Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Kathrin Passig, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Kathrin Passig
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Wenn man im Winter in eine missliche Lage gerät, weil es beispielsweise früher dunkel wird als gedacht, Schneetreiben einsetzt oder man den Weg verloren hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Ist damit zu rechnen, dass man in absehbarer Zeit gefunden und gerettet wird, vergräbt man sich im Schnee und wartet ab. Kennt man dagegen den Weg zur nächsten Unterkunft und ist ein Rettungseinsatz vorerst nicht zu erwarten, sollte man in Bewegung bleiben. Die Frage, was zu tun ist, wenn beides nicht zutrifft, wird in der Literatur höflich ausgespart. Ich habe mich daher für einen Kompromiss entschieden. Meine Art der Fortbewegung ähnelt ein wenig der eines Maulwurfs oder, wie ich mir vorstelle, der eines Menschen, der versucht, die Erde unter sich zu drehen. Ob ich mich bewege oder ob sich der Untergrund relativ zu mir bewegt – das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: Ich komme ans Ziel. Letztlich würde sogar die Bewegung der Erde durch das All genügen, den Ort, an dem ich mich befinde, wieder in eine sommerliche Klimazone hineinzubefördern. Aber so lange kann ich nicht warten.

Meine punktförmige Existenz wird nicht von allein mit einem warmen Ort zusammenfallen. Ich muss mich bemühen, vom Punkt zur Linie zu werden, denn jede Linie schneidet jede andere Linie früher oder später. Für meine Zwecke ist es sogar recht günstig, dass meine verschiedenen Ziele so statischer Natur sind, denn, wie ich Anne vergeblich beizubringen versucht habe: Wenn man einander aus den Augen verliert, dürfen sich nicht beide gleichzeitig auf die Suche machen. Die rettende Berghütte wird nicht zu mir kommen, aber sie läuft auch nicht weg. Das ist ihre entscheidende Eigenschaft, die ich mir hier zunutze mache.
Kathrin Passig, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Huxley äußert sich ausführlich darüber, wie viel besser der Mensch doch beraten wäre, still zu Hause zu sitzen. Was dabei an Nützlichem ungetan bleibe, werde mehr als aufgewogen durch die vielen sinnlosen und schädlichen Handlungen, die vermieden würden. Heute bin ich geneigt, ihm Recht zu geben. Eindeutig haben wir hier eine falsche Abzweigung eingeschlagen, aber ob sie nur wenige Stunden zurückliegt, einen halben Tag oder ein halbes Leben, kann ich nicht sagen. Wir hätten nach Berlin weiterfahren können und wären gestern Nachmittag dort angekommen. Wir hätten uns mit einer flüchtigen Ortsbesichtigung begnügen können, ohne auch nur das Auto zu verlassen. Ich hätte Annes Vorschlag Widerstand leisten können. Eine Reihe winziger Entscheidungen hat dazu geführt, dass ich jetzt hier durch den Schnee krieche.

In Berlin wird sicher nicht vor Neujahr auffallen, dass wir nicht zurückgekehrt sind; vielleicht auch erst am zweiten oder dritten Januar. Und hier hinterlassen zwei Ortsfremde, die einander im Supermarkt seltsame Markennamen vorlesen, um dann einige Keksriegel und eine Flasche Kofila zu kaufen, mit Sicherheit einen so bleibenden Eindruck wie fallende Schneeflocken. Mit Suchmannschaften mit Taschenlampen, Sprechfunkgeräten und kompetenten Hunden ist jedenfalls bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Es ist vermutlich besser so, denn ich kenne die peinlichen Folgen solcher Bergungsaktionen. Statt Mitgefühl wird dem Geretteten ein schlampig formulierter Beitrag in irgendeiner Mitgliederzeitschrift zuteil, in dem von Leichtsinn, mangelnder Vorbereitung und unzureichender Ausrüstung die Rede ist. Wer sich aus eigener Kraft zurück in den Schoß der Zivilisation rettet, dem verzeiht man gern, dass er sich aus freien Stücken in die Situation begeben hat, die eine Rettung erst nötig machte. Den Bericht über seine Strapazen verfasst er selbst. Es steht ihm frei, sich humorvoll, aber doch geläutert zu den eigenen Versäumnissen zu äußern und sein Verhalten in schwieriger Lage im günstigsten Licht darzustellen. Bis dahin kann ich mir eine weniger naheliegende Metapher ohne Schneeflocken zurechtlegen, um einen Sachverhalt zu illustrieren, der mir jetzt wieder entfallen ist. Anne werde ich dabei nicht erwähnen. Man soll in solchen Berichten nicht andere für das eigene Schicksal verantwortlich machen. Nicht einmal dann, wenn sie tatsächlich durch ihre mangelnde Weitsicht das ganze Unheil heraufbeschworen haben. Verirrte Kleinkinder haben bessere Überlebenschancen als Erwachsene, denn es fehlt ihnen an der Phantasie, die nötig wäre, um den Ernst ihrer Lage zu begreifen. Sie machen weder schlechte noch gute Pläne, sie laufen nicht tagelang in die falsche Richtung, und weil sie nicht wissen, dass sie bereits tot sind, bleiben sie am Leben. Aus demselben Grund lassen sie auch erfroren oder ertrunken noch nach Stunden wiederbeleben. Ihr Spatzengehirn bemerkt das Fehlen von Sauerstoff gar nicht erst. Am größten ist die Gefahr dagegen, wenn man sich zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr verirrt. Man ist alt genug, um einen Plan zu fassen, aber noch zu jung, um einen durchdachten von einem ungenügenden Plan zu unterscheiden. Wenn ich sterbe, nimmt dieses ganze Wissen die Form eines nutzlosen, gefrorenen Eiweißklumpens an. Im Frühjahr irgendeines Jahres kann man meine Leiche unten im Tal aus dem Gletscher schmelzen sehen. Aber ich werde natürlich nicht sterben, und es gibt hier auch gar keinen Gletscher. Nicht zu wissen, wo man sich relativ zu anderen Punkten aufhält, ist keine Todesursache. Verwirrung ist eine Todesursache. Aber ich bin, wenn schon nicht körperlich, so doch geistig orientiert, und ein kleines rotes Dreieck markiert meinen Standort: Sie befinden sich hier.

Unten am Parkplatz hatte unser Weg beschildert und befestigt seinen Anfang genommen. Vom Wind aufgewirbelte Schneekristalle leuchteten in Spektralfarben. Der Weg verlor sich schon ein oder zwei Stunden später, oder vielleicht waren auch wir es, die den Weg verloren. Die Natur hatte ihn ausgelegt wie eine klebrige Zunge, und wir waren ihr auf den Leim gegangen. Aber wir dürfen ihr keinen bösen Willen unterstellen. Unser Überleben könnte der Natur kaum gleichgültiger sein, das wird in solchen Situationen schmerzlich spürbar. Wie das Desinteresse eines Menschen, von dem man geliebt werden möchte, muss man ihre Gleichgültigkeit stoisch ertragen. Die Zeit arbeitet für mich.

Verirrte sterben häufig bereits in der ersten Nacht im Freien, obwohl sie, gemessen an ihrer Ausrüstung und körperlichen Konstitution, in der Lage sein müssten, mindestens einige Tage zu überleben. Nicht Kälte oder Erschöpfung werden ihnen zum Verhängnis, sondern Verzweiflung und schlechte Planung. Aber ich habe in der letzten Nacht bereits unter Beweis gestellt, dass ich nicht aus Enttäuschung über das mangelnde Mitgefühl der Natur zu versterben gedenke. Es war eine lange Wartepause im Windschatten eines Felsblocks, an die ich mich jetzt kaum noch erinnere, ähnlich, wie man sich an einen überstandenen Schmerz nur abstrakt und undeutlich erinnert. Alles eine Frage der Selbstbeherrschung, der richtigen Einstellung. Natürlich ist es wichtig, den Verstand, der wie ein Hund lieber hierhin und dorthin streunen möchte, an die kurze Leine zu nehmen und nicht zuzulassen, dass er Schemen nachjagt. Abenteuerbücher für leichtgläubige Leser berichten immer wieder von schattenhaften Begleitern, mit denen die durch Kälte oder Einsamkeit verwirrten Wanderer ihren Proviant zu teilen versuchen. Tatsächlich habe ich genau zwei Erwähnungen dieses Phänomens in zuverlässigen Quellen gefunden, nämlich in einer berühmten Bergsteigerbiografie, an deren Titel ich mich gerade nicht erinnern kann, und in einem Bericht Amundsens über seine Überquerung der Gletscher Südgeorgiens. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob da nicht irgendeine Verwechslung mit Nansen vorliegt. Abgesehen von diesen kleineren Gedächtnisausfällen bin ich bei klarem Verstand und stelle statt der Anwesenheit eines Dritten vielmehr die Abwesenheit einer Zweiten fest. Anne ist nicht mehr da. Ich komme sehr gut ohne sie zurecht, besser sogar. Ich hätte sie gar nicht erst mitnehmen sollen, das wäre am besten gewesen. Ohne Anne könnte ich längst in Berlin sein, an einem gut beheizten und von Menschen für Menschen gestalteten Ort. Meine Vorfahren haben viele tausend Jahre daran gearbeitet, nicht mehr unbehaust in Kälte, Schnee und Nebel herumkriechen zu müssen – es ist mein gutes Recht, von ihren Leistungen zu profitieren. Aber ich hätte es wissen müssen, denn Anne hat in ihrem ganzen Leben keine vernünftige Karte gekauft. Situationen, in denen ein Maßstab von 1:500.000 nicht mehr ausreicht, kommen in ihrem beschränkten Weltbild nicht vor.

Immerhin profitiere ich von den Leistungen anderer insofern, als ich eine hochprofessionelle Winterjacke trage, ein wahres Wunderwerk an Wind- und Wasserdichtigkeit. Ich erinnere mich zwar nicht, was mich dazu bewogen hat, dieses für Berliner Winterverhältnisse völlig überqualifizierte Kleidungsstück zu erwerben, aber ich bin zufrieden mit meiner längst vergessenen Entscheidung. Wer eine solche Jacke hat, der braucht kein Haus. Wen kümmern ihre hässlichen rostbraunen Flecken und ihre undichten Nähte? Es ist nämlich tatsächlich so, ich habe diese Frage mittlerweile geklärt, dass manche Schneeflocken die Form kleiner weißer Federn haben, weil sie kleine weiße Federn sind.

Diese Feststellung hat mich einige Zeit gekostet, denn meine ganze Umgebung ist von irritierender Einfarbigkeit. Aber es ist nicht das strahlende Weiß der Landschaft, die gestern so anziehend wirkte. Es ist ein fahler, breiiger Ton, in dem jeder Kontrast versickert. Irgendwo unter mir muss Svat´y Petr oder Sankt Peter liegen, aber bevor ich mir Gedanken über Feinheiten der Namensgebung mache, muss ich diesen namenlosen Ort verlassen. Es ist dem Menschen nicht zuträglich, sich an Orten ohne Namen aufzuhalten. Deshalb hatten auch Entdecker nichts Eiligeres zu tun, als jede neue Landschaftsformation nach ihrer Frau oder dem deutschen Kaiser zu benennen. Eskimos haben, wie einfallslose Mitmenschen an dieser Stelle gern in die Konversation einwerfen, unzählige Wörter für Schnee. Vermutlich soll damit auf die abgestumpfte Naturwahrnehmung des Stadtbewohners hingewiesen werden. Ich habe keine Geduld mit den Nachbetern dieser banalen Behauptung. Die Eskimosprachen sind polysynthetisch, was bedeutet, dass selbst selten gebrauchte Wendungen wie ”Schnee, der auf ein rotes T-Shirt fällt“ in einem einzigen Wort zusammengefasst werden. Es ist so ermüdend, das immer wieder erklären zu müssen.

Vor meinen Augen entsteht gerade eine neue Art Schnee, nämlich Schneedurch-den-sich-ein-magerer-Hase-arbeitet. Ich hoffe für den Hasen, dass er ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, dass sich ein solcher Energieaufwand für ein verdorrtes Stück Flechte lohnt. ähnlich schwer nachvollziehbar mag wiederum dem Hasen erscheinen, warum ich mich hier durch den Schnee wühle. Ich sage ”Hase“, dabei ist durchaus denkbar, dass es sich um ein Kaninchen handelt. Kaum jemand weiß, dass Hasen und Kaninchen nicht schwer voneinander zu unterscheiden sind; sie sind nicht einmal miteinander verwandt. Kaninchen sind Höhlenbewohner und gehören zu den Nagetieren, Hasen zu den Hasenartigen. Aber heute kann auch ich nicht sagen, um was für ein Tier es sich handelte, denn es war so weiß wie seine Umgebung, im Grunde also unsichtbar. Mit dem Verschwinden des weißen Hasenkaninchens überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich aus meiner Kindheit kenne. Es ähnelt ein wenig dem Gefühl, eine schwere Metallkugel in der Hand zu halten, nur erstreckt es sich auf den ganzen Körper, vor allem auf der Zunge und dem Gaumen breitet sich die nicht unangenehme Empfindung aus. Es muss sich doch um ein Kaninchen gehandelt haben, denn das lateinische cuniculus bezeichnet nicht nur das Tier, sondern auch dessen Höhle, und auf diese Höhle weist das Auftauchen des Kaninchens hin, das ist mir nicht entgangen. Außerdem waren die Ohren viel zu kurz für einen Hasen. Wenn alle Richtungen gleich aussehen, ist eine so gut wie die andere, daher würde ich dem weißen Kaninchen bereitwillig folgen, wenn es nicht ohnehin in die Richtung gelaufen wäre, die mein Plan vorsieht.

Ich glaube übrigens nicht, dass es im Riesengebirge überhaupt Kaninchen gibt, die sich im Winter weiß färben. Aber das Tier machte einen ausgesprochen realen Eindruck, und ich würde hoffentlich ein besseres, weniger ungelenkes und mageres Kaninchen herbeihalluzinieren, wenn ich mir davon Aussicht auf Rettung verspräche. Aus der Tatsache, dass sich abgesehen von dem Tier in den letzten Stunden keine plausiblen Kandidaten für Halluzinationen eingestellt haben, schließe ich, dass in meinem Körper alles nach Plan läuft. Wir kommen schon zurecht, auch ohne Blendwerk. Hauptsache, man bleibt in Bewegung.

Deshalb erzeuge ich geduldig aus Schnee-der-vor-mir-liegt Schnee-derhinter-mir-liegt. Es ist alles eine Frage der Zeit und der Hingabe. Wenn ich genug Zeit hätte, könnte ich allen Schnee der Welt in Schnee-der-hinter-mirliegt verwandeln, ihn hinter mir wieder glattstreichen und jede Spur meiner Durchreise tilgen. Aber ich bin etwas in Eile, und meine Hände, willige Helfer bis vor wenigen Stunden, sträuben sich jetzt gegen mich, als hätte ich ihre Loyalität überstrapaziert. Auch zu den Füßen ist der Kontakt abgerissen, aber bei meiner Fortbewegungsart habe ich ohnehin keine Verwendung für sie. Lähmung ist hinderlich für das Bein, so steht es bei Epiktet oder Joe Simpson, aber nicht für mich. Die Beine werden selbst zusehen müssen, wie sie zurechtkommen, ich kann mich heute nicht um alles kümmern. Man kann uns kaum vorwerfen, dass wir unvorbereitet waren. Anne besaß eine Seite aus einem kostenlosen Tourismusprospekt, auf der immerhin der Anfang dessen, was wir für unseren Weg hielten, eingezeichnet war. Und ich besitze immer noch ein Digitalfoto der im Ort ausgehängten Winterwanderkarte, an dem ich mich orientieren könnte, wenn meine Kamera nicht die Angewohnheit hätte, bei niedrigen Temperaturen die Arbeit einzustellen. Natürlich müsste ich außerdem in der Lage sein, den Reißverschluss meiner Tasche zu öffnen und die Kamera zu bedienen, und schließlich scheint auch der Begriff der Orientierung eine gewisse Vorstellung von dem Punkt, an dem man sich befindet, zu beinhalten. Es ist, wie Anne zu sagen pflegt: ”Wenn wir jetzt Schinken hätten, könnten wir Rührei mit Schinken machen, wenn wir Eier hätten.“ Davon abgesehen möchte ich ungern die Handschuhe ausziehen, da der Vorgang des Handschuhausziehens zwar ein einfacher, seine Umkehrung jedoch auch dann nicht einfach ist, wenn die Hände kooperieren. Merkwürdig, dass es so viele nicht reversible Prozesse auf der Welt gibt. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass Umkehrbarkeit generell die Ausnahme darstellt und nicht die Regel, wie man es in einem vernünftig gestalteten Universum erwarten möchte. Die Tatsache, dass meine Finger bereits jetzt nicht mehr in der Lage sind, einen einfachen Reißverschluss zu bedienen, gibt mir jedenfalls zu denken. Ich weiß über Erfrierungen Bescheid, und es ist ohne weiteres möglich, dass sich mir diese Fähigkeit nicht nur heute, sondern für immer entzieht. Verschließt, bin ich versucht zu sagen. Ich werde mir vorsorglich eine Antwort auf die Frage nach fehlenden Fingern oder Fingergliedern zurechtlegen, eine Antwort, die nichts mit Annes habitueller Verkennung von Gefahrensituationen zu tun hat. Hätte ich in meiner unzugänglichen Tasche statt einer Digitalkamera einen Handwärmer, könnte man später immerhin Catch-22-Probleme im Alltag erörtern. Ich glaube, ich werde einen Handwärmer hinzuerfinden.

Mein eigener Großvater ist nach Kriegsende wochenlang nachts durch Tschechien gewandert, um in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu gelangen. Ich bezweifle, dass ihm besseres Kartenmaterial zur Verfügung stand als unsere Gratis-Wanderkarte, zudem war es ja dunkel. Er muss die Gene, die ihn dazu befähigten, an mich weitergegeben haben. Nein, bei näherer Betrachtung kann ich mich auf diese Überlegung nicht verlassen, denn mein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gezeugt. Oder lassen sich daraus überhaupt keine Schlussfolgerungen ableiten? Die Frage wird später zu klären sein; vorerst muss ich diese Wanderung zu Ende bringen, ohne auf die Gene meines Großvaters zurückzugreifen.

Natürlich bin ich letztlich nicht auf das Foto der Wanderkarte angewiesen, denn auch mein Gehirn hat ein Abbild jener Tafel in ihrem hölzernen Triptychon gespeichert. Und im Unterschied zur Kamera funktioniert es auch bei Kälte ausgezeichnet. So weiß ich, dass die Berghütten mit ihren rührend altmodischen Namen rund um uns herum so zahlreich stehen, dass sie selbst ohne Karte und im Schneetreiben kaum zu verfehlen sind: Erlebachbaude, Weißwassergrundbaude, Geiergucke, Wiesenbaude. Irgendwo zur Rechten des Weges liegt das schöne, aber auch ein wenig beunruhigende Modr´y D°ul. Da ich kein Tschechisch verstehe, kann es sich dabei statt um einen Ort ebensogut um einen Hinweis an den Wanderer handeln: Hic sunt leones. Verlassen wir uns also besser nicht auf Modr´y D°ul und halten uns an die Hütten, die man zuvorkommenderweise oben auf Bergen zu erbauen pflegt, wo sie leicht zu finden sind. Ich weiß das zu schätzen, denn in dem grauweißen Nichts, das mich umgibt, sind die Himmelsrichtungen Oben und Unten alles, woran ich mich halten kann.

Und das sind bereits zwei Richtungen mehr als in der letzten Nacht, in der der Schnee waagerecht und in großer Eile an uns vorbeifegte. Eng aneinandergedrängt an unserem Felsblock, beobachteten wir den Schnee aus zusammengekniffenen Augen, wie man an einem Bahnübergang einen Güterzug aus nächster Nähe vorbeirasen sieht. Alle Waggons waren mit Schnee gefüllt, und der Zug nahm und nahm kein Ende. Die Schranke wollte sich nicht mehr heben. Wer hätte dieser friedlichen Landschaft solche Exzesse zugetraut? Ein Tropfen Blut löst sich von meiner Stirn und versinkt einige Zentimeter tief im Schnee. Skorbut, die Geißel der Polarforschung, führt bekanntlich zum Wiederaufbrechen alter Wunden, aber ich kann in dieser Hinsicht ganz unbesorgt sein, denn es handelt sich um einen so frischen wie harmlosen Kratzer. Ich beobachte den Vorgang aufmerksam, seiner ungewohnten Farbigkeit wegen. Der erstarrte Tropfen hat die Form von Annes T-Shirt angenommen, oder war es Annes Anorak? Hat sie überhaupt ein rotes Kleidungsstück getragen? Entfernungen sind bei diesen Lichtverhältnissen schwer einzuschätzen, und wenn ich den Tropfen auf eine bestimmte Weise fixiere, kann ich in der Ferne die vollständige Anne erkennen.

Nachdem ich sie so eine Weile eingehend betrachtet habe, muss ich mir der intellektuellen Redlichkeit halber die Frage stellen, ob ich womöglich doch ganz ohne Annes Schuld, überhaupt ohne Anne hier gestrandet bin. Zugegeben, die Überlegung drängt sich schon seit geraumer Zeit auf. Hätte Anne sich nicht durch irgendeine eigene Regung bemerkbar machen müssen, wenn sie eine von der meinen unabhängige Existenz führte? Ihr Name ähnelt verdächtig dem meiner Schwester Annette oder wirkt doch jedenfalls einfallslos, ein beliebiger Frauenname mit A. Fragt man Menschen nach einer Farbe, antworten sie ”Rot“, bittet man sie, ein Werkzeug zu nennen, sagen sie ”Stein“. Nein, nicht Stein, ich glaube, man sagt ”Hammer“. Auf die Frage nach einem Frauennamen würden neunzig Prozent wahrscheinlich mit ”Anne“ antworten. Das alles beweist natürlich noch gar nichts. Aber es war nicht Anne, die ihre Handschuhe im Auto gelassen hat. Ich war es. Ich wollte die Hände in die Hosentaschen stecken, ein, zwei Stunden durch den Schnee zu einer tschechischen Hütte schlendern und dort einGlas Glühwein einnehmen. Für den Rückweg würde es hier in dieser gut erschlossenen Gegend vielleicht sogar einen Sessellift geben. So hatte ich mir den Nachmittag vorgestellt, und wer selbst noch nie so gedacht hat, werfe den ersten Stein. Im Land des Glühweins und der Sessellifte sind alle diese Überlegungen unschädlich und zulässig. Aber es berührt an vielen Stellen ein Land, in dem andere Regeln gelten. Im Laufe dieser Wanderung habe ich dessen Grenze überquert und finde jetzt den Weg zurück nicht mehr. Das ist weniger problematisch, als es klingt, denn ich will gar nicht zurück. Mein Plan sieht vielmehr einen kühnen Vorstoß nach vorne und oben vor, und die Abschaffung Annes ist nur ein Teil dieses Plans. Mein Gedankenkreislauf beschränkt sich immer mehr auf das Nötigste, so wie der Blutkreislauf nur noch zentral gelegene Organe versorgt. Ich kann mir keine unnützen Gedanken leisten, die meine Energievorräte aufzehren. Ich muss mich konzentrieren, wenn die holzwurmgleiche Spur, die ich durch die Landschaft ziehe, heute noch ein Ende finden soll.

Mir ist, als hätte ich meine Lage vorhin mit dem Begriff ”gestrandet“ beschrieben, dessen sommerliche Konnotationen hier ganz unangemessen sind. Man erkennt daran die Vernunft früherer Generationen, die hin und wieder Schiffbruch erlitten, aber nicht ohne Not Berge zu besteigen pflegten, schon gar nicht im Winter. Dabei sind wir nicht einmal über die Baumgrenze hinausgelangt. Wenn sich die Lichtverhältnisse bessern, erkenne ich kleine, bucklige Kiefern. Vielleicht sind es aber auch dunkle Flecken. An dieser Stelle könnte ich erwähnen, dass die Birke der einzige Baum war, den Anne erkennen konnte, aber ich weiß es jetzt besser. Meine schlecht verwischte Spur im Schnee ist die Spur eines einzelnen Menschen. Mag sein, dass sich meine Erinnerungen vermischen, sicher habe ich irgendwann einmal mit Anne im Winter einen Berg bestiegen, aber das muss länger zurückliegen als nur eine Nacht und einen Nachmittag. Es passt zu den übrigen sinnlosen Bildern. Was soll ich in meiner Lage mit der Außenansicht einer bayrischen Apotheke anfangen, in der ich vor fünfzehn Jahren eine Zahnbürste erworben habe? Was will die junge, schwarzweiße Katze, der mein Grundschullehrer vor den Augen der Klasse einen Tritt versetzt? Birgt die Erinnerung an ein unleserlich beschildertes Stück Autobahn irgendeinen latenten Sinn, den ich nur nicht mehr entschlüsseln kann? Vielleicht zieht längst mein Leben in einer geordneten und cineastisch wertvollen Darstellung an mir vorbei, aber ich bin intellektuell nicht mehr in der Lage, dem Film zu folgen. Es hätte schlimmer kommen können. Immerhin habe ich nicht versucht, meinen Proviant mit der nicht vorhandenen Anne zu teilen. Das wäre umso schwieriger gewesen, als die vier tschechischen Keksriegel in ihren Jackentaschen steckten, nicht in meinen. Nein, hier geraten mir zwei Gedanken durcheinander, was unter diesen Umständen vermutlich normal ist und niemanden weiter beunruhigen muss. Ich muss nur die richtigen von den falschen Gedanken trennen wie die Schneeflocken von den Federn. Annes Jackentaschen sind jetzt meine Jackentaschen. Sie mögen unzugänglich sein – ich werde dem Hersteller später meine Überlegungen zu Reißverschlüssen mitteilen müssen – aber es sind meine Jackentaschen und meine Keksriegel. Ich muss sie mit niemandem teilen.

Ich werde versuchen, mein Gesicht vorübergehend in den Ausschnitt meiner Jacke zu stecken wie ein Gürteltier oder ein Igel. Zum einen ist der Kopf für die Hälfte des Wärmeverlustes verantwortlich, zum anderen hoffe ich so meine Gedankengänge wieder in Ordnung zu bringen. Gut wäre es, Winterschlaf zu halten wie ein Igel, meinen Herzschlag und meine Atmung so weit zu verlangsamen, dass ich erst im Frühjahr wieder aufwache, abgemagert, aber intakt. Nansen und Johansen haben es in ihrer Erdhöhle auf Franz-Josef-Land nicht anders gehalten.

Meine Innenwelt ist nur unwesentlich wärmer als meine Umgebung. Sie ist schwarz statt weiß, und unter meiner Jacke trage ich eine weitere Jacke. Wahrscheinlich kommt darunter eine dritte Jacke, und so weiter. Ich mache mich rund und halte die Angriffsfläche für die Kälte so klein wie möglich, körperlich wie geistig. Allerdings kondensiert in dieser Stellung die Feuchtigkeit meiner Atemluft im Inneren meines Gehäuses. Das Weiße darf sich nicht mit dem Schwarzen vermischen, darauf muss ich achten. Außerdem habe ich keine Zeit für Introspektion, ich muss mich mit der Außenwelt und ihren weißen Tieren arrangieren. Es sind die Oberflächen, die mich angehen, unberührte, abweisende Oberflächen. Es gibt Outdoorjacken aus Stoffen, von denen selbst die widerwärtigsten Flüssigkeiten spurlos abperlen, ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Es gibt Tiere, die den antarktischen Winter barfuß auf dem Eis verbringen, es gibt argentinische Rugbyspieler, die nach einem Flugzeugabsturz siebzig Tage in den Anden überlebt haben. Das alles ist nicht so schwierig, wie es manchmal scheint. Ich habe schon im Laufe der Nacht aufgehört zu zittern. Vor meinen Augen steigt ein Nachbild der fallenden Schneeflocken nach oben. Schnee-Antimaterie hebt alles Geschehene auf. Das Auftauchen schwarzer Tiere vor diesem Hintergrund würde meinen Hasen endgültig disqualifizieren, es sei denn, er wäre wie das Schaf des Mathematikers nur auf einer Seite weiß gewesen. Aber ich muss dieses fragile Gleichgewicht stören, den Kopf aus meinem Daunengefieder ziehen und mich wieder an die Arbeit machen. Gleich, wenn ich soweit bin. In wenigen Minuten.

Hinter mir könnte man im Windschatten des Felsblocks immer noch Annes nackten Arm und einen Teil ihres roten T-Shirts erkennen. Aber das ist eine rein hypothetische Überlegung, denn ich werde mich auf keinen Fall umdrehen. Anne ist zum Punkt geworden, ich bin eine Linie. Ich komme voran.
Kathrin Passig, Autorin (Bild: Johannes Puch)