Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Angelika Overath, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Angelika Overath
Das Aquarium
Damals also begannen die Tage, an denen Tobias das Wort ‚Fußgelenk’ nicht mehr ertragen konnte. Auch nicht Fessel, Armbeuge, Nacken, Haar. Immer wenn er spürte, daß so ein Wort bedrohlich auf ihn zukam, versuchte er wegzutauchen. Er trat dann sehr nah an die Scheibe und sah in die Bewegung der leuchtenden Leiber, die mit ihren ruhigen Augen an ihm vorbeiglitten, einen weiten Bogen beschrieben oder blitzschnell wendeten. Fische haben sensible Seitenlinien, ein besonderes Sinnesorgan, das ihnen verrät, wo das Glas beginnt. Auch blinde Fische, das wußte Tobias, stoßen nicht an. Er folgte dem Flossenschlag über die fließenden Anemonen hinweg, vorbei am Gezweig der Korallen, bis in die Muschelkalkhöhlung eines lebenden Steins. Dann war auch er wieder unterwegs.
Einmal hatte er gelesen, in einer jener Apothekenzeitschriften, die die Mutter in niedrigen Stapeln auf der Eckbank sammelte, Schlaflose, die darauf warteten, endlich einschlafen zu können und über diesem Warten nur wacher wurden und in eine gierige Not gerieten, nie mehr Ruhe zu finden, daß solche Schlafkranke es einmal damit versuchen sollten, das Radio einzuschalten. Dieser Rat, so harmlos er klinge, sei wirksam – wenn man es nur richtig mache und das Radio sehr leise stelle, so leise, daß die Stimmen, die Klänge noch gerade zu hören seien, auf keinen Fall also so laut, daß der Schlafsuchende sie einfach entspannt würde aufnehmen können. Denn allein indem er sich anstrenge zu hören, was es vielleicht zu hören gab, in dem Maße, wie er sich einstelle auf die kaum wahrnehmbaren Sensationen, würde er das Einschlafenmüssen vergessen. Und müde, sehr müde, wie er ja war, würde das konzentrierte Horchen sich verlieren und ein diffuser Klangteppich ihn hinübernehmen in den schon nicht mehr erhofften Schlaf.
Tobias hatte das sofort verstanden; ihn trugen Fische fort.
Angelika Overath, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Seit 17 Jahren arbeitete er nun im Flughafen, und seit 17 Jahren ähnelten sich seine Tage und Nächte unter dem flirrenden Klicken der Start- und Landetafeln. Damals, dachte er manchmal, hatten sie ihn nur genommen, weil er keinen Urlaub brauchte, er hatte das ja gleich gesagt. Nein, natürlich hatten sie ihn nicht nur genommen, weil er keinen Urlaub brauchte. Das hatte sie sogar irritiert. Sie hatten sich für ihn entschieden, obwohl er ein Quereinsteiger war, eben kein Biologe oder Tierpfleger. Im Grunde hatte er ja nichts vorzuweisen gehabt, als ein abgebrochenes Theologiestudium, ein paar Jahre als Hilfsbuchhändler. Trotzdem mußten sie ziemlich schnell verstanden haben, daß er für sie genau der richtige Mann war. Denn er hatte vermutlich als einziger wirklich begriffen, was sie vorhatten. Ein Meerwasseraquarium, ein Riffaquarium, sollte als Raumteiler in der erweiterten Transithalle des Flughafen installiert werden. Von einem geplanten 200.000 Liter-Volumen war in den Zeitungen die Rede gewesen. Und innen keine Plastikdekorationen wie bei den populären Tiefsee-Vergnügungsparks, sondern echte Korallen. Er hatte kurz überschlagen: etwa 20 % lebende Steine und dann im verbleibenden Volumen rund zehn Zentimeter Fisch auf 50 Liter Wasser. Fische, die sich in Gefangenschaft vergesellschaften ließen, die keine Freßfeinde waren, aggressiv wurden oder an die Korallen gingen. Vermutlich schneller als die Planer selbst hatte er gewußt, was das täglich, ja mitunter nächtlich bedeutete an Aufmerksamkeit, an Wartung. Und noch bevor die Stelle offiziell ausgeschrieben gewesen war, hatte er sich höflich vorgestellt.

So hatte er ihr die Geschichte natürlich nicht erzählt, als sie dastand, die nackten Arme verschränkt, und zu den Fischen hinübersah, wippend in diesen blauen Turnschuhen. Er hatte nicht angeben wollen.

Langsam ging er an der Glasfront entlang. Im sandigen Areal hob und senkte ein Blaupunktrochenpaar die Brustflossen, als könnte es im Wasser fliegen. Er drehte sich um. Das Klicken wehte wieder herunter wie eine unvermutete Böe, bis sich die Plättchen zitternd beruhigten. Die Maschine aus Tel Aviv war gelandet, die aus Hong Kong auch. Hinter Glasgow und Frankfurt blinkte das rote Licht. Vom gläsernen Halbrund, das die Halle hier gegen Osten hin abschloß, kam surrend ein Strom von Passanten und Rollkoffern vorbei, der sich auf Terminal 56 zubewegte. Dahinter, jenseits der Scheiben, hing schwefeliger Dunst über den Asphaltfeldern. Nur schemenhaft lagen die großen Maschinen da.

Sie hatte nicht gesagt, daß sie wiederkommen würde. Warum auch? Sie mußte wiederkommen. Das war ja ihr Beruf.

Tobias sah, wie ein Harlekinfisch auf seine Wirtsanemone zuschwamm, in die rosa Tentakel ihrer Mundscheibe tauchte, sich drehte und drehte, wieder herauskam und unruhig gegen das Glas weiterschwamm, als nähme er Witterung auf. Tobias sah seinen leicht geöffneten Mund, sein dunkles Auge.
Der Fisch kann nichts dafür, hatte er sich immer wieder gesagt und das Tier gesucht und gehofft, es wäre wieder wie früher. Dabei hatte ihn die Mutter nur überraschen wollen mit diesem neuen Zeichentrickfilm. Sie zwei sollten es gemütlich haben, im Wohnzimmer mit Schokominzdragees auf dem Couchtisch. Und die Mutter hatte sich einen Schlehenlikör eingeschenkt und war zurückgesunken in die hohen Sofakissen. Hilflos hatte er etwas von später und erst-nach- dem-Fischfutter-sehen gesagt, aber sie hatte ihn nur herangewinkt und auf die Fernbedienung gedrückt.
Tobias hatte gleich gesehen, daß es schlimm werden würde. Schon die Farben waren unvergleichlich falsch. Und die Animation, die so gelobt worden war, Animation, dachte Tobias, was heißt schon Animation, wie da die Fische, wie die Algen sich bewegten, und wie das Licht der Tiefe wirkte, das alles hatte etwas, er konnte es nicht sagen, etwas, das in ihm Scham aufkommen ließ. Ja, Scham. Und dann der Plot mit der Flosse, die zu klein war und die der Fischvater Glücksflosse nannte. In der Enge des Wohnzimmers hatte sich der Geruch des Schlehenlikörs mit der Süße des Films verbunden zu einer leicht narkotisierenden Schwüle, die ihn zu würgen begann. Er hatte nicht entkommen können. Wohin hätte er denn schauen sollen? Hätte er der Mutter zunicken müssen, die mit spitzen Lippen am Glas nippte und sich an der piepsenden Unterwasserwelt vergnügte? In seiner Not hatte er versucht, sich nur auf die blauen Flächen zu konzentrieren, auf Momente von Ultramarin und Indigo, Mangan, aber die schnell geschnittenen Szenen entwickelten einen bösen Sog, ein verführerisches Versprechen, das auf fatale Weise eingelöst wurde. Der Film wurde stärker als der Fisch. Amphiprion ocellaris aus der Familie der Riffbarsche war an diesem Abend zu Mutters Nemo geworden.
Und Scharen von Kindern, das hatte er gelesen, spülten nun ihre Fische im Klo hinunter, weil sie glaubten, sie entließen sie damit in Meer.
Tobias spürte, daß seine Hände feucht waren. Er wischte sie an den Beinen seiner Cordhose ab und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Stirn fühlte sich kalt und teigig an. Die Luft im Flughafen war schlecht. Manchmal schien es ihm, das sei das größte Problem an seinem Arbeitsplatz. Nirgends gab es ein offenes Fenster, und die mehrfachen Sicherheitsschleusen verhinderten, daß ein Hauch von draußen hereinkam. Die Klimaanlage, vermutete er, wurde nicht ordentlich gewartet. Was er hier atmete, konnte nicht der optimale Sauerstoffgehalt sein, der in so einer Halle zu erreichen war. Aber wer erkundigte sich schon bei einem Aquaristen?

Meeresfische waren empfindlicher. Schon der ganze Aufwand mit dem Wasser! Das zumindest hatte er ihr erklären können, als sie so am Glas herumzappelte und nicht wußte, was sie tun sollte bis zum Weiterflug. Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie so ein Becken eingefahren wird. Ein bißchen Salz ins Wasser, Fische rein und fertig. Aber so ging es eben nicht. Und schon gar kein Leitungswasser! Er hatte das Wort Ionenzusammensetzung gesagt. Ein schönes Wort, wie er fand. Sie hatte gelächelt. Und dann hatte er von der biologischen Reifung des Wassers gesprochen. Als Photographin konnte ihr Chemie nicht ganz fremd sein, davon ging er aus. Am Anfang zumindest, so jung war sie auch wieder nicht, mußte sie noch in Dunkelkammern mit Entwicklungsbädern gearbeitet haben.

Aber das hatte sie dann doch verblüfft, er hatte gesehen, wie sie auf einmal zuhörte, daß es vier oder auch sechs Wochen dauern konnte, bis das Wasser halbwegs stabil war. Und das waren Wochen im Aquarium, in denen von Fischen noch keine Rede sein konnte. Zunächst, hatte er begonnen, mußte natürlich die Technik installiert werden, Strömungspumpen, Eiweißabschäumer, Heizer, PVC-Verrohrung eingebaut und alles für den Filtersumpf vorbereitet werden, am besten unsichtbar in einer Ebene unter dem Aquarium und doch gut erreichbar. Er hatte eine Geste zum Sockel gemacht und dann hin zum Boden gezeigt. Das Aquariumvolumen, das sie hier sehe, könne sie sich ruhig noch einmal versteckt vorstellen, für die Technik eben. Detailfragen der sensiblen Glasbohrung und Probleme der Dichtung ersparte er ihr. Er sprach auch nicht von Silikonklebern, die ja eine Revolution in der Aquaristik eingeleitet hatten. Also, wenn es dann bei den Probeläufen nirgends sickerte, hatte er erklärt, konnte das Becken gefüllt werden, zunächst mit zwei Drittel aufbereitetem Süßwasser, in das Meersalz eingestreut wurde. Und dann begann das Spiel, das der, der damit anfing, gewinnen mußte. Schließlich ging es um Leben und Tod. So hatte er es aber nicht gesagt. Er wollte nicht pathetisch sein. Deshalb hatte er nur mit Ruhe gesagt, dieses Spiel beginne sehr langsam und dann brauche es Geduld.
Also stehenlassen. Warten. Ein, zwei Tage, ohne Licht, ohne Abschäumer, keine Filteraktivität. Nun begann das Messen, das ständige Justieren mit Salz- und Süßwasser, ein vorsichtiges Ausbalancieren, bis die exakten Dichtwerte erreicht waren. Am vierten Tag vielleicht konnte man lebende Steine dazugeben. Sie wurden unter eine hohe Strömung gesetzt und mit halophilen – halophilen sagte er zuerst, aber gleich war ihm das Wort nicht korrekt erschienen für sie, und er sagte: salzliebenden, mit salzliebenden – Bakterien geimpft. Sie könne sich wohl leicht vorstellen, was jetzt passiere. Wieder hatte sie ihn angesehen. Und vielleicht war ihm nun aufgefallen, daß sie grüne Augen hatte, flaschengrün, schlammgrün, Augen von einem undurchsichtigen Grün jedenfalls. Das ganze also, hatte er gesagt, immer noch im Dunkeln, noch keine Blaulampen an, keine Tageslichtröhren. Nichts. Sie müsse sich das vorstellen: im dunklen Aquarium fließt jetzt stark strömendes, stark aggressives Salzwasser. Das hält niemand aus. Kein Mikroorganismus hält das aus. Alles, was auf den lebenden Steinen lebt, stirbt jetzt ab. Das war sein erster Triumph gewesen. Er hatte gesehen, daß sie staunte. Klar, hatte er langsam gesagt, Tabula rasa. Nun erst beginne im Aquarium die Zeit. Und dann hatte er Licht gesagt. Da hatte die Photographin gelacht.

Zunächst ein paar Stunden am Tag und die Lichtphasen langsam steigern, bis mit einer Beleuchtung von zwölf Stunden der tropische Tag simuliert werden kann. An den lebenden Steinen hängen noch Sporen, Larven, Eier. Nach und nach mußte sich jetzt etwas entwickeln. In dieses Sterben hinein würde es beginnen: Erstes Leben, das war ein bräunliches Schmieren von Kieselalgen am Glas. Dann kamen Blaualgen. In dieser Phase war der Nitritwert immer noch hoch, absolut tödlich für Salzwasserfische. Der Ammoniumgehalt würde langsam zu sinken beginnen. Also beobachten, messen, Glas putzen, Steine bürsten, beobachten, messen. Je nachdem, was man vorhatte, nach drei Wochen vielleicht Caulerpa-Algen einsetzen. Der Nitrit- und Ammoniumgehalt ist jetzt praktisch unten und bald nicht mehr nachzuweisen. Nun kommen algenfressende Schnecken dazu, erste Einsiedlerkrebse. Wunderbar. Nach sechs Wochen endlich beginnt die Zeit der Fische, Doktorenfische am besten, kobaltblau, zitronengelb, robuste Pioniere. Und wenn die dann losschwammen und so über die Steine streiften, als sei diese bemessene Welt schon immer ihr angestammtes Revier gewesen, dann war das – hier hatte er nicht weitergesprochen und nur noch gesagt, daß es gut neun Monate dauern könne, bis ein Salzwasseraquarium wirklich stabil sei und voll besetzt werden könne, manchmal dauere es auch über ein Jahr.
So also, hatte sie geantwortet, wird ein Meer geboren.

Mein Gott, sie hätte seine Tochter sein können. Nein, natürlich nicht seine Tochter, sie war nicht so jung, wie sie aussah. Sie hatte es selbst gesagt. Aber die Kleidung, diese khakifarbenen, weiten Hosen mit den vielen Taschen, und immer sah man hinten einen Streifen Haut. Und ein Stück von einem bunten Slip.
Tobias mochte das Wort Haut nicht denken. Eine durchsichtige Garnele mit weit abgestellten Fühlern und Fühlhörnern ließ sich vor einer Korallenwand sinken, schwerelos sinken wie Wasser in Wasser.

Manchmal gefiel es Tobias, sich so hinter das Becken zu stellen, daß, wenn er mutwillig durch das Aquarium hindurchsah und gegen die gläserne Fassade der Transithalle zu den Rollbahnen hinüber, seine Fische auf einmal um die Flugzeuge herum schwammen, über die Tragflügel glitten oder einfach in den dunstigen Himmel stiegen.
Aber als er sie das erste Mal gesehen hatte, war er auf der anderen Seite des Beckens gewesen. Er hatte die ovale Glasfront im Rücken gehabt und weit in die Flucht der Transithalle hineingeschaut mit dem Aquarium, seinem buntblauen Lichtkörper davor. Und während der Strom der Reisenden über die Scheibe zog, grieselig-transparent wie ein beschädigter Film, war ihm aufgefallen, daß eine Gestalt nun nicht mehr nur als eine Spiegelung vorüberglitt, sondern daß diese Gestalt ganz dicht an das Aquarium herangetreten war und ihr Gesicht an die Scheibe drückte. Er hatte sofort dieses Federnde wahrgenommen, später erst waren ihm die Turnschuhe aufgefallen und das silberne Kettchen an der einen braunen Fessel. Sie zog keinen Rollkoffer hinter sich her. Sie trug einen Rucksack. Und nun begann sie, sich an der Glasfront entlang zu bewegen und seine Fische zu verfolgen. Er wartete nur darauf, daß sie, wie es Kinder manchmal machten, gegen die Scheibe klopfte .Dann würde er sofort: Nicht klopfen, hören Sie! rufen. Sie klopfte aber nicht. Sie hüpfte die Front entlang und um die Ecke herum, und dann sah er vage durch das Wasser, wie sie dort stehenblieb und in die Korallenfinger starrte, wo vermutlich die Seepferdchen hingen. Er trat näher an das Glas heran. Sie hatte ihren Rucksack abgenommen, nestelte darin herum, zog etwas heraus, hielt es vors Auge. Sie hüpfte hinter dem Glas hin und her und hielt nur still, wenn sie auf ein Bild wartete. Als sie das Becken umrundet hatte und wieder auf seiner Seite stand und das Objektiv gerade auf einen Schwarm von Kardinalfischen einstellte, war er von hinten an sie herangetreten. Sie möge bloß nicht auf die Idee kommen, hier mit Blitzlicht anzufangen. Da war sie herumgeschnellt und hatte ihn angesehen, als sei er blöde.

Tobias stand jetzt wieder sehr dicht am Glas. Neben ihm schlängelte eine Grundel in suchenden Freßbewegungen durch den Sand. Er sollte endlich hinuntergehen und den Abschäumer und die Filter prüfen. Ein gelbroter Schwarm von Zwergbarschen zog über einem Anemonenteppich und floh, wie auf geheimen Wink, in eine Felsspalte. Krater, dachte Tobias.
Es war ein Melanom gewesen, ein Melanom am Rücken, und da man damals so etwas sehr großzügig herausschnitt, hatte der Vater immer einen Krater am Rücken gehabt. Vater und Krater waren Zwillingsworte gewesen. Und wenn der Vater, der ja nicht sein richtiger Vater war, aber natürlich doch, er kannte keinen anderen, wenn der Vater also in der Küche rauchte und Hopfenperle trank und die Wurst auf dem Holzbrettchen in exakte Rädchen schnitt und immer wieder mit den Schützengräben und den Bomben und den Bombentrichtern anfing, während er dann die rosa Wursträdchen sorgfältig mit dünnen, grünen Salzgurkenscheibchen belegte, hatte der Vater nicht nur sein entferntes Melanom, sondern auch den verlorenen Krieg auf dem Rücken getragen. Wie die Schnecke ihr Haus. Er war dann aber doch an Lungenkrebs gestorben, langsam über Monate hinweg in einem Krankenhaus. Und so war er, als der Vater in der Klinik zu sterben begann, statt seiner in das Ehebett gekommen. Und irgendwie war er dort geblieben.
Im Gang vor dem Sterbezimmer des Vaters stand ein Aquarium. Von Besuch zu Besuch hatte Tobias neue Fische kennengelernt. Winzige, feingezeichnete Freunde in der Tiefe grün-transparenter Algenwälder. Und als man den toten Vater langsam zur metallenen Aufzugtür rollte, hatte er über die Schulter zurückgesehen zu dem sprudelnden Körper.

Zu seinem zehnten Geburtstag wünschte er sich ein Aquarium. Und dann waren aus einem Aquarium schnell mehrere Aquarien geworden, Zuchtbecken, Quarantänestationen, Behälter für die Jungfische, bald war der ganze Keller voll gewesen mit den blau und grün leuchtenden, leise perlenden Glaswelten. Und wie in Trance war er in der bewegten Dunkelheit gesessen, die nur erhellt wurde durch das Licht, das aus den Wassern kam. Die Mutter hatte hingenommen, daß auf der Fensterbank in der Küche, daß in ihrem Kühlschrank Schalen und Büchsen mit klebrigen oder krümelnden, schleimigen und hüpfenden Substanzen standen, die er als Fischfutter brauchte. Und endlich hatte er sich vorsichtig und mit Erfolg an ein kleines, teures, für ihn schwindelerregend kostbares Salzwasserbecken gewagt.
Das alles hatte er ihr nicht erzählt. Später dachte er, wenn sie wiederkommt, später.
Überhaupt war sie es gewesen, die schnell begonnen hatte zu sprechen, unzusammenhängend, flüchtig, übermüdet wohl, vor der Scheibe in dieser schwimmenden Zeitzone zwischen Bangkok und Paris. Es war die Flughafenzeit, die sie zum Erzählen brachte, diese ortlosen Stunden des Wartens unter dem klickenden Himmel des Transits. Sie hatte sich in einen der gegossenen Plastikstühle gehängt, ja, hineingehängt, gelümmelt und zu den Fischen gesehen und Chips gegessen und aus einer Saugflasche, wie sie die Radrennfahrer an der Stange haben, hatte sie Wasser getrunken. Er war um das Aquarium herumgegangen, hatte mit dem Messer an der langen Stange Algen von den Scheiben gekratzt, die Bewegungsabläufe der Fische kontrolliert, Trockenfutter gestreut, geschnittenes Muschelfleisch. Manchmal war auch sie aufgestanden. Und so hatte es begonnen.

Bali, hatte sie auf einmal gesagt, du kannst nicht mehr nach Bali fahren. Und obwohl sie ‚du’ gesagt hatte, war er nicht sicher gewesen, ob sie zu ihm sprach, wirklich zu ihm, oder doch eher zu sich oder einfach nur gegen die Scheibe hin, hinter der sich das fließende Bunt ruhig veränderte. Da stehst du bei der Einreise in der Zollschlange und wartest. Das ist normal. Hitze, eine trübe Halle, Blüten, Pisse, Schweiß. Alles klebt. So ist es eben. Aber du stehst da und über dir laufen sieben riesige Monitore und spulen die Bilder ab, die jeder Reiseführer druckt. Aber jetzt sind sie bewegt und in perfekter Belichtung. Du stehst, du stehst lange. Und über dir die tanzenden Mädchen, die goldenen Tempel, die Surfer vor den schwarzen Stränden, die Surfer vor den weißen Stränden, die Hochzeitsprozessionen, die sich in Blumen dahinwälzenden Beerdigungsrituale. Und immer wieder von vorne. Du kommst kaum einen Schritt weiter in dieser Schlange. Und du denkst, was soll ich noch auf Bali. Aber du photographierst für diese Magazine, und das, was sie ködern, diese traurigen Touristen, die gähnen nach Glanz und Wirklichkeit.
Sie war aufgestanden, hatte nach der Abflugtafel gesehen, obwohl sie wissen mußte, daß noch Stunden vor ihr lagen, hier in der Halle. Ich bin unterwegs für diese Scheiße, hatte sie gesagt und sich wieder hingesetzt. Sie wollen dasselbe, nur um den winzigen Kick anders.
Dann stand sie wieder am Aquariumglas und machte übertriebene Sprechbewegungen gegen die Scheibe, immer näher, und beobachtete, wie ihr runder Mund sich zeigte. Sie schien nicht zu erwarten, daß er etwas sagte. Was hätte er auch sagen können? Er reiste ja nicht.

Sie aber sprach weiter, immer weiter, rücksichtslos, eine aufgekratzte Schlafwandlerin unter dem Glas des ewig hellen Flughafens. Etwas Restlicht vom Mond reicht schon, hatte er beginnen wollen und ihr die Sache mit den Korallen erklären, aber sie wollte nichts mehr hören und sagte nur: Du denkst, wenn du es wirklich ein wenig besonders machst, dann kommst du drum rum. Und du siehst etwas noch intensiver, noch überraschender. Und schon bist du dabei.
Sie starrte gegen das dicke Glas, und plötzlich sah sie ihn an: Fische können die Augen nicht schließen. Sie haben keine Lider.
Da hatte er nur ein wenig genickt und mit der Hand zu der Muräne gedeutet, die gerade dabei war, in quälender Verzögerung den schmalen, schildkrötenartigen Kopf aus ihrem Rohr herauszuschieben. Aber sie hatte nur China gesagt.

China, Kunming. Ich habe auf dem großen Markt von Kunming eine Wachtelverkäuferin gesehen. Ich habe gesehen, wie sie in die Kästen mit den hüpfenden Vögeln griff und sie flink zu rupfen begann, nein, sie hat sich den Handgriff gespart, ihnen vorher das Genick zu brechen. Nein, nicht rupfen, ich habe gesehen, wie sie ihnen das Gefieder wie einen Handschuh von den kleinen Körpern zog, und dann nahm sie die Schere und schon flogen die Schnäbel, die Beine, die Vogeldärme wie Schreie davon auf den Boden und ein nacktes Nichts von Leibern rutschte in Tütchen, nach denen die Wartenden gierig griffen.
Wie lange man nach China fliege, hatte er ganz unsinnig gefragt.
Doch sie sagte nur: Sande, aufgeschüttete Sande, Hügel um Hügel in roten Farben. Rieselnd. Und Bärentatzen, Pranken von Braunbären, neben den getrockneten Händen kleiner Affen.
Und sie habe die Dampfnudelbäckerin gesehen, schwitzend unter der weißen Haube, und die Dampfnudeln hinter dunstigem Glas, während am Boden hutzelige Rentner ihre gebündelten Litschizweige darboten wie Diamanten.

Sie redete jetzt völlig durcheinander. Manchmal drehte sie sich um sich selbst. Manches verstand er nicht. Manches war wieder klar.

Ich habe ein Kind gesehen. Es hockte auf den Knien vor einer Pfütze. Es beugte sich über die Pfütze. Es wippte. Es wippte immer wieder vor und hinunter zu der Pfütze. Wie ein kleines Tier, das das Wasser mit dem Mund sucht. Wenn seine Lippen nah am braunen Pfützenwasser waren, versuchte es zu trinken. Ich habe nicht gesehen, ob es sich in der Pfütze sah, ob es also versuchte, sich zu trinken. Es hockte da in einer dicken, roten Steppjacke. Ein kleiner, wippender Buddha. Und ich sagte, trink doch nicht aus der Pfütze. Das Wasser ist schmutzig. Trink doch nicht. Du wirst krank werden.
Und? hatte er gefragt.
Es verstand mich nicht. Es war krank. Ein Mann hat es dann weggetragen. Und zu einer Frau gebracht. Das Kind sei jetzt zehn Jahre alt, hat der Mann noch gesagt, tonlos, aber mit zwei Jahren habe es aufgehört, wie die andern Kinder zu sein. Es habe einfach aufgehört.
Das war in China? hatte er gefragt.
Nein, hatte sie gesagt.

In China habe ich eine andere Pfütze gesehen. Eine viel größere Pfütze, eine Pfütze, wie es sie nach dem Regen gibt, eine so große Pfütze, daß die Straße verschwunden war, und nur noch auf dem Fahrrad konnte man durch die Pfütze kommen. Und die Häuser entlang der Straße waren Hochhäuser mit zerbrochenen Scheiben, und die Vorhänge wehten heraus wie Segel, und manchmal sah man in den Fenstern hohe Stockbetten, zwei, auch drei übereinander, auf denen junge Leute lagen. Und dann hörte man Musik, Mozart, es war immer Mozart. Und die Vorhänge bauschten sich aus den zerbrochenen, an manchen Stellen notdürftig mit Sichtfolie verklebten Fenstern.
Unten am Rand der Pfütze auf der Straße standen Mädchen mit langen nackten Beinen. Immer wenn ein Mann auf dem Fahrrad vorbeiradelte, was heißt radelte, bei jedem Hinuntertreten der Pedale waren die Füße, die Waden im Wasser, dann winkte so ein Mädchen und zeigte, daß es hinüberwollte. Meist hielt der Mann dann an, schob watend das Rad an den Rand, half dem fremden Mädchen auf den Gepäckträger oder auf die Stange und setzte es hinüber über die Pfütze.
Die Stadt war voller Fahrradfahrer, sagte sie. Sie habe noch nie so viele Fahrräder auf einmal gesehen. Kaum Autos, nur Fahrräder, in Schwärmen. Die Fahrräder hatten keinen Rücktritt und keine Lampen. Und man fuhr immer im Pulk in den großen Boulevards. Wenn man abbiegen wollte, mußte man sich früh auf der richtigen Seite einordnen. Niemand gab ein Handzeichen. Ein Radfahrer war nur eine winzige Schuppe an einem geschmeidigen Körper, der dahinfloß, sich teilte und wieder wuchs.
Er hatte es aufgegeben, sie unterbrechen zu wollen.
Und die Küche der Übersetzerin. Wir waren eingeladen und saßen in der Küche der Übersetzerin. So eine helle Resopalküche, abwaschbar, Blick auf einen Betonbalkon, auf dem sich gefüllte Plastiktüten stapelten. Zwei Schweizer Sinologiestudentinnen waren mit am Tisch, eine reiche Holländerin, die hier seit Jahren für einen Limonadenkonzern arbeitete. Und der Mann der Übersetzerin. Der Mann der Übersetzerin sei ihr gegenübergesessen. Es habe Suppe gegeben, Suppe in hellen Schalen. Sie hatten chinesisch gesprochen, auch deutsch, englisch, holländisch. Nur der Mann und sie hatten nichts gesagt. Und dann habe sie den Mann angesehen und gesehen, daß er sie angesehen haben mußte. Die ganze Zeit schon. Und sie habe mit dem weißen Porzellanlöffel die Suppe bewegt, diese geleeartig angedickte, transparente Flüssigkeit mit den dunklen Algenfäden, den rosa Krabben, den grauen Pilzen. Sie habe den Mann wieder angesehen. Schwarze Haare, schwarze Augen, sehr schmaler, gerader Mund. Und da habe sie es gesehen.
Die anderen haben geredet, ja gelacht, weil die Schweizer Sinologiestudentinnen sich in gewagten chinesischen Konstruktionen versuchten, Silben singend, und die Übersetzerin unterstützte sie nickend und lachend. Der Mann war sehr aufrecht dagesessen. Er hielt einen Löffel in der Hand. Und er habe sie nicht nur angesehen, er sei in sie versunken, mit seinen sich weitenden Augen in sie versunken. Das ist doch wohl nicht möglich, habe sie sich gedacht, hier am Tisch mit seiner Frau und all diesen fremden Europäerinnen. Wir waren Gäste. An dieser Stelle spätestens hatte er gehofft, daß sie aufhören möge. Er hatte schon verstanden, inständig hatte er nur noch gehofft, sie möge ihm die Worte, die kommen mußten, ersparen. Sie aber schien im Gegenteil eine Wut, eine noch im nachhinein staunende und doch trotzige Wut empfunden zu haben und die Lust, ja: es mußte auch Lust gewesen sein, die Wörter zu sagen. Und er war dankbar um jeden Aufschub, darum also, daß sie nun von der Holländerin sprach, die die Sinologiestudentinnen mit englischen Imperativen zu weiteren Kunststücken anfeuerte. Aber dann hatte sie es doch gesagt.

Da starrt dieser Kerl mich an, mit der Hand unterm Tisch und onaniert. Und natürlich wartet er nur darauf, daß ich hinschaue. Und ich schaue auch hin, weil ich es wissen muß, ob ich richtig sehe. Und da macht er weiter. Und ich sehe rosa Suppe, mit grünen Algen und Garnelen. Und ich sehe schwarze Augen, in denen mein Schauen verschwimmt.
Hören Sie, er hatte den Kopf geschüttelt, als müsse er sich wehren gegen dieses übermüdete, überdrehte Kind, was soll das? Er war zurückgetreten, die Korallen, den Sand, die fliegenden Rochen im Rücken. Und auch sie war einen Schritt von ihm abgewichen, hatte die kurzen Locken in den Nacken gelegt und leer hinaufgesehen in die Glas- und Eisenkonstruktion der Flughafendecke.
Was soll das, hatte er wiederholt, nun etwas leiser. Und da war der dunkelgrüne Blick zurückgekommen und hatte ihn kurz gestreift.
Sie aber hatte zögernd begonnen, vor sich hin zu springen, selbstvergessen, wie es Kinder auf der Straße tun über gemalten Kreidekästchen, und hatte nur ‚nichts’ gesagt, nein: nichts, das war nichts, das waren nur so Geschichten.