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Dirk von Petersdorff
Anfang
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Als ich während der Geburt an der großen schwarzen Brille der Ärztin vorbeisah zum Fenster, riss der Himmel auf: Ein gezacktes Loch mitten im Grau, aus dem es gelb herausfiel, war zu sehen, auch rotes Licht in Strahlen dahinter. Vorher war ich unruhig, hinter einem halbhohen Vorhang hantierten Ärzte mit Masken, murmelten Anweisungen. Ein paar Strahlen am Nachmittag, nun wird es gut. Und irgendwann die Ruhe danach, schöne Mattheit, wenn eine Anstrengung geschafft ist, Spannung abfällt, so gliederschwere Stille. Man hat mich durch Gänge in eine Kammer gebracht, wo ich meine Kleidung wieder bekomme, die grünen Sachen ablege, die ich tragen musste. Dann weiter in ein Zimmer. Dort sitze ich allein mit einer fahrbaren, durchsichtigen Plastikwanne, an der zwei Schilder kleben: „Max“ und „Luise“. Zwei Köpfe sind auch zu erkennen. Der Himmel ist nun wieder grau, geschlossene Decke wie den ganzen nieselnden Tag schon, aber ich merke mir das Licht, den plötzlichen Riss da oben, alles still.
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Wir kamen nach Hause und am Anfang war es ruhig. Sandra hat Luise auf ihren Bauch gelegt, wo sie nach einigen schwachen Bewegungen eingeschlafen ist. Sie liegt da mit wenig Festigkeit, Arme und Beine zur Seite, ein Arm hängt herunter, ganz Gewicht, die Glieder verteilt. Da ist Länge und Schwere, die Ruhe selbst. So nur noch Schlaf sein, um einen Mittelpunkt gerollt, und der Atem, kaum zu hören - man muss nahe herangehen - leise: der Schlaf, der Schlaf. Uns sieht man in der Nacht die Kämpfe noch an, Streit, Unruhe. Im schlafenden Erwachsenenkörper ist Spannung, laufen Programme, wird gearbeitet, geruckt; es spricht, wirft sich. Aber Luise auf dem Bauch ihrer Mutter, hingelegt wie ausgegossen, ja die schlafende Luise war eine Mischung aus fest und flüssig.
Am Morgen stand ich am Bett und sah dem Aufwachen zu. Auf dem Gesicht erscheinen verschiedene Züge: ein Lächeln, aber ohne Grund, eine Frage, die keine Frage ist, ein Runzeln der Stirn, weil die Stirn auch runzeln kann. Das alles nur kurz, manchmal nur angedeutet, es wird nicht fest, es ist so wie ein Huschen auf glattem Wasser, und das Wasser kräuselt sich. Lächeln oder Runzeln, es liegt noch zusammen, man weiß nicht, was es werden soll. So ein Treiben – wie man gedankenlos in einem Becher rührt, am Fenster sitzt, hinaussieht. Auch Luises Finger spielen, aber ohne dass sie es bemerkt, ohne Zweck, denn es gibt noch keinen. Die Finger gehen in verschiedene Richtungen, bewegen sich einzeln, einer nach vorn, der Daumen wird abgespreizt. Einfach ist das nicht, langsam und nur mit Mühe geht es voran; man weiß nicht, ob sie es selber will. Es sieht aus wie Zählen, aber ohne zu zählen; erst spreizen, dann ballen, ein Spiel, vielleicht eine Übung für später, aber auch das gibt es noch nicht.
Max schrie. Es stieg aus ihm, brach los, war überall, ließ kurz nach, kam dann mit voller Wucht, Schreien wie Sturm, schreiende Luft, Steine, die einen Abhang herunterrollen, hochspringen, einen Sprung machen, aufschlagen, kollern, immer weiter herunter. Ich stand mit ihm in der Küche, Sandra mit Luise im Bad. Was ich mit Max anstellte, sein Schreien änderte sich nicht. Ich hielt ihn hoch, hielt ihn waagerecht in der Luft, zog ihn an mich; setzte mich auf den Küchen-Hocker, so ein wackelndes Gerät, ging, hielt still, versetzte ihn in Schaukelbewegungen. Aber er hörte nicht auf, es hörte nicht auf, denn es schrie in ihm, der Körper krampfte, wand sich. Der Schrei spitz, der Schrei gellte, drohte zu reißen. Kurze Stille, die hält, vielleicht hält – es brach hervor, der Mund aufgestoßen, es stieß aus ihm, brüllende Luft, schreiende Küche.
Ich wurde angefasst, an mir wurde gezerrt, es war etwas, das riss. Früher konnte ich gehen und fahren, wohin ich wollte, man brauchte nur Geld zum Tanken. Ich war frei, wollte nicht berührt werden – diese ständigen Umarmungen beim Begrüßen. Ich war der Spötter, saß mit anderen Spöttern in der Kneipe, die „Oblomow“ hieß. Saß zu Hause, die Füße auf der Schreibtischkante, kippelte mit dem Stuhl vor und zurück. Das war die Zeit, in der Nena sang: „Heut komm ich, heut geh ich auch“, das konnte ich immer noch summen, fast der ganze Text fiel mir noch ein, „ich seh mich um, probiere was, ich kenn den Weg nicht so genau.“ Aber jetzt wurde ich mitgenommen, begann eine neue Fahrt, und ich steuerte nicht. Und ich sah auch nicht zu. Ich hatte keine Ideen, sondern Aufgaben, und es gab eine Ordnung, die den Tag und die Nacht bestimmte.
Wasser aufsetzen, sechs Flaschen und Sauger in den Sterilisator. Wasser abgießen, abkühlen lassen. Flaschen nach Erlöschen der Kontroll-Lampe entnehmen, 80 ml Wasser einfüllen, Flasche eins bis sechs. Die Pulvertüte nehmen, den Mess-Löffel, fünf Löffel Aptamil einfüllen, links beginnen. Flaschen mit den Saugern verschließen, dann schütteln, Sauger wieder öffnen, Flaschen bis zur Markierung von 180 ml auffüllen. Eins bis sechs wieder verschließen, Schutzhüllen aufsetzen. Flaschen kräftig durchschütteln, Reihe zweimal abgehen, Flaschen in die Kühlschranktür stellen. Messlöffel in die Pulvertüte legen, schließen. Den Sterilisator reinigen. Flaschenwärmer für die Nacht vorbereiten, Wasser zum Einfüllen daneben stellen, Licht löschen, die Küche wird dunkel, ich darf mich hinlegen, Nacht.
Im Bogenfenster stand der Mond, Halbmond, hell leuchtend. Ich drehte mich weg, wieder zurück. Licht, das blendet, anzieht, nicht loslassen kann, weißer Mond, Mond-Magnet. Ich zog die Jalousie herunter, aber sie verteilte das Licht nur, brachte es ins Fließen, ich zog sie wieder hoch, Wolken zogen vorbei, Fetzen, die schnell segelten, ich war wach, ich schlief: „Was ist passiert? In mir gehen Leute spazieren an einem Meer, dessen Wellen dunkel schäumen. Diese Wellen muss ich niederhalten, aber wie hält man Wasser, wie fasst man Gischt?“ Ich musste aufstehen, ging durch die Wohnung, legte mich wieder hin. Aber der Mond war stärker: Er kann Meere auf und nieder bewegen, arbeitet in den Steinen. Ich wälzte mich, drehte die Decke auf die andere Seite, drückte das Kissen zusammen. Über dem Meer starteten Vögel und flogen in verschiedene Richtungen auseinander, ich konnte sie nicht halten, ein Vorhang wehte, öffnete sich zum Schlaf, ich kam nicht hindurch.
Allein im Haus ging es gut, wenn sie auf dem Teppich lagen, in den Händen kleine Geräte, eine Plastikdose, einen Stoffwurm. Aber dann ließen sie es fallen, wurden unruhig, befanden sich auf der Kippe, die Gesichter verzogen. Sie wollten schreien, ich sah es, es würde laut werden, und das einzige, was blieb, war der Einsatz eines starken Gegenreizes, der sie verblüffte. Sie müssen die Absicht vergessen, das Schreien vergessen, müssen ruhig werden – und ich bewege eine weiße, eine leichte Stoffwindel durch die Luft, und Max und Luise spüren den Luftzug, sehen die langsame Bewegung des Tuches, das gehoben wird, sich über ihnen bauscht und senkt. Ich legte mir das Tuch über den Kopf, beugte mich zu ihnen, war ein Gespenst. Es wohnt im Wald, äugt zwischen den Bäumen hindurch und sieht sich die Neuankömmlinge auf Erden an, wie ich mit hoher Stimme erzähle.
Es war eine neue Fahrt, und wenn ich früher unterwegs war, am Abend ankam, am Vormittag wieder einstieg, saß ich jetzt auf dem Fußboden mit einer Stoffwindel um den Kopf. Früher mochte ich Wolkenformationen, sah Wolkenzügen nach, jetzt lebte ich in einem Gehäuse, kannte mich mühsam. Wer war das, der ein Mobile mit Raupen hielt und den Kindern, die mit blanken Augen auf dem Sofa lagen, die Familienverhältnisse der Raupen erläuterte, Farben und Korrespondenzen der Tiere besprach: Wer sind die Eltern, welche Farbe, wie viele Kinder haben sie? Der den Zusammenhang der Raupen mit dem Apfel erläuterte, in dem ein Stück fehlte, und ihr Essverhalten malmend nachahmte? Dann wurden die Ringe am Bauch der langen blauen Raupe gezählt, vor und zurück, um zum Abschluss das Mobile in kreisende Bewegung zu versetzten.
Alles war ganz leicht. Ich war nicht gerade schwerelos, aber doch kurz davor. Schauer liefen mir über den Rücken, und ich hatte das Gefühl, heiligen Dingen beizuwohnen, dabei geschah eigentlich fast gar nichts. Ich musste am Abend zum Möbelmarkt, weil wir etwas brauchten, wie in dieser Zeit fast immer, eine kleine Kommode, eine Windelbox, Wolldecken. Die Autobahn führt an einem stillgelegten Stahlwerk vorbei, das wie eine erhobene Krake da steht, wie ein Stahl gewordenes Tier. Es ist angestrahlt, leuchtet im roten und braunen Rost, die hohen Greifer zur Seite gestellt, früher konnte es sich bewegen. Das neue Werk dahinter, eine flache Halle, ist in Betrieb: Rauch drängt aus den Luken, Fetzen und Ballen tauchen über der Straße auf. Sie treiben ins Licht, strudeln im Licht, reißen auf. Da zieht die Straße eine weite Kurve, und ich hörte Bob Dylan, „All along the watchtower“, der von seltsamen Dingen sang: Prinzen auf Wachtürmen, Reitern, die sich im Dunkeln nähern, der Wind begann zu heulen. Da war der Rauch, war die Stimme, „outside in the distance“, leuchtender Rauch, ich in einer großen Kurve, die kein Ende nahm.
Luise lag auf dem Rasen, in der Nähe eines hohen Busches. Sie hörte, weil der Wind durch die Blätter ging, sie aufrascheln, kräuseln ließ, und ihr Gesicht war eine Frage. Sie hört, alles andere vergessen, ganz Ohr: Nur das Geräusch, wenn der Luftzug die Blätter hebt, das Säuseln, Schwingen der Zweige vor und zurück. Durchrascheln, Streichen der Blätter, und sie weiß nicht, dachte ich, woher es kommt. Aber es könnte sein, dass ich etwas nicht weiß, etwas vergessen habe, das wichtig war. Vielleicht hört sie mehr, weil es das erste Mal ist, weil sie eine Frage hat. Wie muss es sein am Anfang Wind in einem Busch zu hören. Während ich herumlaufe und vieles gar nicht bemerke, nicht weiß, abgeschnitten von ganzen Bezirken, und vielleicht von den besten. Wer würde sich denn ins Gras legen und Zweigen zuhören. Das würde als peinlich gelten; aber ich habe auch das versucht.
Und in dieser Zeit träumte ich das erste Mal genau den eigenen Tod. Ich wusste vor einem Atemzug: Der wird der letzte sein, und tatsächlich war es ein langsames Ausgehen der Luft, ein Aufhören, von dem man wusste, dass es für immer war. Danach würde man darüber nicht mehr nachdenken können, würde überhaupt nie mehr da sein. Dabei war ich bei klarem Bewusstsein und seltsamerweise entsetzlich traurig, bedauerte mich selbst, verstand es nicht, wollte nicht verschwinden. Aber es musste sein, war soweit, der Atem ging, ein letzter Stoß, Seufzer nach innen, der Körper zog sich zusammen, aus. Am Morgen erwachte ich erschöpft, abgekämpft, aber erleichtert. Ich war noch da, kannte mich, wusste, wo ich war, Dienstag, das Denken funktionierte noch. Es gab zu tun. Ich zog die Sachen an, die auf dem Fußboden lagen, sah nach den Kindern, putzte lange die Zähne, spülte mehrmals. Mit Zufriedenheit leerte ich den Geschirrspüler, den wir erst neu angeschafft hatten, Wasserdampf, grün und gelb glänzendes Frühstücksgeschirr, das ich direkt zum Tisch trug.
Einzelteile traten aus Bildern hervor, kamen näher, wurden lebendig. Das geschah im Lauf der Zeit, die ich mit den Kindern verbrachte, der Blick schärfte sich, das Zusammenleben genügte. Beim gemeinsamen Joggen wies ich einen Freund auf ein Reh hin, das in der Mitte eines frisch besäten Feldes stand, niedrige Halme, grün im Saft. Mein Mitläufer sah mich kurz von der Seite an, denn natürlich standen hier ständig solche Rehe auf solchen Feldern herum, und deshalb redete ich nicht weiter. Das Tier hielt still, um in hohen Sätzen zum Rand des Feldes zu eilen, eigentlich zu schweben, denn die Schwerkraft gilt da nur zum Teil. Das Reh, das über die Saat springt, scheint seine Bestimmung ganz zu erfüllen, dachte ich, und dachte jetzt immer solche Sachen: Das Reh ist ganz bei sich, das Reh ist der Sprung, und was für ein Anfänger ist der Mensch, ein Dreispringer zum Beispiel: Dieses heftige Aufsetzen, wobei er fast den Fuß verdreht, dieses Hochreißen, das in einer Sandgrube endet. Schon beim Zusehen schmerzen die Sehnen – aber ich sah nun dem fliehenden Reh nach, seinen Bögen, seiner Spannung im Sprung, die es mit der Luft teilt. Wie es den Boden touchiert, kaum merklich, schon im nächsten Satz, in Bewegung gehalten, gestreckt.
Sandra sang den Kindern am Abend vor. Ich legte mich im Nebenzimmer auf den Teppich, das Kippfenster oben geöffnet, von der entfernten Straße Autorauschen zu hören. Die Vermieterin unter uns lief die Holztreppe, die immer knarrte, eilig herunter. Was ich am Tag gesehen hatte, ging mir durch den Kopf, wie Max und Luise jeder auf einem Elternbein sitzen, denn an diese Verteilung hatten sie sich nun gewöhnt, von dort aufmerksam herabblicken. Draußen in einem Garten wurde geredet, Worte kamen herauf, aber nur Laute, dahinter die Autos in langer Reihe, Vogelrufe, einer vorn, die anderen schwächer. So ein Strom, der mich mitzog, in dem ich gerne lag, und es war gut, dass sich alles so fortspann, vor sich hin lief, weiter ging, redete, hereinwehte. Irgendwo lachte jemand. Dass man der Länge nach dalag, die Muskeln vom Tragen der Kinder merkte, weil man etwas getan hat am Tag. Milchpfützen, die auseinanderliefen. Das alles ging durch mich hindurch, nahm mich mit, trug mich weiter hinab. Autos und Stimmen, Luftschwall, wieder die Holztreppe und von der anderen Seite Gesang.
Ich saß auf einem Stuhl, Max mir gegenüber in einem Sitz, der Wipper heißt und in dem sie normalerweise überhaupt nicht still hielten, heraus wollten. Aber jetzt saß er ruhig, der große runde Kopf kahl und glatt, die Augen weit geöffnet. Wir sahen uns an, und er hielt die ganze Zeit den Blick fest und still. Ob er sich wunderte, warum ich hier saß? Wie es kam, dass wir beide hier saßen. Mich wunderte es: Was hatte uns zusammengebracht? Sein Blick kam mir prüfend vor, nicht unfreundlich, aber genau. Wer hatte das entschieden, dass wir uns kennenlernten. Sein Blick fest, während ich immer wieder blinzelte, neu ansetzte. Er war jetzt mein Sohn und bestimmte mein Leben. Was ich zum Entstehen dieses Jungen mit den wirklich großen Augen beigetragen hatte, kam mir gering vor. Ich nahm einen Schluck Tee. Es geschah so vieles. Er sah mich an, ganz ruhig, hatte sich eingefunden.
Die Wagen der neuen Generation haben Luftdruckreifen, Aluminiumrahmen, laufen leicht. Auf den flachen Teilen des Waldwegs muss ich nur antippen. Hinten an der Stoff-Wand zeichnen sich zwei Köpfe ab, bohren sich hinein, wie sie sich überhaupt beim Schlafen gern in etwas hineinbohren. Mäuse wohnen am Weg, schnell vorüber. Äste ragen, beschatten den Asphalt. Auf einer Kuppe eine kleine Schlange, kommt nicht weg, ringelt, ringelt schnell, bleibt auf der Stelle. Der Wagen kaum zu hören auf dem glatten Boden. Bergab muss ich ihn halten, bergauf mich hinter ihn stemmen. An einer alten Eiche vorbei, daneben ein Schild, „1919“. Einen Stachelzweig abknicken, der in den Weg ragt, wegen der Reifen, denn ich hatte schon abends mit abmontiertem Rad unter der Schreibtischlampe gesessen, den Schlauch geflickt. Dann wieder ruhige Fahrt. Im Sommer, als der Weg voll Schatten war, standen vorn die nackten Füße heraus.
An einer Stelle der Fahrt steht eine Gruppe von Mittelmeerkiefern, helle herunterbrechende Rinde. Ein Geruch von süßlichem Holz, den ich einzog, der sich verteilte, mich erinnerte, und dann lag eine Landschaft da, in der ich stand; wie ein gespeicherter Punkt, der sich durch Berührung entfaltet. Man überquert die heiße Küstenstraße, dann durch ein Waldstück, Schuhe schon ausziehen. Unter dem Sand, unter der Sohle sind die Wurzeln der Kiefern, wie Muskeln gespannt. Die Füße mahlen den Sand, die Hacke sinkt ein, Nadeln in der Haut. Das Meer noch nicht zu sehen, aber der kühle Geruch kommt schon, hängt im Baumvorhang, vorne wird er sich öffnen, das Stimmengeräusch ist schon da. Wärme und Erwartung, hoher Puls, Tag am Meer – mit Sand in den Fingern, Wasserluft, Lachen, Ploppen. Mit Eistee, schwarzen Badeanzügen, deren Linien die Haut entlanggleiten, denen man folgen muss. Meer, das hinten in großes Blinken übergeht, und mehr gab es nicht an diesen Vormittagen als das warme Dösen, Versinken im Sand, müde Erregung.
Der Hauptweg, den ich die meisten Tage nahm, leer und still im Winter, im Frühjahr bei langsam einsickernder Wärme, dann im Sommer, als sich unter den Blättern die Kühle hielt, läuft auf halber Höhe durch den Wald. Ansteigende Bäume auf der rechten, abfallende auf der linken Seite. Das sind vor allem Buchen mit ihren ganz glatten Stämmen: Rinde wie Haut, helles Grau, wie aufgezogen, und man möchte hinüberfassen, darüber streichen. Sie stehen nicht zu dicht, viel Grün im Unterholz, eine Schicht mit altem Laub bedeckt den Boden, großer brauner Teppich. Ein mächtiger herabgefallener Zweig, der auch ohne Baum noch grünt, noch ragt, junge Blätter verteilt. Auf einer freien Fläche ein paar halbhohe Bäume, die plötzlich ins Auge fallen, im Licht stehen, als ob sie selber überrascht sind, sich jetzt neu betrachten.
Viele Wochen ging ich denselben Weg, sah nur die kleinen, sehr langsamen Veränderungen, wie das vorsichtige Hellgrün im Frühjahr Saft gewann, dunkler wurde, wie Brombeerranken sich dem Weg näherten, ihn an einem Morgen erreichten hatten, wie die Lichtflecken im September wuchsen, als das Laub dünner wurde. Vor langer Zeit hatte ich solche Dinge bemerkt, das fiel mir jetzt wieder ein, Restwärme des Septembers, dieses Noch-Einmal, Tau-Morgen, pflaumenschwerer Mittag, warme Dunkelheit. Dann hatte ich lange woanders zu tun. Jetzt rückte alles wieder heran, und ich konnte die Feinheiten erkennen, stand vor einer glitzernden Spinnwebkonstruktion zwischen zwei Ästen, weitgespannt, erstaunlich wie die hält, schob den Wagen vor und zurück. „Ach, werden die schnell groß“, sagten Leute, die wir trafen, aber es war nicht so.
Es war viel Zeit. Die Zeit war anders, sie war dichter, war gefüllt, man kam nur langsam hindurch. Die Zeit war Widerstand, Beine schwer, man ging wie durch Sand. Am Abend fragte ich: War das gestern? Nein, das war heute Vormittag. Zwischen Morgen und Abend eine lange Straße, immer geradeaus. Nichts schien voranzugehen, die Kinder lagen auf dem Bauch, wollten krabbeln, wippten aber nur wie Fische vor und zurück, Beine in der Luft. Ich sah zu, hatte Zeit, sah genau hin, wenig bewegte sich. Die Entfernung war gering, man sah wie durch ein Fenster ohne Glas.
Während Max als Lokomotive durch den Flur krabbelt, Luise wie ein schwankender Wagen hinterher, den Anschluss zu verlieren droht, dann aber ebenfalls die Küche erreicht, um sich dort am Kissen eines Stuhles hochzuziehen, also umzufallen, denke ich an die Ärztin, Prophetin, die bei einer Ultraschall-Untersuchung vor der Geburt zwischen Tasten, Touchscreen, farbigen Blutströmen und Signaltönen murmelte: „Da ist Leben“. Sie hatte Recht, hier ist Leben: Zähne, die schmerzen, jammern und klagen. Zähne, es tropft, das Halstuch durchnässt, der Anzug bis zum Bauchnabel nass, Zähne. Zwei sind schon da, feine Türme, nebeneinander gestellt. Wir gaben Max einen Ring, auf den er beißen sollte, aber er verstand nicht, was wir wollten; wir gaben ihm eine Mohrrübe, aber daran leckte er nur. Ich bekam Zweifel: Ein Naturprodukt sieht doch wohl anders aus. Wenn Max im Urwald so auf dem Rücken liegen würde, schreiend, rot angelaufen, tropfend, Zähne, wären längst schon sämtliche Kojoten da. „Ja“, sagt ein Freund, dem ich das am Telefon erzähle, „so ist der Mensch, aber nur am Anfang. Dann zündet der Geist, und nach drei Jahren hängt er jedes Tier ab.“ „Ja“, sage ich laut, denn Max schreit laut.
Meine Haut war dünn, manchmal knisternd wie Pergament, dann nur Luft, die gar nichts abhält. Umgeben von wilden Lauten, versuchte ich mir Mut zu machen, geduckt saß ich im Zimmer, hatte mir ein Buch mit der Weisheit des Ostens mitgenommen, versuchte zu lesen: „Was gebeugt ist, wird aufgerichtet.“ Aber ich verstand es nicht, entleertes Gehirn, denn sie schlugen Bauklötze gegen die Heizungsrohre, dass die Wohnung ewig hallte: „Was hohl ist, wird ausgefüllt.“ Ich war schwach, kam nicht gegen das Geschrei an, tat nichts, las mir vor: „Das Stille wird das Ungestüme besiegen.“ Aber das glaubte ich nicht, ließ sie ihre Spiele treiben, saß auf dem Boden, schob einen Schwung von Bauklötzen von meinen Beinen herunter, es war fünf Uhr morgens. Denn aus irgendwelchen Gründen waren sie sagenhaft früh wach, und es dauerte zwei Stunden, bis um uns herum im Viertel wenigstens die ersten Fenster hell wurden.
Was kann passieren? Wie unwahrscheinlich ist das einfache Durchkommen? Das Kind ist nun einige Monate alt, sitzt wie ein rechter Winkel im Unterhemd auf dem Teppich, mit einer Fliegenklatsche beschäftigt, die es in der Hand zu wenden versucht. Es gibt den großen Geländewagen der Nachbarin, die ihn kaum lenken kann: Wenn sie die Einfahrt anvisiert, wird sie rot im Gesicht. Es gibt tückische Freunde, die Luise in sumpfiges Gelände mitnehmen werden, während wir zu Hause sitzen und nichts ahnen. Es gibt Wahngespenster, die fünfzehn Jahre schlafen, um sich eines Morgens in der inneren Burg zu räkeln, langsam aufzustehen. Um durchzukommen, braucht man jede Menge Glück. Und eine Naturausstattung, die man sich nicht aussucht; man muss wendig sein, eine feste Haut haben, aus ihr heraus können. An sich glauben, aber nicht zu sehr, Gefahren ahnen. Ja, ich dachte an Gefahren, sah die Kinder, hatte Naturkatastrophen vor Augen, Überschwemmungen, brennende Häuser. Der Krieg kann wiederkommen, mein Vater war im Krieg. Da saß Max: Ein kleiner Junge, der nun seinen Hasen, Glücksbringer, Trostbringer, Heilsbringer, in einen Koffer gestopft hat und mühsam versucht, den Deckel zuzupressen.
Immer noch hatte ich nicht verstanden, nur das dringende Gefühl, etwas fassen zu müssen, von dem ich nicht wusste, was es war. Gleichzeitig saß alles klar vor mir, zwei Wesen auf dem Teppich, reine weiße Haut, die mich erwartungsvoll ansahen. Es ging um die Hauptsachen, ich strengte mich an, aber kam der Frage nicht näher, die sich immer kurz davor auflöste. Man kann sagen, dass sogar das Licht Zeit braucht, das alte, das noch Helligkeit schickt, das neue, das langsam hochsteigt, noch nicht wärmt, und man steht immer noch in einem alten Leben.
Als wir weitergingen, fing es an zu regnen, warmer Sommerregen. Der befeuchtet die Erde, lässt sie frisch aufbrechen. Erdgeruch hängt, süß, herb. Man hält die Haut hin, wenn er kommt. Regen hängt an den Zweigen, tropft. Er läuft den Weg hinab uns entgegen, sucht sich die Bahn zwischen Steinen hindurch, in Furchen, schlängelt sich herunter, wird mehr, über eine kleine Anhöhe hüpfend. In einem Kinderbuch, das sie noch nicht verstanden, aber gerne ansahen, war der Regen erklärt, ein Kreislauf: Die Sonne scheint auf die Erde, Wasser verdampft. Die Luft füllt sich, bis eine Wolke entsteht. Diese Wolke wird schwer, Wasser löst sich, es regnet. So bilden sich Pfützen. Auch die Ursachen haben Ursachen. Und die Folgen sind neue Ursachen, die wiederum Folgen haben. Aber das muss man nicht verstehen. Man muss mit Gummistiefeln in die Pfützen laufen, mit kleinen Trommelschritten heftig treten, rechts, links, dass es aufspritzt, sich verteilt. Pfütze leertreten. Oder sich gehen lassen im Sommerregen, der alles bedeckt, besetzt, mit dem Wind heransprüht. Alles trinkt und tropft und hängt ins Land. Da geht man, geht und summt ein Regenlied.
Sie saßen auf dem Topf, ich musste sie bewachen, und sie forderten, dass ich das „Röslein“ singen sollte. Wir hatten uns nur unter Mühen die Vertonung von Goethes „Heideröslein“ angeeignet; es gibt da komplizierte Partien, die mich immer ins Stolpern brachten, wo ich hörte, dass etwas nicht stimmte. Aber nun musste ich singen, denn sie drohten damit, die Töpfe wieder zu verlassen, hatten ihre nackten Unterleiber schon halb erhoben: „Sah ein Knab ein Röslein stehn.“ Still ruhten dicke Schenkel, blauer Topf, roter Topf, man lächelte zufrieden. Ich saß auf dem kalten Fußboden, denn die Badezimmermatte lag ja unter ihnen: „Röslein sprach: Ich steche dich, dass Du ewig denkst an mich.“ War umgeben von Feuchttüchern, kleinen Büchern, Schiffen und sonstigen Dingen, die sie mit auf die Toilette nehmen wollten und die sich dort sammelten: „Und der wilde Knabe brach’s Röslein auf der Heiden.“ So saßen wir eine Zeit, denn auf ihrer Seite geschah nichts, während ich das Lied zu Ende führte und die Schönheit leiden musste, worüber ich aber nicht nachdenken konnte, weil sie eine Wiederholung verlangten, „Röslein-Lala“ riefen, fordernd. Mir war ängstlich zumute, ich begann wieder zu singen, wieder ging der Knabe über die Heide, erblickte wieder das Mädchen, und die alte Geschichte begann, es half kein Weh und Ach.
Ich ging auf Wattefüßen und stand auf einem Felsboden. Ja, das sind Widersprüche, so wie ich lachen musste, fluchte, in Andacht versunken stand. Und wenn einer fragt, war es heilig, war es komisch, kann ich es nicht sagen. So wie Luise, die eben noch aus dem Fenster den Vollmond ansah, ganz gelöstes Gesicht, vom Mond beschienen – gleich einen Becher aus ihrem Set griff und laute hineinredete, dass es wie eine scheppernde Durchsage am Bahnhof klang. So umgeben von Rätseln. Wie Reisende, die in den Pyramiden stehen, Zeichen, Tiere, Ornamente ansehen, die sie nicht verstehen; aber es muss doch eine Botschaft darin stecken, und sie starren konzentriert hin, als würde das helfen. Kinder, die Bauklötze gegen die untere Hälfte des Schrankes schlugen. Spitze Beulen im Holz, Hieroglyphen. Meine Beine schwer wie vom Gehen durch weichen, tiefen Sand. Bilder in der Mattigkeit des Abends, die sich nicht ordneten, aber auch nicht auflösten, nur im Kopf herumzogen wie Tuff-Wolken, rosa angestrahlt.
Schmaler Streifen Rot am Nachthimmel, und endlich kamen gleichmäßige Atemgeräusche aus dem Bett, ein leises Pfeifen, rückwärts ging ich leise weg. Die Gedanken kreisten langsam zu Ende, als ich durch die Wohnung ging. It’s the end of the world as we knew it and I feel fine – Die Himmel wechseln ihre Sterne – Die Barke segelt wieder los. Ich habe nicht viel verstanden, gehe herum, sehe zu, wundere mich, stecke Legosteine in die Hosentasche, feel fine. Langsam kommt die Müdigkeit. Wie Balsam, sagt man, das ich nicht kenne, aber mir vorstelle, Kühle auf die Haut gelegt, ein klarer Geruch, der sich senkt, reinigt, Balsamtuch. Balsam stelle ich mir vor wie das Wort Balsam, das die Zunge sanft bewegt, nicht schwer, es klingt mit seinem „l“ und „s“ und „a“ nach Pflege, Kühle, Frieden, da will einer Gutes tun. Stille senkt sich, Balsamnacht. Die Fensterbank, vom Mondlicht hell, weißes Tuch, das ausgebreitet wird. Auf die Unruhe legt sich Balsam, Muskeln sinken dann zurück, und ich kann liegen, kann schlafen, Balsam, denke ich, ist gut.
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