Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Hanno Millesi, Autor (Bild: Johannes Puch)
Hanno Millesi
Werktagsüber
Vormittags gehe ich im Park spazieren. Mittlerweile kenne ich die Anlage bis ins Detail. An zahlreichen Bäumen befinden sich Hinweisschilder, die über die jeweilige Baumart, Baumrasse oder -familie Auskunft geben. Ich halte das für eine hervorragende Einrichtung, da von uns Städtern kaum einer weiß, mit welchem Baum er es zu tun hat. Um das herauszufinden, muss man aufs Land fahren, wo es einem die Einheimischen erklären und dabei jedes Mal eine Miene aufsetzen, als handle es sich um eine unfassbare, eine nahezu beleidigende Frage.
Ein paar Schritte vom Eingang entfernt befindet sich ein künstlich angelegter Teich. Ein Betonbecken, in dessen Zentrum eine dicht bewachsene Insel befestigt ist. Über flache Stufen gelangt man auf eine Plattform ganz nahe am Wasser. Mit ein wenig Mühe ließe sich eine Hand in die Flüssigkeit halten.
Trotz der niedrigen Temperatur schwimmen Vögel im Teich. Zunächst halte ich sie für Enten, weibliche Enten, denn ihr Gefieder ist von verschiedenen Brauntönen fleckig. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Es könnten auch andere Wasservögel sein.
Hanno Millesi, Autor (Bild: Johannes Puch)
Sie schwimmen in einer Dreiergruppe, und immer wieder taucht eines der Tiere seinen Kopf unter, wahrscheinlich auf der Suche nach einer saftigen Alge. Ich frage mich, ob diese Vögel in der Lage sind, den Winter in einer von Menschen geschaffenen, einer künstlichen Landschaft zu überstehen. Werden sie gefüttert? Gibt es irgendwo einen wettergeschützten Schlafplatz für sie? Zweifellos verbringen sie den Großteil des Winters in einer ihren körperlichen Bedürfnissen angepassten Atmosphäre. Wahrscheinlich holt irgendwer diese Tiere rechtzeitig, bevor es kalt wird, ab und bringt sie in ein für sie vorgesehenes Areal. Es ist ihnen nicht möglich, Jahreszeiten bedingte Reisen zu absolvieren wie ihre Vorfahren. Sie können nur hier auf dem Wasser dahin schwimmen, vielleicht ab und zu untertauchen, bis die Oberfläche des Zierteiches eines Tages vereist ist. Dann frieren diese Vögel wohl unweigerlich am Eis fest und gehen elend zugrunde; sofern sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch am Leben sind.
Während ich über das Schicksal dieser sonderbaren Geschöpfe nachdenke, beobachte ich, wie eines von ihnen vollständig untertaucht. Nicht nur sein Kopf verschwindet, wie das bei allen dreien abwechselnd der Fall ist, sondern sein gesamter Körper stürzt hinterher. Über dieses Manöver verwundert, tippe ich auf eine spezifische Technik der Jagd. Möglicherweise handelt es sich ja um Vögel, die gelegentlich auch kleine Fische essen. Zierfische, wie sie sich um diese Jahreszeit von einem Wasservogel noch ab und zu aufspüren lassen.
Von dem Vogel ist jedenfalls nichts mehr zu sehen. Er ist zur Gänze verschwunden. Schnabel, Kopf, Federkleid mitsamt dem kleinen erdfarbenen Körper. Ich beschließe zu warten, bis er sich wieder an der Oberfläche zeigt. Womöglich hat er dann einen Fisch im Schnabel, um ihn mit seinen Kameraden zu teilen. Diese scheinen sich nämlich geeinigt zu haben, ebenfalls auf ihren Gefährten zu warten. Sie umkreisen schwimmend jene Stelle, an der dieser untergetaucht ist.
Ich stelle mir die Situation unter Wasser etwa folgendermaßen vor: Der Kopf des Vogels kommt ganz plötzlich herunter geschossen, um nach einem ahnungslosen Fisch zu schnappen, der auf vieles gefasst sein mag, allerdings nicht auf einen riesigen Vogelschnabel. Nicht mehr um diese Zeit im Jahr. Das Fischlein zappelt eventuell noch ein wenig, wahrscheinlicher aber bekommt es, starr vor Schreck, den Übergang vom Leben zum Tod gar nicht mehr mit. Die ganze Angelegenheit ist in wenigen Augenblicken erledigt. Der Fischkörper quält sich wie ein sperriges Trumm im aufgerichteten, längst wieder an der Oberfläche erschienenen Hals des Jägers Richtung Magen, während die Gefährten des Vogels verärgert quaken, weil ihr Kollege ihnen nichts von seiner Beute übrig gelassen hat. Danach schwimmen die drei weiter, als wäre nicht das Geringste vorgefallen, bis einer es erneut für richtig hält, von einer plötzlichen Intuition erfasst, unterzutauchen.

In den Park komme ich, seit es mir in der Einkaufspassage zu gefährlich geworden ist. Das Risiko, erkannt zu werden, ist dort unverhältnismäßig höher. In der Parklandschaft ist die Sicht beinahe unbegrenzt. Man sieht Passanten bereits von weitem und kann ihnen ausweichen, ehe man in ihr Blickfeld gerät. Um diese Jahreszeit hält sich außerdem kaum jemand im Park auf. Schon gar nicht vormittags. Ein paar ältere Menschen mit ihren Hunden, Mütter, die Kinderwägen vor sich herschieben, vereinzelte Jogger. Niemand, der mir gefährlich werden könnte.
Alle für mich relevanten Personen befinden sich entweder in der Schule, an ihrem Arbeitsplatz oder im Einkaufszentrum. Oder sie sind mit Haushaltsarbeit beschäftigt. Deswegen drehe ich hier zwischen acht Uhr und etwa halb zwei meine Runden.
Nicht jeder muss wissen, dass ich von der Schule gewiesen worden bin. Es ist schlimm genug, dass das meinen ehemaligen Klassenkameraden und meinen Lehrern mitgeteilt worden ist. An manchen Tagen stelle ich mir vor, unter meinen früheren Mitschülern ginge das Gerücht um, ich hätte eine weite Reise angetreten oder sei von einer seltsamen Krankheit befallen worden; einer, von der Ansteckung ausgehe, weshalb von Besuchen dringend abgeraten werde. Vielleicht hat man meinen Klassenkameraden das erzählt, um sie nicht mit den harten Fakten der Realität zu konfrontieren.
Ich jedenfalls habe, gleich nachdem mir das strenge Urteil mitgeteilt worden war, beschlossen, mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Niemand, der nicht unweigerlich von dieser Veränderung in meinem Leben betroffen ist, soll Kenntnis davon erlangen. Ich gebe mir Mühe, den Eindruck zu vermitteln, es wäre weiter nichts vorgefallen. Selbstverständlich möchte ich keinerlei Vorteil davon haben, mir keinen Müßiggang angewöhnen, nicht lang schlafen oder mich etwaigen Vergnügungen hingeben, die anderen verwehrt bleiben, nur weil kein solches Unglück über sie hereingebrochen ist.
Die beiden an der Oberfläche verbliebenen Vögel beschließen offenbar, nun doch nicht länger abzuwarten. Sie drehen ab und steuern auf das der Plattform für Spaziergänger gegenüber liegende Ufer zu. Auch ich wundere mich allmählich, wo der untergetauchte Vogel bleibt. Dermaßen lange kann es ein so kleines Lebewesen unmöglich ohne Sauerstoffzufuhr aushalten. Und was hat es zu bedeuten, dass seine Kameraden nach kurzem Zögern wieder Fahrt aufnehmen?

Ohne mit meinen Eltern darüber gesprochen zu haben, weiß ich, wie viel ihnen daran liegt, die Fassung zu bewahren. Mindestens soviel wie mir.
In ihren Augen ist es entscheidend, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Das meiste renkt sich irgendwann ganz von selbst wieder ein. Es ist nicht notwendig, Menschen, die das nichts angeht, auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen. Zum Außenseiter wird man erst im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie allein entscheidet, inwieweit man noch dazugehört. Die eigene Stimme zählt gar nichts. Nur der Chor der anderen. Die anderen sind objektiv. Und sie stürzen sich auf jeden, der die Unvorsichtigkeit begeht, sich eine Blöße zu geben. Es mangelt der Öffentlichkeit nämlich an Außenseitern; Außenseitern, die es verdienen, als solche behandelt zu werden. Wenn nun jemand wie ich unbestreitbar eines der Kriterien des Außenseitertums erfüllt, gibt es für die Öffentlichkeit keinerlei Grund so zu tun, als wäre weiter nichts geschehen.

Von dem Vogel fehlt nach wie vor jede Spur. Seine beiden Kameraden sind mittlerweile ebenfalls verschwunden. Die Wasseroberfläche hat sich beruhigt. Ich nehme mir vor, mich in Geduld zu üben, ein Verhalten, zu dem die Parklandschaft anstiftet; zwischen ihren dezenten und dicht bewachsenen Hügeln habe ich mich mit dieser Geduld vertraut gemacht.
Entweder hält uns das Tier alle zum Narren und ist längst irgendwo unbeobachtet an Land gegangen, oder ihm ist etwas zugestoßen. Vielleicht leben Raubfische unter der Wasseroberfläche, und ein solcher hat sich die Ente ganz einfach geschnappt, als diese, nichts ahnend, in eine Alge beißen wollte. Möglicherweise ist eine bislang unbekannte, eine unberechenbare Fischart aus den Abfällen, die Parkbesucher unvorsichtiger Weise in den Zierteich geworfen haben, hervorgegangen. Und diese sorgt nunmehr dafür, dass immer wieder ein Wasservogel verschwindet. Am Ende gehören diese brutalen Übergriffe bereits so sehr zum Alltag, dass die Gefährten des unglücklichen Vogels kaum eine Träne über den Verlust ihres Kameraden vergießen. Bestenfalls bedanken sie sich mittels der wie beiläufig um die Stelle seines Verschwindens gezogenen Kreise, weil es genauso gut einen von ihnen hätte erwischen können.
Die Wahrheit liegt natürlich irgendwo dazwischen. Weder ist so ein Tier imstande, mich zu überlisten, noch finden in diesem Teich derartige Massaker statt. Es gibt eine nachvollziehbare Erklärung, und die wird sich mir erschließen, weil mir die dafür notwendige Eigenschaft zur Verfügung steht: Geduld.

Wichtig ist, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen. Für die Menschen in meiner Umgebung hat sich nichts geändert. Ich trete nach wie vor jeden Morgen den Schulweg an. Ordentlich gekleidet und ausgestattet mit meiner vollgepackten Schultasche verlasse ich das Haus, in dem sich die Wohnung meiner Eltern befindet.
Ich habe all jene Unterlagen eingepackt, die ich an diesem Schultag benötigen würde, wobei ich über etwaige Änderungen im Unterrichtsplan natürlich nicht informiert bin. Außerdem habe ich seit dem Tag, an dem ich von der Schule gewiesen wurde, nichts mehr in meine Hefte eingetragen. Wie ich es seit Jahren gewohnt bin, nehme ich den Abgang zur U-Bahn, bleibe an manchen Morgen vor dem Zeitungskiosk, an anderen vor dem Stand mit Süßigkeiten stehen. Erst ab diesem Zeitpunkt verhalte ich mich seit einigen Monaten anders als zuvor, denn ich benütze die Menge, um mich in ihrer Unübersichtlichkeit zu verlieren. Ich mache das so, dass niemandem – es sei denn, er wäre extra auf mich angesetzt – etwas auffällt. In der Folge nehme ich dann nicht die U-Bahnlinie, die mich jahrelang zur Schule gebracht hat und auch nicht jene, die zum Einkaufszentrum führt, sondern ich fahre an den Stadtrand, um im Park spazieren zu gehen.
Kurz nach Mittag kehre ich wieder heim, wobei ich mich bemühe, an der U-Bahnstation wie zufällig unter den Fahrgästen aufzutauchen. Ich mache einen ausgelassenen und durchwegs fröhlichen Eindruck, als wäre ich erleichtert, einen teils anstrengenden, teils langweiligen Schultag hinter mich gebracht zu haben. Das Wurstbrot, das meine Mutter mir in der Früh mitgegeben hat, habe ich im Laufe des Vormittags gegessen.
Im Vorzimmer unserer Wohnung angekommen, setze ich die schwere Schultasche ab, antworte der alltäglichen, im Grunde überflüssigen Frage meiner Mutter, ob ich es sei, der da hereingekommen ist, und gehe zu ihr in die Küche. In der Küche nehme ich am Küchentisch Platz. Meine Mutter hat bereits eine kleine Mahlzeit vorbereitet und stellt sie vor mich hin. Sie erkundigt sich, wie der Unterricht gewesen ist, und ich schildere es ihr ausführlich, obwohl ich gar nicht daran teilgenommen habe.
Ich erzähle etwas, das ich mir auf der Heimfahrt vom Park ausgedacht habe. Manchmal schildere ich eine besondere Leistung eines Mitschülers, in Mathematik oder in Turnen, ein anderes Mal hat es eine Rauferei zwischen zwei Mädchen gegeben, oder ein Klassenkamerad hat aufgrund einer schlechten Note geweint. Ich selbst tauche so gut wie nie als Protagonist in meinen Erzählungen auf. Bestenfalls komme ich zufällig vorbei oder werde Zeuge, weil ich mich im selben Klassenzimmer aufhalte.
Manch einen mag es überraschen, aber ich lasse eigentlich kaum jemals einen Lehrer ungünstig aussehen, obwohl mir das nicht schwer fallen würde. Schließlich müsste ich lediglich die eine oder andere Entgleisung beziehungsweise Zudringlichkeit erfinden. Nicht einmal der Direktor schneidet bei mir schlecht ab, obgleich er für meine Misere verantwortlich ist. Ich behaupte höchstens gelegentlich, er sei hochnäsig herumstolziert und habe einen Schüler von oben herab behandelt.
Meine Mutter hört mir aufmerksam zu und stellt hier und da eine Frage. Ich glaube, sie ist in diesen Momenten, in denen ich mittagesse und mich mit ihr unterhalte, glücklich darüber, einen Sohn zu haben, der den Facetten des Alltags aufgeschlossen gegenübersteht. Das alles geht letztlich auf ihre Erziehung zurück; auf ihre und die meines Vaters.
Zuweilen erkundigt sich meine Mutter nach einem meiner Mitschüler, einem von denen, die mich früher öfters besucht haben. Ich berichte in diesem Fall entweder, dass derjenige gemeinsam mit seinen Eltern eine weite Reise angetreten habe oder von einer schwerwiegenden Krankheit befallen worden sei. Sofern meine Mutter der Meinung ist, man müsse einen kranken Freund besuchen, weise ich sie darauf hin, dass akute Ansteckungsgefahr bestehe. Dieser Hinweis genügt, und meine Mutter verbietet mir einen etwaigen Besuch strengstens.

Die Wasseroberfläche liegt nach wie vor unbeweglich da. Die beiden übrig gebliebenen Vögel haben sich zurückgezogen. Sie kommen nicht einmal mehr ans Ufer, um nach ihrem Gefährten zu sehen. Vielleicht befindet dieser sich ja auch auf einem ausgiebigen Raubzug. Eventuell beherrscht er eine Technik, die es ihm erlaubt, unbemerkt an die Oberfläche zu kommen, um seine Vorräte an Sauerstoff aufzufüllen. Während ich mich wundere, frisst sich der Vogel womöglich satt. Einem solchen Bedürfnis geht so ein Tier lieber ungestört nach. Ohne Zeugen, ohne neugierige Artgenossen, die eine derartige Neigung zur Intimsphäre widerspruchslos akzeptieren. Ich werde jedenfalls weiterhin abwarten und mich schlussendlich als ausdauernder erweisen als eine Kreatur, die mich an Degeneriertheit übertrifft.

Ich kann nicht behaupten, stolz darauf zu sein, meiner Mutter täglich neue Märchen aufzutischen. Andererseits erfüllt mich ihre sichtliche Zufriedenheit mit Genugtuung. Kaum jemand verdient Gelegenheiten, sich an etwas zu erfreuen, wofür er gelebt hat und weiterhin lebt, eher als meine Mutter. Niemand. Außer vielleicht mein Vater, aber der ist um diese Zeit nicht zu Hause.
Ein Vorteil der täglichen Unterhaltung am Mittagstisch liegt in der unausgesprochenen Abmachung, dass sie vorbei ist, sobald ich gegessen habe und mich erhebe. Es ist kaum vorstellbar, dass ich, nicht am Mittagstisch sitzend, nach der Schule befragt werde. Würde das passieren, empfände ich keinerlei Verpflichtung, Rede und Antwort zu stehen.

Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass meinem gefiederten Freund etwas zugestoßen ist. Seine beiden Kameraden haben das längst begriffen und die Unglücksstelle emotionslos, ohne irgendein Anzeichen des Mitgefühls geräumt. Vielleicht hat sich der Pechvogel beim Versuch, eine besonders schmackhafte Wasserpflanze zu entwurzeln, im schlüpfrigen Gestrüpp des Zierteichgrundes verfangen und unhörbar um Hilfe gerufen, bis ihm die Luft ausgegangen ist. Allerdings fehlt mir der endgültige Beweis. Ohne Leichnam dürfen bekanntlich keine endgültigen Schlüsse gezogen werden. Und irgendetwas in mir scheint die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben. Würde ich ansonsten weiterhin hier sitzen und auf einen vor Ewigkeiten untergetauchten Vogel warten?

Während ich am Mittagstisch sitze und meiner Mutter erzähle, was sich vormittags in der Schule ereignet hat, befindet sich mein Vater in der Bankfiliale und arbeitet hinter einem Schalter. Er liebt den direkten Kontakt zu den Kunden und ist für seine freundlichen Umgangsformen bekannt. Ich verdanke ihm gleich viel wie meiner Mutter und würde nichts tun, was die Grundsätze seiner Weltanschauung ins Wanken brächte. Im Gegenteil – ich bin mir meiner Rolle im Rahmen unseres Zusammenlebens bewusst. Da ich das Wesen meines Vaters schätze und auch verstehe, habe ich keinen Augenblick gezögert, in seinen Vorschlag einzuwilligen, mich nach außen hin vorläufig zu verhalten, als wäre weiter nichts geschehen. Über eine etwaige Bestrafung werden wir später sprechen. Zunächst gilt es, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Worin bestünde der Vorteil, die gesamte Nachbarschaft über meine missliche Lage zu informieren? Soll man mit dem Finger auf uns zeigen? Soll man sich fragen, ob meine Eltern in den entscheidenden Punkten meiner Erziehung richtig gehandelt haben? Besteht daran irgendein Zweifel? Einstweilen nicht; kommt diese Sache ans Tageslicht, wäre ich mir nicht mehr so sicher.
Würde sich denn irgend jemand die Mühe machen, die näheren Umstände zu analysieren? Wohl kaum. Man wird uns als Bande von Versagern bezeichnen, weil das leicht von der Zunge geht, sofern es jemand anderer ist, auf den dieses Etikett passt.

Um nicht permanent auf die bewegungslose Wasseroberfläche zu starren, betrachte ich zur Abwechslung die Umgebung. Hinter den sanften, mit Wiese überzogenen Hügeln öffnet sich die Parklandschaft mit Geäst und Bewölkung. Alles liegt still da, um von mir betrachtet zu werden. Nichts rührt sich. Niemand, außer einem gekrümmt über den Parkweg schleichenden, verwahrlosten Mann. Er trägt einen zerrissenen, ausgebeulten, arg verschmutzten Regenmantel, eine Hose, die ihm viel zu groß ist, und mehrere Plastiktüten, in denen sich höchstwahrscheinlich seine gesamte Habe befindet. Ich kann das zwar nicht sehen, sein Anblick verrät es mir allerdings mit der gleichen Gewissheit, mit der ich begreife, dass der bedauernswerte Vogel besser mit seinem Schicksal zurecht käme, wüsste er, dass jemand – noch dazu ein Mensch – oben auf ihn wartet.
Dieser Mann besitzt nichts anderes, und falls doch, dann trägt er in den Plastiksäcken all das, was er tagsüber in diversen Mülltonnen gefunden hat. Seine tägliche Ausbeute. Abfall, Dreck, Mist, eingewickelt in das Verpackungsmaterial mondäner Läden, ausgesuchter Supermärkte, Konsumtempel, exklusiver Parfümerien, deren Schriftzüge infolge der Ausdünstungen des alten Mannes unleserlich geworden sind.

Ob mein Vater meine Mutter eingeweiht hat, weiß ich nicht. Falls ja, spielt sie die Rolle der Ahnungslosen mit bewundernswerter Überzeugung. Manchmal während meiner Schilderung des Schulalltags glaube ich, in ihrer Miene einen Anflug von Komplizenschaft zu erkennen. Oder handelt es sich dabei um einen scheuen Vorwurf wegen meines Misstrauens?
Ich selbst wage es jedenfalls nicht, irgendetwas zu verraten. Das käme einem Vertrauensbruch gegenüber meinem Vater gleich. Außerdem gibt es gar nichts zu verraten. Gegenseitige Aufrichtigkeit und eine gewisse Fairness lassen sich als das Fundament unseres Familienverbandes bezeichnen. Einer ist für den anderen da und gibt ihm das Gefühl, in alle wesentlichen Prozesse eingebunden zu sein. Jede Stimme zählt.
Als ich meinem Vater die Entscheidung des Schuldirektors mitteilte, verfinsterte sich zunächst seine Miene. Diese Verdunklung traf mich mitten ins Herz, sah es doch kurz danach aus, als wisse mein Vater in einer dermaßen verfahrenen Situation keinen Rat.
Was für eine Erleichterung, als er gleich darauf einen Plan fasste, der uns vor dem Schlimmsten bewahrt! Gibt es eine überzeugendere Bestätigung für den Zusammenhalt und die Unverwundbarkeit unserer Familie?

Die Stulpen an den Hosenbeinen des alten Mannes schleifen am Boden. Riesige Schuhe ragen unter ihrem Stoff hervor. Trümmer, lederne Ungetüme, angesichts derer einem wohl nichts anderes übrig bleibt, als fortwährend weiter zu laufen, vorwärts zu gehen, nicht anzuhalten, wie es der krumme alte Mann jetzt tut, um sich dem Teich und damit dem vor längerer Zeit verschwundenen Wasservogel zuzuwenden. Ich habe einen Verbündeten. Jemanden, der das alles ebenso wenig glauben kann. Einen Zweifler.

Mit meinem Vater verbindet mich in dieser Angelegenheit noch ein weiterer Umstand. Ich habe von Beginn an geahnt, dass er mir zu einem solchen Verhalten raten würde. Alles lief darauf hinaus, ob ich bereit sein würde, meinen Eltern, uns, der gesamten Familie diesen Dienst zu erweisen. Ich bin überzeugt, meinem Vater ist eine derart selbst bewusste Trotzreaktion gegenüber schweren Schicksalsschlägen keineswegs fremd. Für mich stellte sich lediglich die Frage, ob er mich für reif genug hält, kritischen Lebenslagen mit Entschlossenheit gegenüberzutreten. Jede andere Anweisung meines Vaters hätte mich zutiefst verletzt.
Als ich noch so unvorsichtig war und meine Vormittage im Einkaufszentrum verbrachte – in jenen Tagen ging es mir ausschließlich darum, die lange Zeit mit diversen Beschäftigungen zu verkürzen –, erblickte ich meinen Vater einmal völlig überraschend durch das Auslagenfenster eines Schallplattenladens. Er stand mit Kopfhörern über den Ohren an der für Hörproben vorgesehenen Theke.
An und für sich ist nichts Bemerkenswertes dabei, einen Vater in einem Plattenladen stehen zu sehen, aber ich hatte ihm damals noch nichts von meiner schulischen Misere mitgeteilt. Außerdem handelte es sich um einen Zeitraum, den mein Vater wochentags in seiner Bankfiliale in direktem Kontakt mit den Bankkunden verbringt.
Obgleich es mir darum ging, selbst nicht entdeckt zu werden, hatte ich das Gefühl, etwas gesehen zu haben, das ich nicht hätte sehen sollen. Etwas, das niemand zu Gesicht bekommen dürfe. Ein Geheimnis.

Ich versuche dem alten Mann ins Gesicht zu schauen, aufgrund der Distanz gelingt mir das aber nicht. Lediglich seinen Blick treffe ich an, und der begleitet meinen eigenen auf die nach wie vor stille Wasseroberfläche.
Überlegt der Alte, ob er dem Vogel, von dem nach wie vor jede Spur fehlt, folgen soll? Ich an seiner Stelle, überlegte mir das. Mich an meine Plastiktüten mit meinem gesamten Besitz, mit allem, was von meinen ehemaligen Reichtümern geblieben ist, klammernd, liefe ich in den Zierteich, in der Hoffnung, dass mir meine Verluste wenigstens einen letzten Gefallen erweisen und mich mit sich in die Tiefe ziehen würden. Die Position des alten Mannes scheint für einen solchen Abtritt, für eine derartige letzte Flucht geradezu ideal, könnte er doch zunächst den Hügel hinunter laufen, also noch vor dem Erreichen des Wassers ausreichend Geschwindigkeit aufnehmen, bergab rennen, bis an ein abruptes Stehenbleiben nicht mehr zu denken ist und die unvollständige Überzeugung durch volles Tempo ergänzt wird. Ich weiß ganz genau, dass der alte Mann mit diesem Gedanken spekuliert. In diesem Moment. Jetzt gerade. Und daran ist nichts Verwunderliches, da ihm mehrmals am Tag, immer wieder solche Gedanken durch den Kopf gehen. Seit dem Zeitpunkt, an dem er sich ohne Vermögen auf der Straße wieder gefunden hat. Seit er sich eingestehen musste, dass er noch nicht einmal jetzt, im Nachhinein, begriffen hat, welchen Umständen seine bemitleidenswerte Situation zu verdanken ist. Jede konkrete Erinnerung verschlimmert den Schmerz.

Das Gefühl, in einen intimen, einen für mich nicht vorgesehenen Raum eingedrungen zu sein, beschäftigt mich seit der Situation vor dem Plattenladen unaufhörlich. Ich kann gar nicht sagen, was mich mehr daran quält. Die Tatsache, dass es einen Bereich gibt, von dem ich nichts weiß und offenbar auch nichts wissen soll, oder meine Taktlosigkeit, mich ungerechtfertigter Weise davon in Kenntnis gesetzt zu haben.
Erst als ich meinen Vater ein zweites Mal im Einkaufszentrum erblickte, wich diese Bedrücktheit der Überzeugung, uns verbinde etwas Unausgesprochenes, etwas Geheimnisvolles.
Diesmal befand sich mein Vater in der Elektroabteilung vor einer Unzahl von Fernsehgeräten, über deren Schirme die gleichen Bilder liefen. Es handelte sich um eine Kindersendung, Zeichentrick oder so etwas, und mein Vater stand da und starrte wie gebannt auf die bunt flimmernden Silhouetten.

Der alte Mann verharrt auf seinem Weg. Möglicherweise beneidet er den Vogel, der sozusagen unfreiwillig, ohne eigenes Zutun aus einem kummervollen Dasein gerissen worden ist. Einem Dasein, dessen bemitleidenswerten Charakter die Kreatur lediglich noch nicht begriffen hat. Jetzt, rückblickend, irgendwo unter der Wasseroberfläche verheddert und an den Boden des Zierteiches gefesselt, leblos, dürfte sich das Verständnis unweigerlich einstellen.
Der Winter steht vor der Türe, und während dieser Monate bedarf es geradezu eines Wunders, zumindest jedoch einer ganzen Reihe glücklicher Umstände, das Überleben des alten Mannes zu gewährleisten. Soll er sich das tatsächlich noch einmal antun? Wozu? In der Hoffnung worauf?
Unbewusst oder zumindest scheinbar unbeabsichtigt ziehen ihn sicherlich nicht nur Mülltonnen, Abfalleimer, Essensreste, Zigarettenstummel und weggeworfene Kleidungsstücke an, sondern auch günstige Gelegenheiten, mit allem Schluss zu machen. Ausgänge, Hintertüren aus einer Welt, in der das wirtschaftlich ruinierte Individuum vom Schandfleck zur offenen Brüskierung geworden ist. Zu einer Beleidigung aller anderen, zu einer aufgrund ihrer puren Existenz aggressiven Erscheinung. Ein jeder fühlt sich beim Anblick eines solchen Unglücksraben an seine eigene potentielle Zukunft erinnert, an das, was später einmal wird gewesen sein können, das persönliche Scheitern, die absolute Misere, alle erbarmungslosen Lücken im sozialen Netz.

Um die Vorstellung einer Gemeinsamkeit zwischen mir und meinem Vater zu vertiefen, habe ich ihn an jenem Abend gefragt, wie sein Tag in der Bank verlaufen sei. Zugegebenermaßen eine für mich ungewöhnliche Frage, aber ich spekulierte damit, mein Vater könnte mein wachsendes Bemühen, am Alltag der anderen Anteil zu nehmen, darin erkennen. Möglicherweise lenkte ihn so etwas wie Rührung oder Stolz in Anbetracht der sozialen Kompetenz seines Sohnes von jeglichen Verdachtsmomenten ab. Jedenfalls zeigte er sich keineswegs überrascht, sondern schilderte ein paar abwechslungsreiche Stunden in der Bankfiliale derart flüssig, als habe er die längste Zeit auf eine solche Frage gewartet.
Ich fühlte mich meinem Vater während einer Schilderung wie dieser ungemein nahe. Dabei ging es nicht um die einzelnen Vorgänge – die waren liebevoll und detailliert erfunden –, sondern um ein dahinter liegendes, mich mit ihm verbindendes Geheimnis.
Von meiner spürbaren, zum Teil von Erleichterung genährten Begeisterung, dazu animiert, hieß mich mein Vater in seinem intimsten Bereich willkommen.
Sein Bericht eröffnete mir darüber hinaus, dass er sich dazu entschlossen hatte, vor mir und mit ziemlicher Sicherheit auch vor allen anderen geheim zu halten, dass er nicht mehr in der Bank arbeitete. Mir war sofort klar, dass er sich uns zuliebe zu diesem Schritt entschlossen hatte. Wäre er allein stehend, hätte ihm egal sein können, was die Leute über ihn reden. Ob man ihn fürderhin abschreibe, zu den Versagern und dem Ruin und Untergang Geweihten rechne. Da er sich allerdings für uns, meine Mutter und mich, verantwortlich fühlte, galt es, sich nicht das Geringste anmerken zu lassen.

Ginge es nach mir, bliebe dem unglücklichen alten Mann gar keine andere Wahl als loszulaufen, loszustürmen, zu rennen. Hals über Kopf, unaufhaltsam.
Wahrscheinlich dürfte er schon bei den ersten paar Schritten im Wasser bemerken, dass der Zierteich lediglich Knietiefe aufweist. Gerade ausreichend um eine unaufmerksame Ente einzutunken. Mehr nicht. Diese Erkenntnis würde ihn, in voller Fahrt, sozusagen am Höhepunkt der Geschwindigkeit, beim Überschreiten des persönlichen Tempolimits ereilen. Zuletzt brächte er es also nicht einmal zustande, sich im Parkteich zu ertränken, sondern schlüge statt dessen, durch diese neuerliche Höchstleistung an Unfähigkeit abgelenkt, der Länge nach hin und könnte höchstens darüber sinnieren, ob sich aus all diesen Ereignissen eine höhere Botschaft, irgend etwas Lehrreiches herauslesen ließe. Auf alle Fälle wird es zu spät sein, um die ganze Angelegenheit wie Absicht, wie ein kurzfristiges Regredieren in ein so nie da gewesenes Stadium früher Kindheit aussehen zu lassen.

Auf meiner persönlichen Skala ist das Ansehen meines Vaters von diesem Tag an gestiegen. Mit einem Mal sah ich vieles mit anderen Augen. Wer weiß, wie lange er sich bereits mit der immer gleichen ausgelassenen und optimistischen Miene an den Frühstückstisch setzt, nach wie vor in einen seiner steifen Anzüge gekleidet, und mir und meiner Mutter von dem ihm in der Bankfiliale bevorstehenden Tag vorschwärmt, während er doch eigentlich darüber nachdenkt, wie er die Stunden bis zum Einbruch der Dämmerung möglichst unauffällig verbringen könnte.
In seinem Aktenkoffer befinden sich nach wie vor Unterlagen, als hätte sich überhaupt nichts geändert. Ich habe ihn angehoben, um sein Gewicht zu prüfen. Wie üblich verlässt mein Vater vor mir das Haus, wünscht uns einen schönen Tag und verbringt die folgenden acht oder neun Stunden auf den Straßen; im Bestreben, dabei nicht gesehen zu werden.
Ich frage mich, ob mein Vater meine Mutter in die Veränderungen in seinem Leben eingeweiht hat. Falls ja, verstellen sie sich mir gegenüber in beeindruckender Weise. Es könnte allerdings auch sein, dass eine ähnliche, eine unausgesprochene Übereinstimmung zwischen ihnen besteht, wie ich sie in manchen Augenblicken zwischen mir und meiner Mutter vermute. Wenn ich von der Schule erzähle und manches Mal der Meinung bin, einen Funken von Dankbarkeit in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Vielleicht ahnt mein Vater sogar, dass ich über ihn Bescheid weiß, sieht jedoch keinerlei Notwendigkeit, mit mir darüber zu reden. Keine noch so vertrauensvolle Unterhaltung reicht an ein wortloses Einverständnis heran. Darin besteht die eigentliche Übereinkunft.
Vielleicht weiß meine Mutter aber auch nichts, möglicherweise mutmaßt sie etwas und genießt die Geborgenheit, die vom Verhalten ihres Mannes und ihres Sohnes ausgeht. Beide scheuen nicht davor zurück, einzig zu ihrem Wohl, zum Wohl der Familie den Niederträchtigkeiten der Realität zu trotzen.
Was ich nicht weiß, ist, woher unsere Familie ein Einkommen bezieht. Seit mein Vater nicht mehr in die Bankfiliale geht, sondern lediglich vortäuscht, dort weiterhin eine Anstellung zu haben, muss das Geld schließlich woanders herkommen.
Von dieser simplen Überlegung ausgehend, habe ich mir die Frage gestellt, ob meine Mutter tagsüber wirklich mit dem Haushalt beschäftigt ist oder statt dessen heimlich arbeiten geht. Noch fehlt mir jeglicher Beweis, aber ich habe beschlossen, ihr demnächst vor dem Haustor aufzulauern, um dahinter zu kommen, was sie tatsächlich macht, während ihr Ehemann und ihr Sohn am Arbeitsplatz beziehungsweise in der Schule sind. Ehrlich gesagt würde es mich nicht wundern, fände ich heraus, dass meine Mutter irgendwo beschäftigt ist, um die Familie vor einem finanziellen Desaster zu bewahren. Uns gegenüber verschweigt sie das, um uns nicht zu belasten. Mein Vater und ich haben – ob sie darüber nun informiert ist oder nicht – ohnedies Probleme genug. Und schließlich krönt doch erst die unausgesprochene Aufopferung, ein Beitrag, für den man sich nicht loben lässt, den Gemeinschaftsgeist innerhalb der Familie.

Der verwahrloste alte Mann läuft übrigens nicht in den Zierteich, sondern schleicht ebenso bedrückt, wie er gekommen ist, wieder davon. Ich stelle mir vor, wie er auf der spiegelglatten Oberfläche des Teiches einige Bilder aus glücklicheren Tagen projiziert gesehen hat. Diese Erinnerung hat ihn keineswegs erwärmt, sondern ihm lediglich vor Augen geführt, was in der Folge alles passiert ist. Wärmen kann ihn bestenfalls eine Suppe, ein nahrhafter Bissen, eine Mütze oder ein kräftiger Schluck von einem alkoholischen Getränk.