Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Andreas Merkel, Autor (Bild: Johannes Puch)
Andreas Merkel
Aus dem Unterholz
Moment, ich nehm dich kurz raus.
Gehring griff nach dem Handy und zog es aus der Halterung der Freisprechanlage neben dem GPS, während Völkl einfach weiterredete. Der Empfang war sofort besser. Du kannst jetzt aufhören zu schreien, sagte Gehring. Die Zielführung des GPS verabschiedete sich wie jedes Mal mit einer kleinen Animation vom Monitor, bei der das Satellitenauge zurück in den Weltraum zoomte: Die Straßen verschwanden als erstes, dann die Städte, eine Weile blieben noch die Flüsse und Seen um Berlin, die kleine Stecknadel als Hinweis auf den Reichstag. Dann nur noch Europa, die Nordhalbkugel und die Erde im Weltall.
Bis bald, sagte die Stimme der Zielführerin.
Wichtig ist doch, daß immer einer im Kreis steht, wiederholte Völkl, sonst hat’s keinen Zweck.
Gehring blickte durch die Windschutzscheibe auf die mit Schnee und tauendem Eis bedeckten Felder Brandenburgs in der Vormittagssonne. Den Firmensitz von P&M, einen fünfstöckigen neomodernen Klotz, hatte man hier einfach mitten in die Mark gehauen.
Ich weiß ja, was du meinst. Er rieb sich die Augen. Aber bei Vier gegen Drei mußt du einfach immer nur den sicheren Paß auf den freien Mann spielen.
Andreas Merkel, Autor (Bild: Johannes Puch)
In der Turnhalle, in der sie mit einer festen Runde seit vier Jahren regelmäßig spielten, galten bestimmte Regeln. Überall Bande und aufs Tor geschossen werden durfte nur im Strafraum. Völkl hatte ihn am Beginn ihrer Zusammenarbeit dorthin mitgenommen, die kleine Halle gehörte zu einer baufälligen Treptower Oberschule. Gehring verpasste seitdem kaum einen Donnerstag dort.
Das Niveau der Runde war soweit in Ordnung. Die Regel war: Wer mit Völkl spielte, verlor. Völkl war eigensinnig, leistete sich zu viele Fehlpässe und hatte kein Abwehrverhalten. Dafür hatte er die Halle organisiert. Und er war Gehrings Kontakt bei P&M, und da konnte man nichts gegen sagen. Völkl hatte ihn in geschäftlichen Dingen immer fair behandelt, und Gehring hatte die letzten vier Mal mit ihm zusammenspielen müssen.
Lassen wir das jetzt. Die nächsten Wochen falle ich jedenfalls aus.
Scheiße. Sah gar nicht so schlimm aus.
Bin gleich am nächsten Morgen zu Lubinus, der hat’s mir wieder eingerenkt: Drei Wochen absolutes Sportverbot, höchstens Schwimmen.
Das war die Parade aber auch wert! Von Völkl kam jetzt nur noch Blindtext. Olli Kahn, hatten sie gehöhnt, als er letzte Woche ausgerutscht war und nur so noch an den Ball kam, der von der Bande zum einschußbereiten Robert prallte. Gehring schlug lang vor ihn hin und konnte das Ding irgendwie festhalten. Danach blieb er liegen, haute mit der flachen Hand aufs staubige Hallenparkett (wie ein Ringer, der aufgibt) und schrie: Ich hab mir was ausgerenkt, ihr Fotzen, seid mal ruhig.

Er hatte dann natürlich trotzdem weitergespielt und anschließend mit den anderen in der Eckkneipe am Baumschulenweg noch was getrunken. Wie jedesmal beruhigten sie sich langsam wieder, indem sie das Spiel detailliert analysierten und beim dritten Bier allmählich aufhörten, sich mit Leistungssportlern zu verwechseln. Irgendwann fuhr Gehring betrunken über die Elsenbrücke nach Hause, und die Straßen der Stadt leuchteten im gelben Licht der hohen Laternen wie osteuropäische Stadien in alten Uefa-Cup-Übertragungen.

Ich bin schon da, schön hier, sagte Gehring jetzt, um das Thema zu wechseln. Neben dem P&M-Parkplatz, auf der anderen Straßenseite des Zubringers, stand eine große Reklametafel, auf der die Werbung eines Telefonunternehmens plakatiert war. Auf dem Bild standen Menschen in einer Reihe, die alle Nationaltrikots anhatten und besonders unsportlich aussahen, als müßte niemand Angst vor ihnen haben.
Gehring hatte keine Lust mehr, über Fußball zu reden.
Wie, du bist schon da! Völkls Stimme klang durchs Handy irritiert. Mensch Gehring, hör mal zu, das tut mir immer noch leid. Ich hab das echt erst vor zwei Tagen erfahren, daß sie mich von dem Etat abziehen.
Gehring blies scharf die Luft durch die Zähne, um sich auf den Schmerz im Iliosakralgelenk vorzubereiten, während er in einem Schwung die Wagentür öffnete und sich aus dem Sitz hievte. Und dann auch noch mit sofortiger Wirkung. Das hab ich, so Völkl weiter, in den sieben Jahren, die ich jetzt hier bin, noch nicht erlebt.
Nach allem, was Gehring in der kurzen Zeit in Erfahrung gebracht hatte, war die Situation tatsächlich ein wenig verworren. Ein wenig, das hieß für ihn: Zwei Kolleginnen von Völkl verwalteten jetzt dessen Budget für die Massenspeichersysteme europaweit.
Vorgestern hatten sie Gehring angerufen und ihm mitgeteilt, daß sie die neue Lösung für Zweieinhalb weniger haben wollten. Diese Lösung hätte vertragsgemäß eigentlich schon im letzten Halbjahr verkauft werden sollen, aber die Investition war dann von P&M aus steuerlichen Gründen verschoben worden, was Gehring nicht nur den Jahresabschlußbericht versaute, sondern auch zwang, an Weihnachten seine Provision in Höhe eines Monatsgehalts an xCom zurückzuzahlen. Völkl hatte sich dafür tausendmal bei ihm entschuldigt und zur Wiedergutmachung sogar eine leichte Etaterhöhung in Aussicht gestellt. Und die sah jetzt also so aus, daß die neuen Einkäuferinnen ein Budget, das ein Drittel von Gehrings Gesamtumsatz ausmachte, um Zweifünf zu kürzen planten.
Meinhard, eine von Gehrings neuen Ansprechpartnerinnen, Gabriele Meinhard hatte sogar angedeutet, daß es ein Konkurrenzangebot gebe, und am Telefon eine angenehme Stimme gehabt. Angenehm? – Besser konnte Gehring das auf keinen Fall beschreiben, ohne sich allzu viel Gedanken darüber zu machen, wie sie wohl aussehen würde – er war sich nicht ganz sicher, was ihm angesichts der bevorstehenden Verhandlungen lieber wäre: Hübsch oder häßlich. Es sah so aus, als ob ihr eine Prozeßeskalation egal wäre.
Um das zu verhindern, war er heute hier.
Also paß auf, er hörte, wie es bei Völkls Handy anklopfte, was diesen aber nicht weiter zu stören schien. Um Meier-Hennrich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.
Um wen?
Meier-Hennrich, die jüngere von beiden. Die ist nur zweite Geige. Völkl klang jetzt wieder selbstbewußter, fast fröhlich. Mit der war ich sogar schon mal essen, hat mich aber nicht weiter interessiert. Aber Meinhard … Völkl machte eine unheilvolle Pause und deckte den Hörer ab.

Es war ein milder Tag, nach mehreren Wochen Dauerfrost zum ersten Mal wieder knapp über Null. Gehring, der beim Telefonieren um seinen frischgewaschenen Audi herumgewandert war, blieb stehen und musterte die gestauchte Deformation seines Spiegelbilds im schwarzen Wagenlack. Ihn überfiel der Verdacht, daß die Marke des Anzugs, den er bereits gestern Nacht einer spontanen Eingebung folgend rausgelegt hatte, vielleicht doch unangemessen war, daß er überdies die falsche Krawatte (rosa!) trug und vielleicht ein wenig zu viel Gel … – Mein Gott, was war jetzt mit Meinhard?!
Erst dann hörte er, daß jemand zu Völkl ins Büro gekommen war, eine Stimme sagte: Natürlich ist das auf Ihrem Mist gewachsen … Ja, ich komme! Gehring? Ich muß. Also, tut mir leid. Ruf mich hinterher unbedingt an, wie’s gelaufen ist, ja?
Okay, sagte Gehring, aber Völkl hatte schon aufgelegt.
Er blickte zum Firmengebäude, aus dem gerade zwei Leute in blauen Kitteln hinausgelaufen kamen und in einen Laster sprangen, auf dessen Seite in geschwungenen Buchstaben Pharma&Medical und ein Slogan prangten, irgendwas mit Care und Tomorrow. Der Laster fuhr los, und es schüttelte Gehring kurz wie einen Hund, was ihm sofort wieder einen Schmerz in den Rücken jagte. Vorsichtig machte er die Hintertür auf und holte seine Laptoptasche raus.
Dann ging er los, den Rücken in stocksteifer Schutzhaltung, an etwas ganz anderes denkend, ein aus der Mode gekommener Westernheld auf dem Weg zum letzten Gefecht mit dem anderen Geschlecht, vollkommen unangemessen.

Gestern nacht hatte er versucht, noch einmal nachzurechnen. Kathrin war schon um halb elf ins Bett gegangen, und er hatte sich noch den alten Polizeiruf zu Ende angesehen. Es ging um einen Schäferhund namens Barry, der mysteriöserweise geschwiegen hatte, als die Einbrecher auf den Hof kamen, was den Ermittlern eine harte Nuß zu knacken gab, aber dann war es doch nicht Mord, weil es in der DDR ja keinen Kapitalismus und also auch keine Kapitalverbrechen gegeben hatte. Dann war auch Jonas, Kathrins Sohn, endlich nach Hause gekommen, und Gehring hatte sich noch mal an den Rechner gesetzt, um einen letzten Blick auf die Alternativlösung zu werfen, ein System mit günstigeren, etwas leistungsschwächeren Komponenten, das P&M seinetwegen für Zweifünf weniger haben konnte, aber sowieso nicht nehmen würde.
Zweifünf drunter, das war offenbar die Budgetvorgabe, wegen der man Völkl abgesägt hatte (oder weswegen sonst?) und mit der jetzt die beiden neuen Senior Buyer ins Rennen gingen. Und sie würden es natürlich begründen können: Kostendruck, Volumengröße, lukratives Folgegeschäft.
Aber selbst wenn er Meinhard entgegen kam, beispielsweise um Einsfünf runterging, blieb es ein Verlustgeschäft, das Europa ihm nie und nimmer absegnen würde. Letzten Endes würde man ihm die Provision einfrieren und er ginge bei Null aus der ganzen Sache heraus.
Kathrin und er kämen damit schon klar – vielleicht würden sie den Golf aufgeben oder in eine kleinere Wohnung ziehen oder wieder zurück nach Westberlin –, aber so machte man sich natürlich keine Fans bei Europa.
Er hätte gerne noch mehr Zeit gehabt. Gehring dachte eine Weile darüber nach, ob P&M nur blufften oder ob sie wirklich jemanden in der Hinterhand hatten, der einfach nur darauf aus war, ihn aus dem Rennen zu hauen. Das ganze letzte Jahr hatte er nur noch prozeßgetrieben agieren können und sich alles von Europa vor- beziehungsweise nachrechnen lassen müssen.
Gegen halb vier gab er auf und kroch zerstört zu Kathrin ins Bett, wie gelähmt von der Müdigkeit und der angewandten Mathematik seiner Marktanalysen.
In der Schlafzimmerkälte drückte er sich an sie, und sie machte ein Geräusch, daß er sie in Ruhe schlafen lassen sollte. Es war der einzige Augenblick des Tages, an dem er sich in der Lage fühlte, ihr zu sagen, daß er sie liebte. Er blieb immer noch eine Weile unter ihrer Decke, zwei, drei kostbare Minuten, bis es zu warm wurde und er wieder unter seine eigene kroch.

Gabriele Meinhard und Julia Meier-Hennrich begrüßten ihn freundlich im Foyer, einer großzügigen Halle, durch deren breite Fensterfront Sonnenstrahlen auf staublose, in funktionalem Hellgrau gehaltene Büroinnenarchitektur fielen. Es roch nach Luft aus Computerlüftungen, und Gehring hatte diesen neutralen Geschmack im Mund, der für andere vermutlich schon Mundgeruch bedeutete.
Wie geht es Ihnen?, fragte Meinhard, was ihn leicht aus der Fassung brachte.
Meinhard war vielleicht Ende Vierzig, Anfang Fünfzig und hatte ein jungenhaft schmales Gesicht mit einem offenen, aber etwas entrückten Ausdruck, wenn sie zum Beispiel jemanden fragte, wie es ihm ging.
Großartig, mit einem Lächeln hinterher. Er mußte sich jetzt dringend ein wenig stark denken: Das hier war seine Rolle. Kein steifer Westernheld mehr, sondern gerne ein bißchen geschmeidiger, Gehring als Tom Cruise, Tom Cruise als Gehring: sie schickten ihn hier rein, weil das genau sein Ding war – die Leute überzeugen, die Sache noch umbiegen, in aussichtsloser Position die Dinge zu einem guten Ende bringen!

Die Frage war nur, ob Meinhard überhaupt wußte, wer Tom Cruise war. Sie trug ein schwarzes Wickelkleid, das ihre Figur ein wenig unvorteilhaft ausstellte, dazu schwarze Schnürstiefel und schwarze Stulpensocken über einer schwarzen Strumpfhose. Die rote Hornbrille paßte zur Farbe ihrer kurzen lockigen Haare. An Meinhard war etwas Naives und gleichzeitig Verständnisvolles, das sich ziemlich direkt auf einen richten konnte. Vermutlich las sie die Süddeutsche. Gehring spürte eine kurze Hilflosigkeit angesichts dessen, was dieses Verständnisvolle möglicherweise in ihm vorfinden könnte. Der Gedanke an Frauen in diesem Alter, die einerseits schon mütterlich auf Männer herabblickten, andererseits immer noch als Sexualpartnerin in Frage kommen wollten, hatte in Gehrings Situation jetzt etwas ausschließlich Kontraproduktives, das er ganz nach hinten stellte.
Wunderbar, daß dieser Dauerfrost endlich vorbei ist. Das kam von Meier-Hennrich, die von ihrer Kollegin tatsächlich als Junior Buyer vorgestellt wurde.
Gehring überlegte, ob er darauf irgendwas entgegnen sollte, das diese Äußerung taktvoll in ihren Gesprächszusammenhang rücken könnte, entschied sich aber dagegen. Meier-Hennrich hatte nichts zu melden, das war klar und er beschloß, sich ihren Namen gar nicht erst zu merken. Warum war sie überhaupt dabei?
Sie hatte ebenschwarze, fast hüftlange Haare, die sie einem inneren Zwang folgend andauernd mit ihren Händen berühren und durchkämmen mußte. Ansonsten war sie auf eine zähe Art schlank, die nur das Gesicht aussparte und trug eine Cargo-Hose. Dieses Mädchen, dachte Gehring, sollte nicht hier sein, sondern in Friedrichshain ein Studentenleben führen und mit Jungs, die Ansgar oder Brinkmann hießen, selbstangebautes Gras rauchen. Sie erinnerte ihn an seine Zeit an der FHTW. Er beschloß, sie Friedrichshain zu nennen.
Gerade fuhr Friedrichshain sich schon wieder mit der Hand duch ihr Haar. Gehring versuchte sich vorzustellen, wie Völkl mit ihr essen gegangen sein sollte.
Eigentlich konnte Meinhard nur aus einem Grund wollen, daß sie bei diesem Gespräch anwesend war. Die beiden erinnerten ihn an die Filmchen, die im pornoverseuchten Intranet seiner Firma die Mailserver blockierten, Experienced Moms Teaching Innocent Teens.

Sie führten ihn in ihr gemeinsames Büro, das seltsamerweise auf einer ganz anderen Etage und Gebäudeseite als Völkls lag. Es war im Rahmen dessen, was an einem Arbeitsplatz möglich war, geschmackvoll eingerichtet, kein Chaos, kein Desksharing. Auf einem Regal stand eine Vase mit weißen Tulpen, an der Wand hing eine Reproduktion von Schiele. Das größere Fenster ging bis zum Boden und man hatte von dort einen weiten Blick über den Parkplatz und die Felder, zwischen deren sanften Hügeln sich gelegentlich eine Bahnstrecke zeigte, der Kirchturm eines kleinen Dorfes.

Gehring klappte seinen Laptop auf und präsentierte sein Angebot. Schwer zu sagen, ob die beiden Frauen ihm folgten. Zumindest Friedrichshain schien mit großen Augen seinen Blick zu suchen und nickte bisweilen heftig, um sich danach sofort durch die Haare zu fahren, was ihn allmählich verrückt machte.
Meinhard saß nur mit ihrem lehrerhaften Verständnis da und war ansonsten in ihre eigenen Unterlagen vertieft. Bevor sie enervierend ausführlich noch einmal ihren Standpunkt begründete, so weit ausholend und umständlich, als könne sie bei ihm überhaupt nichts voraussetzen.
Bei den wenigen Einwürfen, die er riskierte (er wollte ihre Statements nicht noch mehr in die Länge ziehen), pflichtete ihm Friedrichshain sofort bei und ruinierte alles.
Gehring hätte fast gelacht, so durchschaubar war dieses Manöver. Außerdem mußte er sich immer irgendwie an beide wenden, um nicht als der simpel gestrickte After-Work-Stecher und Völkl-Freund zu gelten, den die Frauen bestimmt längst in ihm zu sehen beschlossen hatten. Die übertriebene Höflichkeit, mit der vor allem Friedrichshain ihn behandelte, ließ für ihn keinen anderen Schluß zu.
Leider fand im Gegenzug Gehring die beiden trotz ihrer Macken, Meinhard mit ihrer Ausführlichkeit und Friedrichshain mit ihren Haaren, sympathisch. Er hätte mit Ihnen jetzt lieber über etwas anderes geredet, daß sie von ihrem Urteil über seine Person (und vielleicht ja auch über sein Angebot) abgebracht hätte.
Zum Beispiel darüber, daß er wirklich gern wüßte, warum die Beamten des BKA neulich die Kleider von Susanne Osthoff durchsucht hatten, als die in der arabischen Botschaft geduscht hatte.
Oder daß er, Gehring, mit einer fünf Jahre älteren Frau verheiratet war, die einen siebzehnjährigen Sohn hatte, mit dem er regelmäßig zu Hertha ging und der ihn trotzdem für ein Arschloch hielt.

Gehring dachte an den Smalltalk-Test, den er letzte Woche auf einer Managerberatungs-Homepage gemacht hatte. Dieser Test war auf die durchsichtigste Weise darauf angelegt, daß man sich selbst als rückgratloser Karrierist denunzieren sollte.
Eine der Fragen lautete: Ihr Gesprächspartner, ein potentieller Kunde, ist von der Sorte Endlos-Erzähler und Langweiler. Wie reagieren Sie? – A: Ich ergreife die nächste Möglichkeit, mich zu verabschieden. – B: Ich lasse ihn reden und höre weiter aufmerksam zu. – C: Ich unterbreche ihn und wechsle das Gesprächsthema. Da Gehring die Frage gut fand, beschloß er sie auch ehrlich zu beantworten: Ich ergreife die nächste Möglichkeit, mich zu verabschieden.
Damit kam er immerhin auf vierzehn von einundzwanzig möglichen Punkten. Die Auswertung lobte ihn dafür: Alle Achtung, Ihre Smalltalk-Fähigkeiten liegen bereits über dem Durchschnitt. In den meisten Situationen wissen Sie, wie Sie bei Ihrem Gegenüber Sympathiepunkte gewinnen. Dennoch sollten Sie einige Schwächen beseitigen. Nutzen Sie anspruchsvolle Gelegenheiten, Ihr Können durch lockere Plaudereien zu erweitern. Das wird Sie routinierter und im Beruf erfolgreicher machen.

Friedrichshains Stimme war nicht so schön wie die von Meinhard, und er hatte jetzt Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ihre Fronten hatten sich bei Zweifünf-runter gegen Einsfünf-runter verhärtet, worauf er sich längst eingelassen hatte. Seit einer halben Stunde war jetzt nichts anderes passiert, als daß sie diese Zahlen durch Hinzuziehung neuer Vergleichszahlen untermauert hatten.
Meinhard besaß die Frechheit, ihm nicht einen Schritt entgegenzukommen, was sie dadurch zu überspielen versuchte, daß sie mit ihm sprach, als würde sie ihm die ganze Zeit eigentlich nur charmante Vorschläge machen. Im Kopf imitierte er bereits ihre Tonlage.
Das wird dann wohl eine Prozeßeskalation geben, konnte Gehring daraufhin nur gebetsmühlenhaft wiederholen. Das ist ein unangenehmes, zeitaufwendiges Verfahren, fügte er hinzu, als wüßten die anderen beiden das nicht und um sich ein wenig bei ihnen zu rächen. Ich meine, wenn Sie darauf beharren, daß unser Alternativangebot für Sie keine technische Lösung darstellt.
Also, ich verstehe Herrn Gehring absolut, sagte Friedrichshain dann und guckte Meinhard an. Sie drehten sich im Kreis.

Als sie gerade aus der Ergebnislosigkeit dieses Mittags in die Cafeteria aufbrechen wollten, klingelte sein Handy. Er mußte vergessen haben, es auszustellen und wunderte sich jetzt nur, daß ihn so lange niemand angerufen hatte. Entweder hatten sie hier keinen Empfang, oder das Teil war schon wieder kaputt. Auf dem Display sah er Kathrins Nummer. Gehring entschuldigte sich kurz bei Meinhard und Friedrichshain und drückte den Anruf verärgert weg.

In der Cafeteria bestellten sich Meinhard und Friedrichshain beide das vegetarische Tofu-Gericht, Gehring nahm das Schnitzel mit Fritten, dazu aus lauter Frust ein alkoholfreies Weizen. Er hatte sich gefragt, ob sie Völkl hier vielleicht treffen würden. Jetzt war es aber schon fast vierzehn Uhr, und sie waren bereits die letzten an der Essensausgabe.
Die Cafeteria lag im obersten Stock des Gebäudes. Meinhard schlug einen Fensterplatz an der Seite vor, von dem aus man einen noch besseren Ausblick als von ihrem Büro hatte.

Das Gespräch kam etwas schleppend in Gang. Gehring dachte an drei Massenspeichersysteme an einem Mittagstisch, gefangen im Desinteresse aneinander, um ein sich potenzierendes Datenwachstum überhaupt noch irgendwie in den Griff zu bekommen und auf eine unterkomplexe Lösung herunterzubrechen, die sich mit ihrem Bonuspunkteprogramm vereinbaren ließ.
Der letzte Ausweg, die letzte Nähe war vielleicht ein mechanisch-medizinischer Umgang miteinander. Hier diente ihm als Vorbild sein letzter Besuch beim Orthopäden. Der drahtige Marathonläufer hatte ihm den Wirbel auf herkömmlich grobe Weise wieder eingerenkt und dabei seine Aktionen kommentiert, als spräche er mit einem Vollidioten: So, und jetzt macht der Muskel so, und dann tut das Gelenk so. Damit sich alles wieder einrenkte.

Meinhard und Friedrichshain ließen die Hälfte von ihrem Tofu liegen. Gehring hatte sie nach der letzten Sendung von Christiansen gefragt, jetzt sprachen sie über ihre Hobbies: Meinhards Hobby war Kino (selbstverständlich wußte sie, wer Tom Cruise war). Von dem letzten Film, den sie gesehen hatte, war sie allerdings enttäuscht. Gehring hatte weder Titel noch Regisseur je gehört (Friedrichshain dagegen schon). Aber er kannte den Film, den Meinhard davor gesehen hatte: Über zwei Freundinnen vom Prenzlauer Berg, die sich von ihrem Leben (und den Männern!) nicht unterkriegen ließen. Kathrin hatte den Film auch gesehen, und Gehring konnte ein paar Bemerkungen über die Dialoge und eine der beiden Hauptdarstellerinnen beisteuern.
Friedrichshains Hobby war natürlich auch Kino, aber daneben spielte sie in ihrer Freizeit noch Volleyball. Gehring fragte sich, ob sie einen Freund hatte.
Wir haben gehört, daß Sie ja auch so ein großer Sportler sein sollen, sagte Meinhard in der Art von Leuten, die sich für Sport nicht im geringsten interessieren.
Sie spielen doch regelmäßig mit Herrn Völkl Fußball, oder?, fragte Friedrichshain.
Ja, aber das ist nun wirklich eine reine Hobbyrunde, wiegelte Gehring ein wenig onkelhaft ab. Er mußte jetzt aufpassen: Er wollte nicht illoyal erscheinen, aber auch nicht mit Völkl unter einer Decke aus Amigotum und Sportspezi-Seilschaften erwischt weden. Außerdem versuchten sie zweifellos, den alten Vertrag zwischen P&M und xCom auf ihn, also Völkl - und gegebenenfalls eben Völkl und ihn - abzuwälzen.
Wir haben neulich mal wieder telefoniert, er scheint eine Menge zu tun zu haben.
Meinhard lächelte ihn an: Das kann man so sagen. Es gibt da gewisse Unregelmäßigkeiten, aber das ist Sache des Investitions-Controlling.
Gehring spürte, wie Meinhards Angespanntheit bei diesem Thema jetzt auf ihn abfärbte, da er natürlich heillos damit beschäftigt war, sie zu spiegeln. Wegen seines Rückens saß er ohnehin die ganze Zeit kerzengerade da, jetzt versuchte er, sich ein bißchen bequemer und selbstbewußter hinzusetzen, das ganze möglichst schmerzfrei.
Meinhard ihrerseits nutzte diese Gelegenheit, es ihm gleichzutun – jeder spiegelte jeden, und wer das einmal für zwei Minuten vergaß, konnte sämtliche soziale Beziehungen bei ihrem Zusammenbruch beobachten. Entschuldigen Sie, das klingt ja furchtbar, wie ich hier rede. Meinhard lachte. Als wären wir vor Gericht. Ich, also, ich will hier wirklich nicht die Pferde wild machen. Ich glaube, das sind alles nur Gerüchte. Sie wissen ja, es wird gerne erzählt.
Tja, das Leben ist kein Ponyhof. Gehring konnte es sich nicht verkneifen, den Spruch an Friedrichshain zu richten, um sie wieder ins Gespräch einzubeziehen: Aber Sie kennen Herrn Völkl doch auch privat oder?
Na ja, die Angesprochene fuhr sich durchs Haar und errötete leicht. Wir waren mal was essen. Sonst nichts, nur Smalltalk unter Kollegen halt.
Das ist ja auch eine hohe Kunst, warf Gehring ein, um von seiner Unverschämtheit abzulenken und von seinem Internet-Test zu erzählen. Er mußte jetzt das Gespräch wieder ein bißchen auf Touren bringen, nicht zu originell, das kam schnell stronzig rüber, aber auch nicht einschlafen!
Smalltalk, zitierte er die Homepage sinngemäß, ist für die Karriere von höchstem Wert. Denn jeder Kontakt beginnt mit einem guten Gespräch. – Das ist eigentlich kaum zum Aushalten, oder?
Er wurde jetzt fast ein bißchen laut, aber sie waren mittlerweile auch allein in der Cafeteria.
Friedrichshain lachte hell auf, führte die Hand zum Haar, überlegte es sich dann aber anders und nahm sie wieder runter.
Was ist denn?, fragte Meinhard.
Mir ist nur gerade eingefallen, daß das auf deutsch ja Kleines Gespräch heißt.
Wissen Sie was, Sie sind ein Schatz, Julia!, sagte Meinhard.

Möchte noch jemand was? Kaffee?, bot Gehring sich an.
Vorsichtig stand er auf und lächelte den beiden zu. Wenn man bewußt ausatmete, konnte man sich auf das Stechen im Rücken ein bißchen vorbereiten.
Er ging die Fensterfront entlang zur Toilette. Draußen in der Ferne fuhr gerade ein ICE durch die Felder, nach Hamburg oder Hannover. Dann fiel sein Blick wieder auf die Reklametafel mit der Zivilisten-Nationalmannschaft, und Gehring fiel plötzlich überhaupt kein Grund mehr ein, warum Meinhard ihm überhaupt noch in irgendeiner Form entgegenkommen sollte. Auf dem Plakat stand: Dieses Trikot trägt niemand nur so, und etwas in ihm sackte nach unten weg.
Zügig ging er aufs Klo, steckte sich die rosa Krawatte ins Hemd und kauerte sich über die Schüssel. Es kam nichts. Er mußte nur ein wenig würgen. Vorsichtshalber blieb er jedoch in der gebückten Haltung, auch wenn in seinem Iliosakralbereich ein wilder Schmerz tobte, den er allmählich leid war – wieviel Zeit verwendete er am Tag, um in sich hinein nach diesem Schmerz zu horchen?
Auf dem Klo erklang von irgendwo die ganze Zeit Radio Paradiso. And I will turn your face to alabaster, hatte Gehring damals schon gehört, when you find your servant is your master.

Gebeugt ging Gehring zum Waschbecken, wusch sich die Hände und das Gesicht. Im Spiegel hatte er gerötete Augen und gerade, als er zu den Papierhandtüchern neben dem Seifenspender greifen wollte, ahnte er etwas über sein Fußballspiel, das er lieber nie gewußt hätte. Es war ein Gefühl, als wenn man sich zum ersten Mal aus einem ganz anderen, vernichtenden Winkel sah, auf einem Video oder von der Tribüne aus. Und dabei mit fremdem Blick etwas sah, das sich nie mehr zurücknehmen ließ, wie eine Meinung über etwas, das man immer für seine Stärke gehalten hatte.

Sein Handy klingelte. Er sah auf die Nummer, räusperte sich und ging ran. Kathrin fragte ihn, ob er daran denken würde, später noch einkaufen zu gehen. Dann entschuldigte sie sich, daß sie vergessen hatte, daß er in dem Meeting war. Wie es gelaufen wäre. Gehring erzählte seiner Frau, daß es mit dem neuen Senior Buyer von P&M sehr gut laufe, in dem Sinne, daß er jetzt da rausgehe und den Scheiß-Deal für Zweifünf drunter abschließen würde. … - Christoph?, hörte er Kathrin noch sagen.

Herr Gehring, sind Sie okay? Wir haben uns schon Sorgen gemacht …
Meinhard war aufgestanden, als er an den Tisch zurückkam, und schob ihm den Stuhl hin. Es gab jetzt keine Probleme mehr in dieser Cafeteria. Auf ihrem Tisch standen drei volle Sektgläser. Meinhard hatte ihre rote Brille abgenommen und schaute ihm in die Augen.
Nein, sagen Sie jetzt nichts! Sie gab ihm ein Glas. Ich habe gerade einen Anruf bekommen, und was soll ich sagen: Wir machen’s. Ihr Angebot steht, Einsfünf drunter. Das Controlling hat Grünes Licht gegeben.
Sie stießen an, es war Apfelsaftschorle. Alles hatte sich geändert. Er hatte den Kunden behalten, Meinhard und Friedrichshain bekamen ihre Bonuspunkte, und Völkl würde bald gekündigt werden. Gehring würde bei Null aus der ganzen Sache rausgehen, und die Hoffnung war ein lukratives Folgegeschäft.
Sie tranken. Er wußte bloß nicht, wie es passiert war.
Wir dachten vorher, Sie wären auch nur wieder so ein … na ja, Key Account Manager eben, traute sich Friedrichshain ihm anzuvertrauen.
Gehring freute sich. Meinhard und Friedrichshain freuten sich. Und dann freute sich Gehring noch einmal.

Im winterlichen Nachmittagsabendrot ging er mit gelockertem Schlips und wie von zu viel Apfelsaftschorle betrunken zu seinem Audi zurück. Es war wieder etwas kälter geworden, knapp unter Null, schätzte er, und das Gefühl, verarscht worden zu sein, kam langsam wieder zurück. Es war sein Grundgefühl nach jedem Geschäftsabschluß, als wäre es sein Weltverständnis, wie mit der Muttermilch aufgesogen. Gehring fragte sich, ob Meinhard das ganze als ihren Erfolg oder seine Niederlage betrachtete. Nach dem zweiten Glas Apfelschorle hatte sie fast ein wenig sorgenvoll nachgefragt, ob Einsfünf für ihn auch wirklich realisierbar wären. Er drückte auf die Fernbedienung, der Wagen entriegelte sich mit einem Woop und doppeltem Aufleuchten der Außenblinker. Sein Handy ertönte, das SMS-Signal, er fühlte sich jetzt umgeben von diesen kleinen Geräuschen. Es war nicht schlimm, er hoffte nur, daß es nicht sein Chef war.
> drück dir die daumen bei den fotzen. hoffe, du zeigst es ihnen. <
Absender Völkl, Uhrzeit Elf Uhr Dreiundvierzig (was war nur mit seinem Handy los?), Status Antworten, Speichern, Löschen. Gehring drückte auf Beenden.

Willkommen, meldete sich die Frauenstimme des GPS. Im Wagen roch es immer noch neu, obwohl es ein Leasingmodell war. Es gab da so ein Spray, das die Händler benutzten. Auf dem GPS-Monitor erschien wieder die Satelliten-Animation, ein Auge raste auf die Erde zu. Falsche Richtung, dachte Gehring. Nordhalbkugel, Europa, Deutschland – Berlin – Brandenburg.
Bitte geben Sie Ihre Zielführung ein.
Auf der Windschutzscheibe waren Schlieren. Gehring nahm ein Tempo und wischte, aber die Schlieren blieben. Er wischte noch mal, den Rücken gekrümmt, die Schultern hochgezogen. Dann hörte er auf und atmete aus. Es war von außen. Er hatte den Wagen heute morgen nach dem Waschen wachsen lassen und anschließend vergessen, die Scheiben mit dem kleinen blauen Spezialtuch zu säubern, das sie einem dazugaben.

Die Müdigkeit, die ihn angesichts dieses kleinen blauen Spezialtuchs überkam, das er jetzt in der schmalen Ablage unter der Handbremse entdeckte, füllte ihn aus. Ein gewaltiges, tränentreibendes Gähnen stieg von den hinteren Zahnplomben auf, verschluckte ihn und den ganzen Audi, dann den Parkplatz, das Firmengebäude und die Felder dahinter - wie alt war eigentlich das Eis auf den Feldern?! - Denn die Müdigkeit ging immer weiter, machte auch am Bahndamm nicht Halt und mündete in ein kleines Wäldchen westlich davon, wo sie sich in der Dunkelheit des Unterholzes langsam wieder einkriegte.
Gehring konnte es im letzten Tageslicht nur eben noch erkennen, und das war jetzt wichtig. Das Unterholz war seine letzte Behauptung. Durch das Unterholz in der Dämmerung fiel ihm jetzt – und warum sonst gerade jetzt?! – das alte Dreistufenmodell wieder ein, das sie damals in Philosophie gelernt hatten. Pneumatiker, Psychiker, Hyliker. Sein Banknachbar Peter Krone und er. Das alles war jetzt siebzehn Jahre alt. Und er bekam es nicht mehr richtig zusammen: Pneumatiker hatte etwas mit der richtigen Atmung zu tun, die höchste Erkenntnisform, die nur wenigen zuteil wurde. Psychiker waren verloren zwischen den Welten, Himmel und Hölle in einer Person, die hoffnungslos durch den Wind war, wie der Name schon sagte! Und Hyliker, das waren die Letzten. Die Typen aus dem Unterholz, die es einfach nicht brachten, auch nur einmal im Leben den Kopf aus der eigenen Scheiße zu erheben. Ihre Begeisterung damals kannte keine Grenzen. Ein halbes Schuljahr lang war das ihr Lieblingswort, der Hüü-licker im Unterholz! Ein Zauberspruch, den man sich auf den Grabstein meißeln lassen wollte: Hier liegen nur noch Hyliker.

Gehring saß allein im Wagen und weinte. Bitte geben Sie Ihre Zielführung ein, sagte die Frauenstimme wieder. Er zog die Schultern hoch und drehte den Kopf langsam hin und her, um die Nackenmuskulatur zu entspannen. Dann atmete er tief aus und blickte noch einmal zum Firmengebäude zurück. Die Buchstaben P&M leuchteten rot und bedeutungslos auf dem Dach. Zwei Stockwerke tiefer erkannte er eine Silhouette, die in einem hellerleuchteten Büro am Fenster stand und regungslos auf den Parkplatz blickte. Wahrscheinlich dachte sie, warum zum Teufel fährt er nicht los oder wann fährt er endlich los.