Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Clemens Meyer, Autor (Bild: Johannes Puch)
Clemens Meyer
Reise zum Fluss
Wir nannten ihn „Boxer“, weil seine Nase so platt geprügelt war, dass sie fast in seinem Gesicht verschwand.
Wenn ich abends mit ihm am Fenster saß und wir im Licht der Scheinwerfer rauchten und auf die Nacht warteten, legte er manchmal seine große Hand auf sein zerschlagenes Gesicht und ließ sie dort, bis wir aufstanden und zu unseren Betten gingen.
Es gab jede Menge kaputtgeschlagene Typen bei uns, ich sah sie während der Arbeit, ich sah sie auf den Gängen und dem Hof; es gab auch welche, die mit richtig schönen Gesichtern reinkamen und kaputt wieder gingen, aber ich habe keine Nase in der ganzen Zeit gesehen, die so platt wie die vom Boxer war.
In den Nächten, wenn ich wach lag und er schlief, machte seine Nase pfeifende Geräusche, und wenn ich lange zuhörte und so vor mich hindachte, wurden richtige kleine Lieder daraus.
„Heh, Boxer, spiel mal was anderes“, sagte ich leise, aber er hörte ganz auf zu pfeifen, er war aufgewacht und wälzte sich über mir rum. „Weißt du“, flüsterte er mit seiner heiseren Nachtstimme, „weißt du, dass ich mal wirklich… früher…“
„Ja“, sagte ich, „erzählen sie jetzt überall. Da is so ’n Typ rein, letzte Woche, so ’n Kurzer, schon bisschen grau…“
„Wolfgang“, flüsterte er.
„Ja“, ich nickte paar Mal, obwohl er’s nicht sehen konnte.
Clemens Meyer, Autor (Bild: Johannes Puch)
„War schon immer ’n Schwätzer“, flüsterte er.
Er wälzte sich über mir rum, ganz kurz konnte ich seinen Fuß im Licht des Knastmonds sehen; wir hängten unsere Handtücher vors Fenster, denn die Scheinwerfer waren draußen auf dem Hof und vor den Mauern, aber ganz dicht kriegten wir es nie. Ich hörte ihn atmen, und paar Minuten später fing er wieder an zu pfeifen.
„War kein Schlechter“, hatte Wolfgang gesagt und Zigaretten verteilt, weil er Schiss hatte, „damals in der Zone. Nicht die absolute Spitze, aber paar Mal kurz vor Olympia.“
Der Boxer hatte mir das nie erzählt, obwohl wir schon über zwei Jahre zusammen lagen. Der Boxer redete nicht viel, und wenn er mal anfing, weil die Russen Samogon vorbeigebracht hatten, erzählte er von seiner Tochter, die musste so siebzehn, achtzehn sein.
Er hatte noch einige Jahre vor sich, er hatte wohl mal einen umgehauen, und der war dann nicht wieder aufgestanden, Kneipensache, Streit, Geld, Frauen, keiner wusste was Genaues, und er hatte natürlich nie was von erzählt.
Einer der alten Pennbrüder, die kamen und gingen und jetzt im Winter wieder alle da waren, hatte mir mal gesagt, dass der Boxer sogar ein Rundläufer gewesen war, ein Lebenslanger, denn er hatte angeblich nicht nur den einen umgehauen, sondern auch einen Wachmann, der ihn festhalten wollte, ins Koma geprügelt, und der schlief dann so tief, dass er nie wieder aufwachte.
„Der Boxer hat frei gedreht, der Suff“, sagte der Pennbruder und wackelte mit dem Kopf und rollte so mit den Augen, dass mir schwindlig wurde, „haben ihn dann auf zehn, elf gedrückt, der Suff, verstehste.“
„Verstehe“, sagte ich, und der Alte leckte sich über die Lippen, und ich gab ihm ein bisschen Tabak. Aber ich glaubte nicht, dass der Boxer zwei Kalte mit sich rum trug, und die Penner quatschten jede Menge Scheiß, wenn sie langsam trocken wurden.
„Die hätten ihn am Fluss bauen sollen“, sagte der Boxer. Wir saßen am Tisch, wie jeden Morgen, draußen wurde es langsam hell, das Fenster war offen, obwohl es kalt war und geschneit hatte, und wir aßen und blickten über die Mauern auf die kahlen Bäume und die Stadt. „Wen?“, fragte ich, obwohl ich wusste, was er meinte. Er tippte an einen der Stäbe, und ich nickte. „Wär vielleicht besser gewesen.“
„Die Aussicht, verstehste.“ Er schob seinen Teller zur Seite und stand auf.
„So ’n Fluss, wenn du den immer sehn kannst, auf so ’nem Fluss ist immer was los.“ Auch ich stand auf und stellte mich neben ihn, und wir blickten auf die Häuser, weit weg, hinter denen irgendwo der Fluss sein musste. Er drehte zwei Kippen und reichte mir eine rüber. „Guckst ihn dir dann an?“
„Den Fluss?“ Ich gab ihm Feuer, und er nickte.
„Vielleicht“, sagte ich.
„Kriegst doch deinen Urlaub, was?“
„Sieht so aus. Aber bei denen weißt du nie.“
„Willste dann verreisen?“
„Is doch bloß ’n Wochenende.“
„Ich meine, richtig verreisen.“ Er blickte mich an, und ich sah, wie aus seinem einen Nasenloch, das nur noch ein Strich war, ein dünner Rauchkringel kam.
„Nee, die finden dich doch sowieso. Verreisen…“ Ich lachte, und auch er lächelte und schnippte seine Kippe durch die Stäbe. „Und… und willste dann
wohin, haste was Wichtiges vor?“
„So dies und das“, sagte ich, „nach Leipzig, das übliche, weißte doch.“
„Unsere Stadt“, sagte er. Ich drückte meine Kippe in den Schnee auf dem Fensterbrett. Er drehte zwei Neue, rauchte sie an und reichte mir eine rüber.
„Willst zu deiner Schwester, was?“
„Nee, lieber nicht. Die hat grad geheiratet.“
„Kind?“
„Ja. Noch ganz neu.“
„Als meine Tochter…“ Er schnippte seine halb gerauchte Kippe zum Fenster und machte es zu. Ich nahm den Aschenbecher vom Tisch und legte mich aufs Bett. „Wegen deinem Urlaub…“ Der Boxer drehte sich kurz zu mir um, dann lehnte er seine Stirn an die Scheibe. Ich rauchte und blickte auf seinen Rücken, war ein ziemlich breiter Rücken, vielleicht war er im Halbschwergewicht gewesen, vielleicht sogar eins drüber, in seinen großen Tagen, in denen er es fast bis Olympia geschafft hatte; ich zog an meiner Kippe, bis ich die Glut an meinen Lippen spürte. „Wenn du auf Urlaub gehst…“, sagte der Boxer dumpf gegen die Scheibe und bewegte seinen Kopf hin und her. Ich drückte meine Kippe in den Aschenbecher, der Schlüssel knallte ins Schloss, der Boxer drehte sich zur Tür, ich sprang auf, der Ascher fiel auf den Boden, ich schob ihn mit dem Fuß unters Bett, der Schließer stand in der Tür, sieben Uhr, Arbeitsbeginn.
„Wenn du auf Urlaub gehst“, sagte der Boxer mitten in der Nacht, als er aufwachte, „hörst du…“ Ich antwortete nicht, ich atmete nicht, aber er redete einfach weiter, weil er wusste, dass ich wach lag. „…und wenn du dann in der Stadt bist, in Leipzig… verstehst du, Junge…“ Ich hasste es, wenn er „Junge“ zu mir sagte, ich hatte meinen Dreißigsten im letzten Sommer mit ihm gefeiert. Er hatte Samogon und Angesetzten von den Russen organisiert, und dann hatte er die ganze Nacht von seiner Tochter erzählt, bis er einschlief. „Hat so dunkle Haare, fast schon schwarz, nich von ihrer Mutter, nee. Hat sie bis über die Schultern gehabt, früher, weißte… Und guck genau, wie sie jetzt aussieht, hörst du, Junge, guck sie dir so genau an, dass… Wie groß sie ist und so, die Augen, auch die Augen…“ Er stieg die Leiter runter, ich sah ihn dunkel vor meinem Bett, ich richtete mich auf und lehnte mich an die Wand. „Klar“, sagte ich, „ich erzähl dir von ihren Augen, wenn’s weiter nichts ist.“
„Ist noch was“, sagte er, und ich hörte, wie er durch die dunkle Zelle zum Tisch lief und sich setzte. Sein Feuerzeug klickte, und dann sah ich den Glutpunkt seiner Kippe, der sich hin und her bewegte, während er sprach. „Sind zwei Schwuchteln, schulden mir noch was. Machen keinen Ärger. Haben so ’ne kleine Bude. Bier, Schnaps, Fischbrötchen. Ich geb ihnen Bescheid, dass du kommst. Ist nicht viel. Nimm es und gib’s ihr. Is ’ne Überraschung. Sie macht doch jetzt Lehre, hat nicht viel. Dir vertrau ich. Und sag ihr… sag ihr…“
„Ich sag’s ihr, Boxer.“ Ich lehnte an der Wand, zog die Bettdecke zu mir ran und über mein Gesicht und atmete durch den Stoff.
Der Boxer stand am Fenster. Aber als ich zu ihm hoch blickte und kurz die Hand hob, war ich mir gar nicht mehr so sicher, war doch so weit weg jetzt, waren auch die Drahtrollen dazwischen, oben auf der Mauer. Ich blickte auf die große Uhr am Turm, zehn vor elf, wie immer. Ich merkte, dass es schneite, und wischte mir den Schnee aus den Haaren. Dann lief ich langsam vom Tor weg, drehte mich noch mal um, sah die Pförtnerin hinter der Scheibe, alt und weißhaarig, die schließt schon seit dem Führer, sagten wir. Ich lief an dem kleinen Laden vorbei, der jetzt zu hatte, sah die original Knastartikel hinterm Schaufenster, Kartoffeln, garantiert ökologischer Anbau, Holzfiguren, Körbe, meine Körbe, ich war ein prima Korbflechter geworden in den Jahren. Ich blieb an der Gedenktafel stehen, die ein paar Meter neben dem Laden auf einem kleinen Parkplatz war. „Zur Erinnerung an die Opfer der faschistischen Gewaltherrschaft im Fort Zinna“. Jemand hatte Blumen in den Schnee gelegt. Da war noch ein anderer Gedenkstein, ein Stück weiter, denn auch der Russe war mal hier gewesen. Als ich damals ankam, war ich zwischen den Steinen hin und her gelaufen, bis es dunkel wurde und ich zum Tor ging. Ich stellte meine Tasche ab und blickte am Knast vorbei auf die Felder. Ich zündete mir eine an und hockte mich hin. Ich drückte meine Hand in den Schnee und spürte, wie er zwischen den Fingern schmolz und blickte immer noch auf die weißen Felder und zog an meiner Kippe, bis ich merkte, dass der Schnee sie ausgemacht hatte.
Ich fuhr mir mit der nassen Hand übers Gesicht und stand auf. Ich warf die Kippe weg und lief Richtung Bushaltestelle. Ich kam an dem Flachbau vorbei, in dem die Freigänger wohnten, zwei standen vor der Tür und nickten mir zu. Ich hob kurz die Hand, die Finger leicht auseinander, so legten wir sie oft an Scheiben, Türen, Wände. Als ich mich paar Meter weiter noch mal umdrehte, blickten sie mir immer noch hinterher, die Hände in den Taschen.
„Getränke Welt“, „Sport Corner“, „Torgau grüßt seine Gäste“. Der Bus fuhr so schnell, dass mir fast schlecht wurde, aber ich wusste, er würde langsamer werden, je länger wir fuhren. Jemand hatte mir mal erzählt, dass ihm das große Kotzen gekommen war, als er nach fünf Jahren das erste Mal wieder Bus fuhr.
Ich spürte, wie die Leute auf meine kleine Reisetasche und mich starrten und lehnte meinen Kopf an die Scheibe. Als wir an der Brauerei vorüberfuhren, wollte ich aussteigen, blieb aber sitzen. Der Bus hielt an einer Kreuzung, und ich sah das Schild „Riesa 182 km“ neben mir. Dort gab es einen großen Jugendknast, draußen vor der Stadt, bei Zeithain, mitten auf dem Feld, aber für den war ich ein paar Jahre zu alt. „Wie viel Zeit ist’s jetzt schon, Junge“, fragte der Boxer. „Sind schon paar Jahre geworden“, sagte ich, „so alles in allem.“
„Kann auch nicht klagen“, sagte der Boxer. Wir spielten Schach, und ich bot ihm einen Bauern an. Er fraß ihn, und paar Züge später kriegte sein König richtig auf die Fresse. Er war eben doch nur als Boxer eine Nummer gewesen.
Schach hatte ich vor über zehn Jahren in Zeithain gelernt. „Traudis Inn“. Ich stieg aus. Der Bahnhof war eine Haltestelle weiter, aber die Züge nach Leipzig fuhren den ganzen Tag, und ich ging rein zu Traudi. Die Tür fiel hinter mir zu, und ich machte sie noch mal auf und blickte nach draußen. Der Bus fuhr die Straße runter, Richtung Bahnhof, und ich sah ein paar Köpfe, die sich hinter der großen Heckscheibe bewegten. „Heh, wird kalt“, sagte jemand, und ich duckte mich, ließ die Reisetasche fallen und drehte mich um. War nur ein Alter an einem der Tische, der eine Bierflasche mit beiden Händen festhielt und auf die Tischplatte blickte und ziemlich runter aussah. Ich nahm meine Tasche und lief zur Theke. Ein dürrer Kerl hantierte an den Zapfhähnen, aber als ich mich auf einen der Barhocker setzte, sah ich, dass der Dürre jede Menge Lippenstift aufgelegt hatte und wohl eine Frau war. Und als wollte sie’s mir beweisen, streckte sie die Brust raus und lächelte. Sie hatte ein Namensschild an ihrem Kittel, auf dem stand „hier bedient sie Traudi Schmidt“.
Drinnen erzählten sie oft von der dicken Traudi, „hat ’n prima Imbiss, musst du hin, wenn du raus kommst, die dicke Traudi hat das beste Bier in der ganzen Stadt, kannst du glauben“, aber vielleicht hatte sie ja Diät gemacht in den Jahren. „Tag“, sagte ich. „’n Bierchen und ’n Braunen, was?“, sagte sie und lächelte und blickte auf meine Reisetasche und drückte ihren dürren Rücken so durch, dass ich mir Sorgen um ihre Bandscheiben machte. „Kaffee“, sagte ich, und sie drehte sich um und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Ich suchte in meinen Taschen und legte einen Zehner auf die Theke. „Können Sie den klein machen?“ Traudi stellte meinen Kaffee neben den Schein. „Klar“, sagte sie und nahm ihn. Sie hielt den Zehner zwischen Daumen und Zeigefinger und bewegte ihn wie einen kleinen Fächer vor ihrem Gesicht hin und her und lächelte mich so an, als hätte sie noch andere Geschäfte gemacht, früher, als sie noch dick gewesen war. Ich wickelte den Würfelzucker aus, tauchte ihn in den Kaffee und sah zu, wie er sich langsam auflöste. Traudi grinste mich immer noch an und strich jetzt mit dem Schein um ihre Lippen. Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee, dann goss ich etwas Sahne dazu und rührte ein paar Mal mit dem Löffel drin rum. „Wie willst es denn haben?“, fragte Traudi und blickte mich über den Schein hinweg an. „Für’n Automaten“, sagte ich. Sie knüllte den Zehner in ihre Faust und beugte sich zur Kasse. Sie wühlte in den Münzen rum und knallte drei Zweier und vier Einer auf die Theke. Ich nickte und lief rüber zum Zigarettenautomaten. Der Alte blickte kurz auf, er hielt immer noch die Bierflasche umklammert, die jetzt leer war. Er sah wirklich ziemlich runter aus, wie die Säufer und Pennbrüder drinnen, wenn sie keinen Angesetzten organisieren konnten. Manche versuchten, selber welchen zu machen, und sammelten jeden Kanten Brot und jeden vergammelten Apfel, den sie kriegen konnten, aber meistens hatten sie keine ruhige Hand und versauten es. „Ein kleines Bierchen“, sagte der Alte, „ein schönes kühles Bierchen. Und ’n Braunen dazu, verstehste. Denkst doch an mich, trinkst doch auf mich?“
„Klar“, sagte ich, „’n Doppelten nur auf dich. Gleich wenn ich am Bahnhof bin.“ Der Alte lächelte, und ganz kurz hörte sein Kopf auf zu wackeln und auch seine Augen waren ganz ruhig. Die Münzen klapperten durch den Automaten, und ich drückte meine alte Marke. Ich musste Geld nachwerfen, die Preise hatten sich geändert. Ich beugte mich runter und nahm die Schachtel. Ich blickte mich um, Traudi hatte sich jetzt selbst einen eingeschenkt und trank und blätterte dabei in einem dicken Katalog, der vor ihr auf der Theke lag. Sah aus wie Unterwäsche und Klamotten. „Heh, Kollege, haste mal eine?“ Der Alte blickte mich an, neigte den Kopf ein wenig und ließ seine leere Flasche los.
Ich steckte die neue Schachtel in die Innentasche meiner Jacke und gab dem Alten vier von den Selbstgedrehten, die der Boxer mir am Morgen zugesteckt hatte, „für die Reise, Junge“. Er rauchte das billigste Kraut, das wir „Sackhaare“ nannten, aber an manchen Abenden, wenn wir am Fenster saßen und auf die Nacht warteten und Zigaretten tauschten, schmeckten seine Kippen besser als Davidoff Filter. Ich zahlte meinen Kaffee und ging raus.
Ich sah vier Apotheken, bis ich am Bahnhof war, drei davon in derselben Straße. Vielleicht waren die Leute in Torgau besonders schwach und wurden schnell krank, oder sie schlugen sich öfters mal die Fressen blutig und brauchten dann jede Menge Verbandszeug.
Im Schalterraum standen ein paar Typen, und ich kaufte meine Karte am Automaten. Die Bahnhofskneipe machte erst abends auf, und ich stand vorm Fahrplan und rauchte und las die Namen der Städte, bis sie meinen Zug ansagten und ich merkte, dass ich fror und mir ein bisschen übel war. Auf dem Bahnsteig stand ein Mädchen mit einem Hund. War sogar ein ziemlich hübsches Mädchen, vielleicht noch bisschen jung, so siebzehn, achtzehn, dunkle Haare, fast schon schwarz und bis über die Schultern, und ihre Augen…
Der kleine graue Hund trippelte um sie rum, und sie ging ein paar Schritte, damit die Leine sich nicht um ihre Beine wickelte. Ich ließ meine Tasche fallen und hockte mich hin, denn der kleine graue Hund trippelte in meine Richtung und blieb ein paar Meter vor mir stehen, vielleicht reichte die Leine nicht oder sie hielt ihn zurück. Aber ich sah sie gar nicht mehr, obwohl sie wirklich ziemlich hübsch gewesen war; da war nur noch der kleine graue Hund vor mir, mitten auf dem Bahnsteig. Er hob den Kopf und schnüffelte, seine Nase glänzte, ich hielt ihm meine geöffnete Hand hin, die Finger leicht auseinander, der Hund trippelte ein wenig hin und her und jaulte leise, ich hörte den Zug einfahren und stand auf.
Und dann die Nacht. Eigentlich war es noch Abend, aber schon seit vier wurde es dunkel, und ich sah die vielen bunten Lichter der Stadt. Ich stand vor der Haustür, blickte auf die Autos, die vorüberfuhren, blickte auf die Leuchtschilder und Schaufenster der Läden und Kneipen gegenüber. Die Türken und Araber hatten vor Jahren das Viertel übernommen, und auch der Russe mischte bisschen mit, und damals, bevor ich gegangen war, hatte ich ein paar Mal Ärger auf den Straßen gehabt, wenn wir nachts von Kneipe zu Kneipe zogen, aber das war schon lange vorbei. Ich machte die Tür auf und ging nach drinnen. Ich nahm das Geld aus meiner Reisetasche, zählte es durch, rollte es zusammen und steckte es in die Innentasche meiner Jacke. Das Geld roch nach Fisch, und auch die zwei Schwuchteln in ihrer kleinen Imbissbude hatten nach Fisch gestunken.
„Der Boxer, hat dich geschickt, was? Wohnst mit ihm zusammen, was?“
Der Typ zwinkerte mir zu und beugte sich über die kleine Verkaufstheke, „hat auf mich aufgepasst, hat immer auf mich aufgepasst, damals“, er erzählte von ihrer großen Freundschaft, von der Ehre des Boxers, „lässt keinen hängen, lässt dich nie im Stich, kannst du glauben“, und erzählte, wie der Boxer kurz vor Olympia gewesen war, damals. Er stellte eine Büchse Bier vor mich hin und machte sich selbst eine auf. „Trink erstmal einen. Bist auf Urlaub, was? Trinken wir auf den Boxer.“ Ich stieß mit ihm an, und wieder fing er an zu erzählen, vom Boxer und vom Knast und von ihren großen Zeiten. Der andere Schwule war die ganze Zeit still und schnitt Brötchen auf und Heringe, und als er sich an den Zwiebeln zu schaffen machte und der Schwule Nummer eins immer noch quatschte, schnippte ich meine halb gerauchte Kippe zu ihm über die Theke und sagte: „Wird Zeit.“ Er grinste und nickte und ging mit mir zu einem kleinen Wohncontainer, den er „mein Büro“ nannte, und auch dort stank es nach Fisch und Bier und Zigaretten.
Ich lief langsam die Treppe hoch. Im Haus war es still, und als das Licht ausging, blieb ich stehen und zündete mir eine an. Ich lief langsam im Dunkeln weiter. Durchs Türfenster fiel Licht. Ich blieb stehen und legte die Hand auf das Gitter. „Mach mal zu, will dir was zeigen.“ Ich schloss das Fenster, drehte mich um und spürte das Gitter immer noch kalt auf meiner Hand. Der Boxer stand mit nacktem Oberkörper vor seinem Bett. „He, Alter, was soll’n das werden?“
„Will dir nur was zeigen, Junge, komm doch mal her, komm doch mal näher ran.“ Er hatte seine große Hand auf seine Brust gelegt, und ich ging langsam zu ihm rüber. Er hatte die üblichen Schriftzüge und Bilder auf seinen Armen und ein großes Auge mitten auf seinem Bauch, aber das alles hatte ich schon oft gesehen in den zwei Jahren, in denen wir zusammen lagen. Der Boxer war nicht ganz so bemalt und beschrieben wie die Litfasssäulen, die ich beim Duschen sah und die ihr ganzes Leben auf ihrer Haut mit sich rum trugen, aber aller paar Monate ging er zu einem von unseren Haustätowierern. „Is was ganz Neues, kennste noch nicht, noch ganz frisch. Brauch ich kein Foto mehr. Nie wieder. Hab sie alle weggeschmissen. Ist sie jetzt immer bei mir.“ Er nahm die Hand von seiner Brust. Da war das Gesicht einer jungen Frau, die hatte schulterlange schwarze Haare und lächelte. Ihre Augen waren viel zu groß, fast wie in den japanischen Comics. Sie musste wirklich noch ziemlich frisch sein, denn ihr Gesicht war entzündet, vor allem auf der Stirn und unterm Mund, denn es gab keine Tattoopflege-Sets im Fort Zinna. „Sieht richtig schön aus“, sagte ich, und der Boxer nickte und wurde ein bisschen rot. Ich blickte auf seine Tochter, die mich mit ihren großen Augen anlächelte. „Komm rein“, sagte sie. Ich blickte auf ihre Nase, dann auf ihre Haare, die ziemlich kurz waren, und dann auf ihre Augen… jetzt zwinkerten sie und blinzelten mich an. „Komm rein“, sagte sie noch mal, „nun komm doch schon rein.“ Sie drehte sich um, und ich lief hinter ihr her durch den Flur. Vielleicht hatte der Boxer ihr Bescheid gegeben, vielleicht die Fischbrötchenschwuchteln. „Die Tür“ sagte sie, und ich ging noch mal zurück und machte sie zu.
Sie saß auf dem Sofa, und ich blieb vor ihr stehen, und sie blinzelte so zu mir hoch, dass ich ein paar Schritte zurücktrat. Ich hielt meine kleine Reisetasche mit beiden Händen fest und blickte mich um. Sah alles ziemlich billig aus, aber der Boxer hatte mir ja erzählt, dass sie gerade irgendeine Lehre machte, als Hotelfachfrau oder so. „Willst was trinken?“ Ich nickte. Sie ging an mir vorbei zur Schrankwand, und ich hörte wie sie hinter mir mit Gläsern hantierte. Sie ging ein paar Schritte, und dann spürte ich ihren Atem in meinem Nacken. Ich hielt meine Tasche fest und blickte an die Wand überm Sofa. Da hing irgendein nachgemachtes modernes Bild, auf dem nur Farbkleckse waren. Sie ging langsam zum Sofa und stellte zwei Gläser mit braunem Schnaps auf den Tisch. „Setz dich doch“, sagte sie, strich über die Sofapolster und neigte den Kopf und lächelte, das musste sie bei ihrer Lehre gelernt haben.
Ich stellte meine Tasche auf den Boden und setzte mich neben sie. „Hast eine kleine Reise gemacht wegen mir, stimmt’s“, sagte sie und rückte näher an mich ran. „War nicht allzu weit“, sagte ich. Ich nahm mein Glas, roch nach „Goldbrand“, schmeckte auch so.
„Bist jetzt froh, dass du hier bist, stimmt’s?“ Sie rückte wieder ein Stück von mir weg zur Sofalehne, streifte ihre Schuhe ab und machte ihre Beine lang, sodass ihre Füße mein Knie berührten. Ich griff nach meinem Glas und schob es auf dem Tisch hin und her. Dort stand auch ein Aschenbecher, und ich nahm meine Zigarettenschachtel. Ich fühlte die Geldrolle in der Innentasche. „Biste lieb, haste mal eine?“ Ich zündete meine Zigarette an und reichte ihr die Schachtel rüber. Sie fingerte sich eine raus und legte die Schachtel auf ihr Bein. Ich wollte ihr Feuer geben, aber sie nahm die Zigarette aus meinem Mund und drückte sie an ihre. Ich stand auf und griff in meine Innentasche. „Hör mal…“
„Jetzt renn doch nicht gleich weg.“ Sie sprang so schnell auf, dass ihre Zigarette und meine Zigarette und auch die Schachtel auf den Teppich fielen, aber sie kümmerte sich gar nicht drum und drückte sich ganz dicht an mich ran und legte ihre Arme um mich. Sie hatte wirklich Kraft, obwohl sie so klein war. Ich wollte sie irgendwie wegdrücken, das Geld auf den Tisch schmeißen und verschwinden, mich irgendwo verkriechen und auf Montag warten, aber sie hielt mich fest umklammert, die Kraft musste sie vom Boxer geerbt haben.
„Das geht nicht“, sagte ich, aber sie hing immer noch an mir dran und rieb ihr Gesicht an meinem Hals, das musste ihre Nase sein, nein, die konnte sie nicht vom Boxer geerbt haben, aber vielleicht hatte der mal die schönste Nase der ganzen Stadt gehabt, bevor er es fast bis Olympia geschafft hatte. Sie fummelte an meinem Hosenstall rum und sagte: „Da musst mir aber noch was geben, weißt du doch...“
Ich spürte die Geldrolle in der Innentasche, aber ich wusste, dass sie die nicht gemeint hatte, und ich wusste jetzt auch, dass weder der Boxer noch die Fischbrötchenschwuchteln ihr Bescheid gegeben hatten. Ich packte sie an den Schultern, ließ sie aber sofort wieder los, weil ich ihre dünnen Knochen spürte. Ich nahm mein halb volles Glas und schmiss es in die Schrankwand, sodass Scherben und Schnapstropfen bis zu uns spritzen. Sie ging langsam ein paar Schritte von mir weg und blickte mich mit den großen Augen der japanischen Comics an. Ich stolperte zurück und setzte mich aufs Sofa. Ich nahm ihr Glas und trank es aus. Da stand plötzlich der Typ mitten im Raum. „Ärger“, sagte er und kam zu mir rüber. Er lief ziemlich langsam, und ich hätte ihn mit dem Glas mitten im Gesicht erwischen können, stellte es aber wieder auf den Tisch. Ich stand auf. Ich sah, wie er zum Schlag ansetzte, bewegte mich aber nicht. Er hatte eine gute Rechte, und ich ging zu Boden. Ich drehte mich auf die Seite und blickte unterm Tisch durch. Sie hockte jetzt vor der Schrankwand, das Kinn auf den Knien, und ich blickte ihr direkt ins Gesicht. Ich stand auf. Der Typ gab mir sofort zwei, drei Dinger, und wieder ging ich runter und blickte unterm Tisch durch auf die Tochter vom Boxer, die immer noch vor der Schrankwand hockte und sich nicht bewegte. Ich spürte Blut auf meinem Gesicht. Ich sah die Beine des Typen direkt neben mir, ich hätte sie packen, ihn umreißen und kaputtmachen können, aber ich stand wieder auf und blickte ihn an. Er schlug nicht sofort zu, und ich blickte über seine Schulter an die Wand. Der Typ knallte mir sein Knie in den Bauch, mir blieb die Luft weg, und ich ging in die Hocke.
„Bleib unten, Arschloch.“ Er schlug wie ein Profi und redete auch so. Ich hob den Kopf ein wenig und sah, wie sie sich nach vorne beugte und beide Hände auf dem Teppich hin und her bewegte, als würde sie mit irgendwas spielen. Ich stand langsam auf und schloss die Augen. Er erwischte mich ziemlich schlimm, und ich spürte, wie meine Nase zu Bruch ging.
„Heh, Junge“, sagte der Boxer, „bist ja fast so schön wie ich.“
„Dumm gefallen“, sagte ich, „in der Stadt, das übliche, weißt du doch.“
„Hat sie dich so gesehen? Hast ihr doch keine Angst gemacht?“
„Nein, nein Boxer, war zuerst bei ihr, war alles bestens. Geht ihr gut. Hat sich gefreut, das Geld und so, hat sich richtig gefreut.“
„War ja nicht viel, aber sie lernt noch, in ’nem richtigen Hotel. Da kriegt sie nicht viel, muss sie sparsam sein.“
„Ich weiß.“
Ich stand auf der Brücke und blickte auf den Fluss. Links und rechts auf den Uferwiesen waren noch paar Reste vom Morgennebel. Ich hörte die Autos hinter mir, war ziemlich viel Verkehr, Wochenanfang. Weit weg sah ich einen Schlepper auf dem Strom. Er schien sich nicht zu bewegen, vielleicht fuhr er rüber zu den Tschechen, vielleicht in meine Richtung und dann weiter nach Hamburg zum Meer. Ich zündete meine letzte Aktive an und schmiss die leere Schachtel in den Fluss. Meine Nase fing wieder an zu bluten, und ich zog ein Taschentuch aus meiner Innentasche. Es roch nach Fisch, genau wie das Geld. Ich hatte es unten im Haus in ihren Briefkasten gesteckt. War wirklich nicht viel, knapp über Tausend, aber sicher waren es die letzten Reserven des Boxers aus seiner großen Zeit, in der er es fast bis Olympia geschafft hatte. Ich blickte noch einmal auf den Fluss, ein paar Eisschollen verschwanden unter der Brücke, eine blieb an der roten Fahrrinnenboje hängen, kam dann los und trieb weiter. Ich presste das Taschentuch an meine Nase, schmiss meine Kippe in den Fluss und ging nach Hause.