es bewusst zu ignorieren oder uns nicht einzugestehen. Mir war es egal und doch unangenehm. Was war denn das für ein Verhalten? Wie war es zu deuten? Es schien albern. Ich verstand diese Abschottung nicht. Warum?
Cliquen und Rudel waren mir schon in der Schulzeit zuwider. Also verhielt ich mich indifferent. Bianca war da anders. Weil es möglich war, bei guten Leistungen in die Zweiergruppe aufzusteigen, strengte sie sich besonders an, lernte, lauschte, bereitete die Invasion vor. Sie wollte hinauf. Sie wollte die Ossis, die sich da zusammengeklumpt hatten, noch im Russischen schlagen. Soll sie doch, dachte ich, sollen sie doch.

Am zweiten Samstag wurde im Garten gegrillt. Fette Steaks brutzelten auf dem Rost, Fett tropfte in die Glut. Nach einigen Bieren holte Timo eine Gitarre aus dem Wagen, setzte sich ans Feuer und stimmte sie gedankenversunken. Sofort setzte sich sein Zimmergenosse Marco dazu. Es folgten die blonde Lucie, mit freundlichem Gesichtsausdruck, und die anderen drei Ostler, und schließlich, weil wir nicht recht wussten wohin, wir vier aus dem Westen. Während Funken in wirren Spiralen zum Mond hinaufschossen, stimmten Timo und Marco sanft und bedächtig amerikanische Songs an: „Just Like A Woman“, „Take Me Home Country Roads“ und „Hotel California“. Sie schauten sich dabei innig, konzentriert, fast esoterisch in die Augen, so als müssten sie mit ihren Blicken etwas sehr Zerbrechliches in der Schwebe halten. Lucie, die Arme um die Knie gelegt, verströmte eine Aura der Wohligkeit. Der Himmel war eine Plane aus Plastik, schwarz und glänzend und voller Nadelstiche.
Mir waren diese Songs fremd. Die Lagerfeuerromantik berührte mich peinlich. Kein Funke knisterte in mir. Ich rauchte, trank Bier, schwieg und beobachtete. Böse Gedanken kamen mir.
Bianca war unruhig. Als Timo in einer Pause an seinem Bier nippte, schlug sie vor, jetzt „doch mal was Russisches“ anzustimmen. Nach drei, vier Schweigesekunden und kurzem Blickaustausch mit Lucie und Marco willigte Timo ein. Flugs zog Bianca eine Flasche Wodka und drei Dosen Tomatenhering hervor, dazu eine Handvoll Stomper, die sie begeistert verteilte. Jetzt müssen wir auch saufen wie die Russen, rief sie und kippte die Stomper randvoll mit Wodka. Lucie und Timo warfen sich vielsagende Blicke zu.
Nach „Kalinka Moja“ und einer weiteren Flasche Wodka waren alle betrunken, betrunken in Brilon. In Provinz und Natur betrunken zu sein, unterscheidet sich grundsätzlich vom Suff in der Stadt. In der Stadt bleibt man erwachsen und entfremdet, in der Provinz schlittert man in Stimmungen und Gesten der Jugend zurück. Hans legte seinen Arm um Lucie, und Henry unterhielt sich mit mir, während Timo und Marco wieder bei „Just Like A Woman“ angelangt waren.
Bianca mischte mit, und wie. Sie nutzte die allgemeine Betrunkenheit, um sich in Szene zu setzen, ließ sich von Timo Gitarrengriffe zeigen, fragte Marco über einen Blockbusterfilm aus und lobte Lucie für ihre Jugend. Ich fand sie hübsch und charmant, wenn auch auf anstrengende Weise. Aber ich war froh, dass sie mir gegenüber saß, jenseits der zusammensackenden Glut. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr bisweilen. Mit einem Zucken der Mundwinkel und wildem Wimperngeklimper fing sie es gleich wieder auf.
Timo fühlte sich umschmeichelt. Je betrunkener er wurde, desto deutlicher trat sein sächsischer Akzent hervor. Sein Grinsen war jetzt echt und träumerisch. Ich starrte in die Glut, die sich langsam in das Innere eines Holzscheits zurückzog. Träume, dachte ich, enden nie. Langsam ließ ich mich zurücksinken. Das Gras war kühl und nass am Hinterkopf. Der dunkle Himmel drehte sich über mir.

Ein Wimmern weckte mich, Wimmern eines Hundes vielleicht, der bettelt oder einen Albtraum hat. Die Bettdecke war schwer und stickig. Ich war im Zimmer? Das Wimmern wurde lauter, dazu Flüstern und Rascheln des Plumeaus. Und dumpfes Klatschen von Fleisch auf Fleisch unter Decken. Es kam aus Biancas Bett. Sie hyperventilierte kurz, dann bäumte sich ein Schatten auf und warf ein Stöhnen gegen die Wand. Dann war es vorbei.

Mein Verhältnis zu meinem Körper wäre der Blick des Betrachters auf die Bilder von Francis Bacon. Man sieht den Kern der Form, das Menschliche, das sich hinter all den Kanten und Ecken und Bögen verbirgt. Aber schon dreht das Verhältnis sich um in einem Schock. Die Verzerrung scheint dem Menschlichen nun vorgeordnet. Schlagartig wird klar: Sie ist primär. Sie ist die ursprüngliche Wahrnehmung. Das Menschliche, Realistische, das Foto: Sie sind die Lüge und sekundär. Wir nehmen die Welt verzerrt wahr und täuschen uns ständig darüber hinweg.

Ein Teil nach dem anderen, zack und zack und rum und fertig. Am nächsten Morgen war Bianca wieder mit Zusammenfalten beschäftigt. Immer dasselbe, zack und zack und rum und fertig, und die Slips in den Sack zur Altwäsche. Ich versuchte, meine Augen scharfzustellen.
Es gibt kein gutes Wort für weibliche Unterwäsche, sagte sie, als sich unsere Blicke trafen. Slip ist scheiße, Schlüpfer ist scheiße, Höschen erst recht. Oder? Guten Morgen.
Völlig nackt stand sie vor ihrem Bett. Der Anblick hatte etwas aggressiv Befreites. Sie lächelte verkrampft. Ihr kleines Monchichi-Gesicht war entrückt und hart wie auf Drogen.
Wer hat mich hier hoch gebracht, fragte ich, bin ich am Feuer eingeschlafen? Ja, sagte sie, wir haben dich hier hoch geschleppt, warst ganz schön voll. Aha, sagte ich, wer ist wir. Verträgst wohl nichts, sagte sie, der Wodka war aber auch übel, hast du einen Kopf? Billiger Fusel war das.
Sie knipste den Fernseher an. Eine Boygroup streichelte die Luft. Als hätte sie auf mein Aufwachen gewartet, zog Bianca sich jetzt erst an. Ich hatte einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Als ich aufstehen wollte, bemerkte ich am verrutschenden Gewicht meiner Brüste, dass ich, bis auf den Slip (den Schlüpfer, das Höschen) völlig nackt war. Ich erschrak. Meine Brüste fühlten sich verklebt an.
Wer hat mich ausgezogen? fragte ich scharf.
Na, ich, flötete Bianca, weißt du das nicht mehr? Mädchen, du warst echt weg.
Aber wieso ganz nackt? Was soll das?
Du hast dir alles vollgekotzt, sagte Bianca scharf. In der Dusche liegt dein Zeug. Ich werd das jetzt nicht auch noch waschen.

Am Frühstückstisch herrschte Katerstimmung. Eier wurden geköpft. Keiner redete viel. Als Bianca und ich dazukamen, mit dem Wind der Vorwitzigkeit, regte sich etwas. Ich wurde begutachtet, wie geht es dir, gut, geht gut, gut. Bianca lugte zu Timo hinüber. Der grinste sein Brötchen an. Tapfer warf sie einige Fragen in die Runde. Schweigen und Murren waren die Antwort. Gott, seid ihr schlecht gelaunt, sagte sie. Mädel, halt einfach mal die Gusche, grinste Timo triumphierend. Die Runde schmunzelte. Als er aufstand, ruckte in ihr der Impuls, ihm zu folgen.

„Urga“ hieß der Film, ein russischer Film über mongolische Peitschen. Bianca lag auf dem Bett und rauchte. Das ganze Zimmer war verraucht. Im Fernseher lief ein Hip-Hop-Video, mit schwarzen Frauen, die ihre Hintern vor fetten Cadillacs schüttelten. Und alles nickte: Hintern und Gesichter, Cadillac und Kamera.
Sie sprang auf. Klar komm ich mit! rief sie und pfefferte die Vokabelkladde lachend in die Ecke. Schon wieder schien sie mir so versperrt und unheimlich.
Sag mal, fragte ich, ich möchte es nur einmal wirklich gefragt haben, und dann nie wieder: Hat Timo mich nackt gesehen?
Dich? Nackt? Wie das denn?
Ihr wart doch zusammen hier oben und habt ... –
Was haben wir? Nichts haben wir. Er hat dich hoch getragen, mehr nicht.
Ich habe es gehört. Ihr habt hier gefickt.
Haben wir nicht. Du hast sehr lebhafte Träume.
Hier ist doch was gelaufen, sagte ich.
Nichts ist gelaufen. Deine Kotze ist gelaufen. Mehr nicht.

Auf dem Weg nach unten wurde sie seltsam vertraulich, hakte sich lächelnd bei mir ein. Der chemische Geruch von Wodka stieg mir in die Nase. Ihre Augen waren gerötet. Ich wollte ja schon länger fragen, aber ... – Aber was? – Also ... – Ja? – Wann hast du dir die Brüste machen lassen? – Vor einem Jahr. – Hat das wehgetan? – Zuerst ja, jetzt nicht mehr. Vorher hat es mehr wehgetan. – Die müssen echt groß gewesen sein, wenn sie jetzt noch so sind. – Waren sie. – Sie sehen schön aus so. – Findest du? – Die Narbe ist nicht schlimm. Sie hat sogar was. – Ist das jetzt Mitleid? – Eher Neid. – Neid? – Du hast dich immerhin zu was entschieden.
Dann sah sie mich scharf und durchdringend an, so als hätte sie mir ein tiefes Geheimnis verraten, das ich vertraulich behandeln müsste.
Es war einfach notwendig, sagte ich beiläufig und war froh, endlich unten angekommen zu sein.

Beck’s-Flaschen glänzten grün im Licht, Stühle wurden zusammengerückt. Die Witwe hatte sich herausgeputzt, im Larissa-Style. Sie hielt eine kurze Einführung zu dem Film. Eine Urga ist keine Peitsche, sondern ein Stab mit einer lasso-ähnlichen Schlinge am Ende, mit dem die mongolischen Bauern Tiere einfingen. Bianca fläzte sich im Sessel und machte Lassobewegungen mit ihrer Hand. Lucie musste kichern. Ich auch. Dann bewarf Bianca Timo, der schräg vor ihr saß, mit kleinen Kügelchen aus Beck’s-Silberpapier. Der starrte sie nur bedrohlich an. Sie streckte ihm die Zunge raus.
Weite Steppen wurden durchritten, listige Mongolen führten knappe Dialoge. Der Film zog sich. Ständig pfiff ein Wind aus der Konserve. Bianca trank ein Bier nach dem anderen.
Kannst du das mal lassen? explodierte Timo.
Was denn? grinste Bianca.
Was ist denn da los, fragte die Witwe unwirsch.
Die bewirft mich hier die ganze Zeit, sagte Timo.
Oooch, eine Runde Mitleid für Timo, sagte Bianca.
Würden Sie beide sich bitte zusammenreißen, sagte die Witwe. Wenn Sie sich langweilen, können Sie auch gerne gehen.
Langweilen? sagte Bianca. Ich langweile mich nicht. Aber vielleicht unser Freund Timo hier? Zuwensch Ägschn?
Lass die Albernheiten, sagte Timo. Die Witwe nickte.
Fünf Minuten später sprang Bianca auf und verschwand auf die Toilette. Die Klospülung ging unverhältnismäßig lange. Sie kam nicht mehr zurück, sondern polterte für alle vernehmlich die Treppe hinauf. Für den Rest des Films herrschte eine angespannte Atmosphäre im Zimmer.

In der Nacht hörte ich erneut das Wimmern. Erst sickerte es in den Traum. Dann ein Wimpernschlag, schwarzweiß alles, gescheckte Schatten an der Wand. Bianca bewegte sich unruhig, das Licht zitterte wie zerlaufender Zuckerguss auf ihrem Plumeau, das Wimmern wurde lauter, es war ihre brüchige Stimme. Mürrisch stand ich auf, ging hinüber und rüttelte und schüttelte sie. Die Lider verklebt, wachte sie auf, Blick nach innen. Es ist das japanische Bordell, flüsterte sie aufgeregt, deshalb ist der Gang nicht passierbar. Dann Schweigen. Sie starrte mich an, starrte durch mich durch. Du träumst, Bianca, sagte ich unwirsch, du machst Geräusche, wach auf, Julie, ich kann nicht schlafen. Sie schnappte nach meinem Unterarm, ihre Hand war nass. Es ist die dreifach gekreuzte Morgenblüte, sagte sie, es ist der Apparat aus Fernost. Fingernägel krallten sich in meine Sehnen. Mensch, sagte ich, kein Bock darauf, wach auf jetzt, Bianca. Sie sah mich gefasst an. Ihre Hand aus nassem Papier, warm und widerständig, betastete mein Gesicht. Das Licht schnitt ihre Stirn in zwei Hälften, eine schwarze, eine weiße, darunter farblos die kalten Murmeln der Augen. Ich kam mir vor wie am Sterbebett einer Großmutter, die ihre Enkelin verabschiedet. Ihre Hand ergriff die meine, sie zog mich hinunter, an ihre Wange, flüsterte etwas, das ich nicht verstand, und begann, meine Brust zu betatschen. Ich ließ sie gewähren, wie gelähmt. Sie hielt meine Brust mit der hohlen Hand, kniff in die Brustwarze, es schmerzte nicht. Weiter zog sie mich hinab, ich roch ihren säuerlichen Atem aus Schlaf, Wodka, Rauch und Asche, dann berührten sich unsere Lippen. Es fühlte sich richtig an. Ihre Zunge war rau und belegt. Dann ließ sie mich los, und ich federte weg. Die Möbel verrückten im Dunkeln. Benommen tapste ich zurück in mein Bett und lag lange wach. Ihr Atem ging jetzt ruhiger, das leise, weiche Pfeifen, das Zirkulieren.

Manchmal hau ich mit dem Kopf auch ins Kissen, sagte Bianca am nächsten Morgen. Headbanging, sagte sie. Kümmer dich nicht weiter drum. Headbanging? fragte ich. Ja, so, sagte sie, warf sich aufs Bett und wuchtete ihren Kopf ein paar Mal hart und frontal in das Kissen. Dann lachte sie. Das geht so seit meiner Kindheit. Ich hätte es dir vorher sagen sollen, Entschuldigung. Wenn ich das mache, lass mich einfach. Nach ein paar Minuten hört es auf.
Verwirrt ging ich ins WC, um mir die Zähne zu putzen, und wusste für einen Moment gar nichts mehr.

Unser Protest gegen die Unterrichtsmethoden der Witwe wurde massiver: Aber Sie können doch nicht, mir ist das etwas, hören Sie jetzt mal, wir wollen doch nur. Die Witwe bezeichnete uns als überzüchtete Pflänzchen, die ohne Spezialdünger zu bloßer Mittelmäßigkeit verkümmern würden. Ihr Altersstarrsinn war schon klischiert. Und schreiben Sie das bloß in Ihren Endbericht, keuchte sie einmal, schreiben Sie das ja hinein, wie schlecht hier alles ist, wie schlecht ich Sie unterrichte, schreiben Sie das bloß hinein.
Und das war dann die Frage. Sollte man oder sollte man nicht? Vielleicht wollten wir anderen die Briloner Erfahrung ja ersparen? Warum nicht seinen Frust kundtun? Bianca statuierte, sie würde so etwas nie tun, entweder ins Gesicht oder gar nicht. Ins Gesicht tun wir doch auch, meinte ich. Nein, dieses schriftliche Anschwärzen, sagte sie, das ist nicht mein Stil.
Da blickte Timo von seinem Salat auf, und Marco fragte Bianca mit Nachdruck, ob sie ihm den Salzstreuer reichen könne.

Dieser Osttrotz, zischte Bianca abends im Bett, geht mir höllisch auf die Nerven. Die sind genau so verschieden wie wir, vielleicht noch verschiedener, aber dann einen auf Gruppengefühl machen. Oooh!, wie warm das ist, wie sehr wir zusammengehören. Das ist alles so falsch. Und die Lucie? Hat die irgendwas im Kopf, oder ist die nicht doch eher auf einer sächsischen Ziegenschule anschaffen gegangen? Quoten-Ossis. Alles egal, aber können die uns nicht wenigstens mit Höflichkeit begegnen?
In der Nacht dann wieder das Wimmern. Das kannte ich und schlief schnell wieder ein.

Die letzte Woche erwies sich als besonders anstrengend. Bianca war in die Zweiergruppe aufgestiegen und wurde unerträglich. Jeden Abend lieferte sie mir einen Tagesbericht ab, neue Folgen einer Doku-Soap namens Allein unter Ossis. Selbst Larissa verdächtigte sie der Parteilichkeit. Ich konnte nicht mehr erkennen, ob ihre Beobachtungen einer wachsenden Paranoia geschuldet waren oder sich wirklichen Gesten, Blicken und Worten verdankten. Vielleicht hatte sie doch mit Timo geschlafen, und die ganze Verspannung kam einfach daher.
Im Schwimmbad wurde viel gedöst. Timo näherte sich mir immer öfter. Ein Dreieck aus hellbraunen Brusthaaren schob sich dann vor mein Gesicht. Einmal fragte er, ob wir zusammen rausfahren sollten, aufs Land. Aufs Land? Vielleicht später, sagte ich und schirmte meine Augen mit der Hand ab, obwohl ich ganz im Schatten seines Oberkörpers lag. Ich komme drauf zurück, lächelte er, drehte sich um, lief los, mit klatschenden Füßen, und sprang kopfüber ins Wasser.
Bianca kam nicht mehr mit. Sie zog ihre Bahnen morgens, vor dem Frühstück, alleine. Und kam dann mit nass gekämmten Haaren an den Frühstückstisch, das Gröbste schon hinter sich: hübsch und streng und unnahbar.

2

Es gibt nichts Aufregenderes als die Stille eines tiefen Pools, der ja niemals ganz still ist, sondern immer auch etwas plätschert und rauscht; und es gibt nichts, das Schönheit, Schlichtheit und Geheimnis perfekter verbände als ein Pool bei Nacht. Der Mond verteilt sich auf ein paar Wasserkuppen, Licht flockt aus und zerfällt; darunter liegt das nackte Schwarz und liegt einfach und wartet auf nichts, und nichts war je so dunkel wie dieses Wasser, in dem meine Füße ganz verschwinden. Und das Wasser hat eine magnetische Wirkung, aber mehr auf die Augen, also auf die Nerven, als auf den Körper. Das Unheimliche ist anziehend und schön, und wenn man es aufsucht, im Haptischen, Taktilen, es berührt, in es hineingeht, verliert es sein Unheimliches und wirkt vertraut. Dann weiß man, warum das Unheimliche anziehend ist: Es birgt immer auch etwas Altes, Vergessenes, etwas von der verlorenen Heimat.
In der Nacht scheinen Tannen größer zu sein als tagsüber. Die Tannen sind dann furchteinflößende Riesen, die wanken, die über dich beraten, während du über den Waldweg gehst, innerlich aufgewühlt. Wir steigen über den Zaun, kichern; Timo baut mir eine Räuberleiter und wuchtet mich hoch, fast bleibe ich hängen, dann sitze ich auf dem Zaun, zähle bis drei und springe hinunter und komme weich auf, kippe nach hinten. Die anderen sind schon da und helfen mir hoch. Sofort ein Plastikbecher Wein, trocken und gut.

Es ist die letzte Nacht, wir sitzen im Gras, das schimmert. Wir trinken Bier und Sekt und Wein und kiffen und singen. Ich singe nicht, stört aber keinen. Hans und Lucie züngeln herum. Nightswimming, singen Timo und Marco, und ich singe jetzt auch: Nightswimming / deserves a quiet night. Die Bilder aus dem Video schieben sich in meine Wahrnehmung, verschwommene, von tausend Blasen umwirbelte Beine, Schnitte, Lichtcluster. Die Zigarette merke ich kaum, der Hals noch taub vom Kiffen. Jetzt schwimmen, sagt Timo, und ich, im Rausch, sage: ja, warum nicht. Der Boden fühlt sich wattiert an, weicher als sonst. Die Dunkelheit umfasst die Augen. Fast alle kommen mit.
Timo und Marco ziehen sich aus, splitternackt. Ich sehe Timos Schwanz im Lichtrest, wie ein totes, lumpiges Tier. Ich ziehe mein T-Shirt aus und weiß dann nicht weiter. Die Tannen wispern und nicken. Ruhig und ohne Hast entkleide ich mich ganz.

Schwarzes Wasser wie Tinte, zerläuft quecksilbrig auf meinen Gliedern, mein Körper verschwindet darin, rhythmisch. Der Himmel über mir, das Wasser unter mir, ich fühle mich von beidem gehalten, ganz kurz: ein Grundvertrauen in die Welt. Ich bin ein Flimmertierchen, das auf der Oberfläche eines riesigen Bechers voll altem Wasser schwimmt. Chemische Formeln tanzen auf meiner Haut. Die anderen singen schon wieder, hinten im Gras. Ich höre die Gitarre, die Stimmchen, das Gefühl; es ist weit weg. Ich schwimme Rücken, toter Mann, leichte Frau, atme ein, fühle, wie sich meine Lungen mit Luft füllen, der Brustkorb angehoben, atme aus, die Luft entweicht, und sinke ein, sacke in mich zusammen, mit dem plätschernden Wasser.
Ein Kopf nähert sich mir von fern, eine Stecknadel in schwarzer Plane. Er kommt auf mich zu, geradlinig und lautlos, ein Hund. Sofort zieht es mich hinunter, ich schwimme zackig wie eine Kaulquappe, japse nach Atem. Hey Sonja, sagt Timos Stimme. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Hey, sage ich. Sein Gesicht kommt näher, noch immer unscharf, verwischt, helldunkel. Nightswimming, hallt es gedämpft herüber, deserves a quiet night. Wie warm das Wasser ist, brummt Timo. Ja, sage ich, und dunkel. Er gleitet näher. Es ist ein Spiel. Mich kriegst du nicht, sage ich plötzlich und schwimme und pruste los. Ach ja? kiekst er und krault hinterher. Ich kann mich vor Lachen kaum über Wasser halten. Fang mich doch! Wir machen viel Lärm, ich schwimme Brust, er krault. Es tost um uns herum. Fast habe ich den Beckenrand erreicht, der schlecht zu erkennen ist, schwer abzuschätzen, ob das noch fünf Meter sind oder zwanzig, und sitzt da nicht jemand, ich kreische – da taucht er auf neben mir, ein Muskel beult aus dem Rücken, Wasser splittert vom Körper weg, er berührt mich, umfasst meine Hüfte, zieht mich hinab, ich kreische und lache und schlucke Wasser. Wir sind nackt, erinnere ich mich und bin fast erregt, seine weiche Haut, seine Brusthaare an meinem Rücken. Er hebt mich hoch, ich fahre schräg aus dem Wasser, rufe etwas Atemloses, dann lässt er mich zurück ins Wasser platschen und umfasst meine Taille, sein Schwanz drückt sich an meinen Schenkel. Finger liegen in der Beugung meines Halses und massieren das sehnige Fleisch. Ich nehme es hin, mit einem Zucken im Auge, das keiner sieht. Die Finger streichen zärtlich über die Sehnen, wieder und wieder. Ich neige den Kopf zur Seite und schließe die Augen. Die Hand wandert in meinen Nacken, schickt Schauder den Rücken hinab. Dann bleiben die Schauder stecken. Machts Spaß?
Biancas Stimme, ganz nah, schneidet zwischen uns. Wir fahren auseinander. Sie sitzt am Beckenrand, ich sehe ihre weiße Haut, ihren schwarzen Badeanzug, den Kontrast unscharf gestreut wie auf einer Kohlezeichnung. War ja klar, sagt sie müde, was ein Kindergeburtstag. Dann gleitet sie ins Wasser und kommt schnittig auf uns zugeschwommen. Zwei, drei Züge, schon ist sie da. Zu dritt hängen wir im Wasser, ohne Regung, wie schwirrende Teilchen. Sekunden verstreichen. Wir atmen, paddeln schweigsam mit den Beinen, bewegen uns, um nicht in Bewegung zu geraten.
Bianca muss etwas tun. Sie hat uns in diese Situation gebracht, sie muss jetzt etwas tun, um sie wieder aufzulösen. Sie lauert aber nur. Alle drei lauern wir. Die Gitarre ist verstummt. Die anderen liegen irgendwo, bekifft und besoffen. Ich überlege, was ich sagen könnte, aber mein Kopf ist restlos leer. Da sagt Bianca: Ich darf doch?, und bevor jemand antworten kann, ruckt sie an mich heran, aus dem Dunklen, ein Tintenfisch, und umarmt mich, ihre Arme schnappen wie Fangschlingen nach meinem Nacken, sie zieht mich heran und drückt mir einen Kuss auf, sie zwängt mir ihre raue Zunge, die nach Tomatenfisch schmeckt, in den Mund und wartet auf Antwort. Aus Überraschung und Überrumpelung kann ich den Kuss nur erwidern. Ich halte sie fest, spüre ihre Rippen, finde langsam Gefallen am Kuss, muss gleichzeitig weiterpaddeln im Dunklen, Bodenlosen, um nicht unterzugehen. Ihre Lippen sind fleischig. Es macht keinen Unterschied mehr, ob die Augen offen oder geschlossen sind. Der Mund weiß selbst, was er macht. Ich entspanne mich, höre ein Blubbern, ein Gurgeln und Lachen. Ich schwimme und küsse ins Leere. Ich tauche kurz ein und lache, und ich tauche auf und pruste. Mehr Glieder sind jetzt da und Arme, ein weiterer Atem mischt sich in unseren, ich öffne die Augen und sehe, wie Bianca Timo küsst, zwei Tiere, die sich vereinen, zu denen ich stoße. Hände überall an mir, und meine Hände befühlen nasses Fleisch, das sich dehnt und zusammenfällt. Ich schließe die Augen und tauche unter ohne mein Zutun. Wir sind ein Tier.

Der feuchte Lärm schwillt an und zerstreut sich, Blasen und Wirbel, Arme und Beine. Der Himmel sprudelt. Ich kriege keine Luft und fahre wieder hoch, stoße mit dem Kopf hart auf ein Knie oder einen Ellenbogen. Unten ist der Lärm dumpf, oben hell und klar, und Bianca lacht schrill, ich erkenne die Schemen, die zusammenklumpen und auseinanderschießen. Zwei Köpfe liegen vor mir und fauchen, dann bauschen sich die Schatten und Hände auf und drücken mich wieder hinunter. Es ist ein Witz, es ist das Tunken, ich verstehe und gerate doch in Panik. Der Lärm wirbelt immer lauter um mich, das Wasser ist dunkel wie nie. Sie lassen los, ich schieße wieder aus dem Wasser und schnappe nach Luft und lache, ohne es zu wollen. Ich sehe Biancas Gesicht deutlich aufleuchten, das nickt und grinst. Timo merkt schon, was Sache ist und will fliehen, doch schon hängt ihm Bianca wie ein Äffchen am Rücken und wirft mit weißem Schaum um sich, und ich lege meine Hand auf seinen Kopf und all mein Gewicht in die Hand und drücke ihn runter. Es blubbert und spritzt, und Bianca drückt auch und lacht mit heller, spitzer Stimme, und er kämpft dagegen an und will auftauchen, aber wir haben ihn im Griff. Bianca wuchtet sich mit ihrem ganzen Oberkörper über seinen Kopf und grunzt. Ich sehe in den Wald, der dunkelblau ist und zu pulsieren scheint. Je stärker Timo sich wehrt, desto lauter lacht Bianca.

Ich frage mich, ob Timo vielleicht das Schweigen am Wassergrund hört jetzt, während ich seine Schulter mit Knie und Händen in Schach halte. Das Schweigen wird viel dichter sein da unten, es ist soviel Lärm hier oben, Timo kann vielleicht das Schweigen sehen. Ich hechle, bekomme selbst kaum noch Luft, so anstrengend ist es. Die Bewegungen flachen ab. Ich denke, es reicht, es ist schon weit mehr als genug. Aber Bianca will nicht loslassen. Und ich lasse nicht los, solange Bianca nicht los lässt. Und sie wird nicht loslassen, bevor ich nachgebe.

Ein Phantasma blinkt vor meinem inneren Auge auf: Man sieht zuerst den Rücken, dann ein paar Streifen Mondlicht spiegeln sich auf Rippendünen, aber wie Striemen. Und Schulterblätter sieht man, zwei weiße Dreiecke, die etwas herausragen. Dann, obwohl man den Kopf sehen will, sieht man die Arme, sie stehen rechtwinklig nach oben ab, ziehen aber schon schwer hinunter. Die Ellenbogen sind deshalb leicht nach außen gedreht. Die Fußsohlen leuchten einem unerwartet hell in die Augen. Der Kopf, nur Hinterkopf, sieht aus wie eine alte, schmutzige Boje, die längst vergessen und funktionslos ist, grünlich, verwaschen, schon schwer vom eindringenden Wasser. Sie weist einen dunklen, langen Strich auf, eine Spalte oder einen Schnitt, aus dem es sickert. Und man fragt sich, ob das Wolkige, Dunkle um den Körper herum normales Moosdunkel im Tümpelwasser ist, oder nur eine Einbildung im Kopf – oder doch wirklich dunkles Blut aus dem Körper, das in die Dunkelheit schießt, das sich wegmacht, weg von dieser Leiche, sich langsam ausbreitet und, sinkend, immer dunkler wird. Der Pool bewegt sich nicht, und auch der Körper ruht starr und still. Äste und Gesträuch staken aus der glatten Oberfläche heraus wie abgemergelte, eingefrorene Arme. Timo als Wasserleiche, bald aufgebläht und ausgebeult, mit rissiger Haut, die bei Berührung aufplatzt, so dass weißer Schaum herausquillt, Würmer in den Augen, Algen im Mund.
Mir wird schlecht und schwarz vor Augen. Ich lasse los. Bianca lässt los. Timo schießt aus dem Wasser, ringt nach Luft, röchelt wie ein brünftiger Hirsch, zieht die Luft ein, so schnell es geht, seine Lungen schon voller Wasser. Er brüllt nach innen und hustet nach außen, schlägt mit den Händen über das Wasser, wirft seinen Kopf zurück, eine Menge Wasser fliegt herum. Er fragt, spinnt ihr, er röchelt, seid ihr noch ganz dicht. Er keucht und brüllt wieder nach innen und strampelt sich ab. Dann spuckt und rotzt er und hustet alles aus sich heraus, alles. Dann herrscht Stille. Ohne ein Wort schwimmt er davon, langsam, wie geprügelt, zurück zur Gruppe, die ihn schon erwartet am Beckenrand, die schon lange ruft, und wird bald von jemandem gestützt, wahrscheinlich von Marco, der ihm entgegengeschwommen ist.

Ich weiß, was jetzt als nächstes kommt, und Bianca weiß es auch; sie weiß es besser als ich. Wir schweben im Wasser, strampeln leicht, stehen uns senkrecht gegenüber, in Bewegung, um nicht in Bewegung zu sein. Kein Meter zwischen den Gesichtern, erkenne ich sie nicht. Aber sie ist es. Wir atmen tief durch. Sie lächelt und nickt vielleicht. Ich hole Luft. Sie nicht. Ich schließe die Augen. Es macht keinen Unterschied. Sie sagt los, und ich tauche sie mit aller Kraft hinunter.