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Norbert Scheuer
Überm Rauschen
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Die Urft fließt direkt unter dem Küchenfenster unseres Elternhauses vorbei. Flußabwärts, wo das Wasser für die Zehnermühle abzweigt, ist der Rauschen. So nennen die Leute in der Gegend das Wehr, weil der Fluß dort zwei Meter in die Tiefe stürzt. Vor dem Rauschen ist die Urft breit, strömt an der Hausmauer unserer Gaststätte entlang, dort stehen die großen Forellen, die mein Bruder, Hermann, als wir Kinder waren, aus einem Fremdenzimmer mit dem Feldstecher beobachtete. Im Sommer, wenn Angler im Haus übernachteten, schliefen wir unter dem Dach in einer Mansarde, neben dem Zimmer unserer Eltern. Nach der Angelsaison logierten Gläubige bei uns, die zum Gewand Jesu nach Trier pilgerten. Wenn keine Gäste mehr im Haus waren, konnten wir uns Zimmer aussuchen. Hermann schlief immer zur Urft hin, das rauschende Wasser beruhigte ihn. Ich schlief bei Hermann, weil ich Angst hatte, alleine zu sein, Angst vor Kobolden, die in Waldhöhlen hausten. Nachts, wenn ich alleine mit der Stille war und mich fürchtete, wollte ich, daß Hermann mir aus Büchern vorlas oder über Fische redete, er erzählte von Forellen und Äschen, die hinter den Brückenpfeilern standen, in den Strömungskanten und Gumpen am Rauschen unterhalb des Wehrs.
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Alma ruft mich bei der Arbeit an, sie sagt, daß ich kommen müsse, sie verdächtigten Hermann, die Holländerin umgebracht zu haben. Die Sache mit der Holländerin, dort wissen es alle, alle reden darüber. Ich sitze in meinem Büro, blicke auf den Bildschirm, während Alma weiter von der Holländerin spricht, daß Hermann geglaubt habe, die würde ihn lieben. „Sie ist nur in den Ferien gekommen, sie war verheiratet, hatte Kinder; als sie merkte, wie ernst er es meinte, wollte sie nichts mehr von ihm wissen. Sie glauben hier alle, daß er es gewesen ist. Er kommt nicht mehr aus seinem Zimmer, redet mit niemanden, auch mit mir nicht. Wahrscheinlich bindet er nur noch Fliegenköder zum Angeln.“
Ich nehme abends, nach der Arbeit, den Zug, komme am frühen Morgen in Köln an, warte auf die Regionalbahn, die in die Eifel fährt. Im Abteil sitzen amerikanische Soldaten, die zur Airbase nach Bitburg unterwegs sind, und dösen. Der Zug fährt am Fluß entlang, durch Städtchen und Dörfer. Das Flußtal wird vor meinem Heimatort Kall so eng, daß sich neben die Gleise nur noch die Urft zwängt. An Sandsteinfelsen am Hang krallen sich Buchen und Kiefern, deren Zweige bis zur Flußmitte reichen. Damals hatte Hermann erzählt, daß diese Bäume die Fische fütterten. Ich verstand das nicht, bis er mir erklärte, daß winzige Käfer von Zweigen und Blättern in den Fluß hinabfallen. Die Urft ist an dieser Stelle tief. „Die Fische haben hier ihre Ruhe“, flüsterte Hermann, wenn wir im Winter auf dem Eis angelten. Wir fahren durch den Dechentunnel. Der Zug hält am Bahnhof, fährt dann ein Stück durch den Ort. Vor der Schranke stehend, warte ich den vorbeiratternden Zug ab. Auf der anderen Seite der Bahngleise an der Urft liegt unsere Gastwirtschaft. Der Zug verschwindet in der Nähe der Gaststätte im Sandsteinportal des Stiftbergtunnels, kommt hinter Kall wieder zum Vorschein und folgt weiter dem Flußlauf.
Im Schankraum sitzt der alte Zehner auf einem Hocker vor der Theke. Zehners Hund liegt schlafend beim Glücksspielautomaten, sein Fell stinkt nach der auf den Feldern ausgebrachten Gülle. Zehner hat sich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt, die Mühle an einen Futtermittelvertrieb verkauft. Seither spaziert er nur noch über die Felder, und bei schlechtem Wetter sitzt er den ganzen Tag an der Theke unserer Gastwirtschaft. Sein Sohn ist jetzt Geschäftsführer des Vertriebes. Alma hantiert in der Küche vor der Anrichte. Meine Schwestern wurden von ihr angerufen und sitzen bereits am Küchentisch, in die Jahre gekommene Frauen, früher waren sie einmal hübsch.
„Die Polizei ist heute morgen schon dagewesen, aber Hermann hat keinen ins Zimmer gelassen und noch nicht mal mit Sartorius geredet, der kommt aber noch mal vorbei“, sagt Alma. Die Holländerin wurde vor zwei Wochen gefunden. Sartorius habe gehofft, daß bis zu seiner Pensionierung nichts Großes mehr passiere. Die Holländerin wohnte zuletzt in ihrem Wohnwagen auf dem Campingplatz, der an der Urft in der Nähe des Freibads liegt. Ihr Wohnwagen befinde sich direkt am Fluß, und wenn das Wasser weiter steige, werde er bald überschwemmt. Im Wohnwagen habe man Köder gefunden, die nur Hermann angefertigt haben könne. Er habe es im Fliegenbinden mittlerweile zu einer Kunst gebracht, die Köder seien echten Fliegen täuschend ähnlich. Abends habe Hermann hinter der Theke gestanden, habe den Anglern erklärt, mit welchen Ködern man Forellen, Barben, Äschen und Hechte fange. Auch die Holländerin sei mit ihrem Mann in die Gaststätte gekommen. Manche sagen, daß Hermann sie gut gekannt habe. Andere Männer haben sie auch besucht. „Am Abend vor ihrem Verschwinden soll aber nur Hermann bei ihr gewesen sein, sie soll ihm gesagt haben, daß sie nichts mehr von ihm will.“
Nachdem ich ein paar belanglose Worte mit meinen Schwestern gewechselt habe, gehe ich gleich zu Hermanns Zimmer hinauf. Auf dem Treppenabsatz steht eine von Mutter bemalte Milchkanne, an der Wand hängt eine topographische Karte der Westeifel. Die Karte ist eingerahmt mit Werbung der Raiffeisenbank, des Autohauses, des Zementwerkes, der Zehnermühle. Man sieht den Verlauf der Urft, wie sie sich durch das felsige Tal schlängelt. Jemand hat mit einem Kugelschreiber Kringel um Dörfer gemalt, mit Namen wie Hunscheidt, Krekel, Wahlen und Keldenich.
Auf der ersten Etage führt der schmale Flur ins Frühstückszimmer, dort ist eine Fernsehecke und eine kleine Bar, an der Gäste sich selbst bedienen können. Am Ende des Raums geht es zum zweiten Stock hinauf. Es ist klamm und kalt, das ganze Haus zu heizen, wäre in der Winterzeit zu teuer, da nur wenige Gäste hier logieren. In den Wintermonaten waren die Einnahmen so gering, daß man oft die Getränkelieferanten nicht bezahlen konnte.
Hermanns Tür bleibt verschlossen, ich erzähle meinem Bruder, daß ich jetzt aus Hamburg gekommen sei, in Köln lange gewartet habe, bis endlich am Morgen eine Bahn in die Eifel gefahren sei. Ich frage, wie es ihm gehe, was mit ihm los sei, warum er nicht sprechen wolle. Auch mir antwortet er nicht. Ich höre nur, wie er das Fenster öffnet, und das Rauschen hereinkommt.
„Was ist mit Hermann?“ fragt die jüngere Schwester schnippisch, als ich mich zu ihnen an den Tisch setze. Sie hat ihre dürren Beine übereinandergeschlagen, auf ihrem Schoß steht eine Ledertasche. Die jüngere Schwester hat sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt und arbeitet seither wieder als Einkäuferin bei einer Cateringfirma in Trier. Die ältere Schwester lebt noch mit ihrem Lehrer zusammen und ist halbtags in einer nahen Kurklinik im Sekretariat angestellt. Ich habe meine Schwestern zuletzt bei Vaters Beerdigung gesehen. Die Ältere steht auf und geht zur Spüle. Alma weicht einen Schritt zur Seite, als die Schwester Wasser in ein Glas laufen läßt. Auf der Spüle liegen Äschen, die Angler gefangen haben und mittags zubereitet haben möchten. Die Äsche gilt als ein scheuer Fisch, sie hat ein spitzes Maul, kleine kluge Augen und silbrigweiße Schuppen. Die Schwester nippt am Wasserglas und kommt zum Tisch zurück. Sie sagt, daß sie gar nicht wisse, was sie hier solle, die jüngere Schwester stimmt ihr sogleich zu.
Der alte Zehner ruft, daß die Brückenarbeiter hereingekommen seien. Er redet laut, schreit fast mit ihnen, weil er schwerhörig ist. Die Brücke habe damals den Ort gerettet, bei einem plötzlichen Tauwetter sei das ganze Eis abgegangen. In einer Nacht haben sich Eisschollen vor der Brücke aufgetürmt. Zehner redet weiter von einer alten Frau, die mit ihrem Bett im Wasser schwamm, und von ersoffenem Milchvieh. „Alle standen wir auf der Brücke und versuchten, mit Stangen und Spitzhacken die Eisschollen zu brechen“, schreit der alte Zehner aufgebracht. Ich kenne diese Geschichte, erinnere mich, daß sie oft erzählt wurde, früher, wenn ich als Jugendlicher hinter der Theke stand. Die Arbeiter trinken einen Schnaps, um sich aufzuwärmen, dann gehen sie wieder zur Brücke. Einer von ihnen hat noch alleine mit Alma an der Theke gestanden und getuschelt.
Alma kommt, nachdem sie Zehner ein Bier gezapft hat, in die Küche zurück. Sie holt ein Schälmesser aus der Küchenlade, geht zur Anrichte, um die Äschen auszunehmen. Sie erzählt: „Als die Holländerin unter dem Eis hervorkam, trug sie blaue Ohrenschützer, die um ihren Hals hingen, ihre Augen waren wie von Nadeln zerstochen. Wenn sie einfach nur ins Wasser gefallen wäre, ihre Augen wären nicht so zerstochen. An ihrem Körper und an ihren Kleidern hingen Blutegel.“ Wenn Alma etwas erzählt, behandeln meine Schwestern sie, als wäre sie Luft, immer schon hatten sie etwas gegen Alma. Ihre Lippen zittern, es sieht aus, als würde sie gleich weinen. Sie wendet sich ab und blickt durch das Küchenfenster zur Urftbrücke.
Auf der Brücke steht ein Pritschenwagen. Unter dem Planenverdeck liegt ein Kompressor. Der Arbeiter, der in der Gaststätte mit Alma geredet hat, springt vom Pritschenwagen auf die Straße, steht im Kreis seiner Kollegen und wirft die Zigarette in eine Pfütze. Die Arbeiter tragen Regenjacken und Schutzhelme. Sie kommen nicht aus dieser Gegend, sind von einer Spezialfirma, die überall im Land Brücken untersucht. Seit einigen Tagen logieren sie bei uns.
Das Handy der jüngeren Schwester klingelt. Sie geht in den Flur, wir hören, wie sie mit ihren Angestellten telefoniert, ihnen sagt, was unbedingt noch zu erledigen sei, daß sie, so schnell es gehe, wieder im Büro sei. Sie kommt in die Küche zurück und fragt ihre Schwester, ob sie mit ins Stift hinaufgehe. Mutter lebt in einem Altenheim im Stift, seit sie vergeßlich geworden ist. „Hier sind wir überflüssig, es bringt doch nichts“, bemerkt sie beim Hinausgehen. Die ältere Schwester folgt ihr. Jetzt sitze ich alleine am Küchentisch, Alma hat mir den Rücken zugekehrt. Seit Mutter oben im Stift wohnt, hat sie die Gaststätte geführt. Hermann interessierte sich nur für seine Köderfliegen; von morgens bis abends hockte er am Fluß, beobachtete Mücken und Falter über dem Wasser, machte Notizen. Wenn er abends wiederkam, stellte er sich hinter die Theke, trank, gab Runde um Runde aus. Früher hatte er nie getrunken. Alle fragen sich nun, ob es etwas damit zu tun hat, daß die Holländerin nichts mehr von ihm wissen wollte.
Alma legt eine Äsche in ihre Hand, entfernt mit dem Schälmesser Schuppen, schneidet den Fischbauch auf, holt Organe heraus und läßt dann Wasser aus dem Kran in den Äschenbauch laufen - sie macht es wie Mutter früher. Alma hat mich hin und wieder in der Stadt angerufen. Auch nachdem ich ihr gesagt hatte, daß sie nicht mehr zu mir kommen soll.
Jemand ist in den Schankraum getreten, schlägt auf die Klingel. Alma streift sich die Hände an der Schürze ab, blickt mich an. Wir wissen beide, daß nur der Von Salm so auf diese Klingel schlägt. Ich höre, wie sie in der Gaststätte miteinander reden, wie Von Salm sie nach dem Brückenarbeiter fragt und ihr Vorwürfe macht, dann sagt er, daß sie Setzlinge in den Fluß einbringen müssen. Knuppeglas begleitet ihn beim Aussetzen der Jungfische und hilft bei den Zuchtteichen. Salm hat die Teiche von seinem Vater geerbt, er hat lebenslanges Wohnrecht in einem kleinen Nebengebäude des Schlosses, das einmal seiner Familie gehört hatte und wegen Spielschulden des Alten von Salm verkauft werden mußte. Während Alma mit Salm redet, denke ich an früher, als Salm, Hermann, Alma, ihr Bruder und ich im Erdunterstand waren. Alma streifte ihren Pullover über den Kopf, sie hatte ein Muttermal zwischen den Brüsten. Wir hockten auf dem Boden und befriedigten uns selbst. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe zeigte auf ihre Knie, tastete zwischen ihren Schenkel hinauf. Salm hatte Almas Bruder Geld gegeben, damit sie sich vor uns auszieht. Salm wollte sie berühren. Plötzlich steckte der Bruder die Taschenlampe in seinen Mund. Sie leuchtete durch seine aufgeblähten Wangen, er schaltete die Taschenlampe mehrmals im Mund ein und aus. Hermann kroch nach draußen und lief weg. Der Bruder sagte, ich solle auch verschwinden, dann zeigte der Lichtstrahl auf Salm, der mit heruntergezogener Hose und erigiertem Glied dastand.
„Los, Herr Graf, raus hier, verschwinde“, lachte der Bruder. Salm kroch raus und stand im Schützengraben, machte seine Hose zu, klopfte den Schmutz von den Hosenbeinen, steckte das Halstuch, das er immer trug, in seinen Hemdkragen. Salm war damals in einem Internat, kam nur während der Ferien nach Hause. Es waren Herbstferien. Blätter schneiten auf den Waldboden. Wir liefen durch die Schützengräben, den Hang hinunter bis zum Flußufer, wo Hermann saß. Schimmernde Prachtlibellen schwebten über dem seichten schlammigen Uferwasser, sie machten ruckartige Bewegungen, wurden für einen Moment unsichtbar.
Ich gehe wieder zu Hermann, bin müde, setze mich im Flur neben die Tür, frage, ob er sich noch daran erinnere, wie wir immer bei Gewitterregen im Fluß schwammen, wie angenehm warm das Wasser war, daß ich gern wieder einmal bei Gewitterregen im Fluß schwämme – auch wenn’s gefährlich ist. „Ich hatte nie Angst, wenn du bei mir warst. Erinnerst du dich noch, wie ich beim Eisangeln eingebrochen bin – ich weiß bis heute nicht, wie mir das passiert ist, ein Glück, Hermann, daß du mich rausgeholt hast. Weißt du noch, mir sind immer solche Sachen passiert, und du hast mir geholfen. – Hermann, komm doch endlich raus, oder sag was.“ Ich klopfe gegen die Tür. „Hermann, weißt du noch, als ich zu mir kam, hatte ich deine Klamotten an, du hast nackt auf dem Gleis gestanden und den Zug angehalten. Ich dachte, der würde dich überfahren, weißt du, wie der Zugführer herauskam und tobte und schrie, und die Leute aus dem Zug haben vielleicht geguckt.“ Ich frage wieder, ob er sich noch daran erinnert. Aber er antwortet nicht. Ich rede von meiner Arbeit. Hermann hat sich immer für Maschinenbau interessiert, er war der Klügere von uns, als ich bereits studierte, konnte er mir noch vieles erklären, obwohl er nur die Hauptschule besucht hatte. „Ich wäre besser hiergeblieben, und du hättest studiert“, sage ich. Ich erzähle lauter Dinge, die ich lange vergessen hatte. Wieder bitte ich ihn, etwas zu sagen, die Tür zu öffnen. „Wenn Sartorius wiederkommt, wird er die Tür aufbrechen“, sage ich schließlich wütend.
Alma hat mir Bier und Schnaps hingestellt. Ich hatte mir vorgenommen, nie mehr zu trinken. Aber alles ist dann viel leichter, ich treibe jetzt wie auf einem Floß durch Erinnerungen. Der Mittagszug fährt in den Tunnel. Er hält am Bahnhof, Schulkinder steigen aus, die Schranken gehen runter, der Zug fährt an der Gaststätte vorbei, die feinen Sektgläser in der Glasvitrine hinter der Theke zittern. Mutter sagte früher zu Alma, wenn sie morgens die Gaststätte putzte, sie solle die Gläser einen Fingerbreit auseinanderstellen und Servietten unterlegen. Alma machte alles, was Mutter sagte. Irgendwann war sie für Mutter wie eine Tochter. Die Schwestern haben Alma auch deshalb nicht leiden mögen. Damals, als sie das erste Mal zu uns in die Gaststätte kam, war sie ein junges, hochaufgeschossenes Mädchen, Tochter von russischen Aussiedlern, die in einem Bruchsteinhaus an der Straße zur Stiftskirche hinauf wohnten. Ihr Vater, ein humpelnder, verschlossener Mann mit einem schmalen Gesicht, dunklen Bartstoppeln, arbeitete als Melker auf einem Hof, später im Zementwerk. Alma half Mutter auch abends in der Gaststätte. Einmal lag ich mit Hermann unter der Bank des Stammtisches, er wollte hören, was die Angler erzählten. Später konnten wir nicht mehr unter der Bank hervorkommen. Männer stritten sich. Bierpfützen auf dem Boden, das Schuhwerk von Bauern, Zementwerkarbeitern, Lastwagenfahrern. Glasscherben knirschten. „Ich schlag dich tot“, schrie einer. Sartorius kam, um die Streithähne zu trennen. Später, als alle gegangen, die Tür der Gaststätte abgeschlossen war, sahen wir nur noch Almas Turnschuhe, sie öffnete ein Fenster. Das Rauschen drang herein. Vater kam, ging hinter die Theke und tuschelte mit Alma, sie machten das Licht aus, gingen leise nach oben. Wir krochen unter der Bank hervor. „Du darfst Mutter nichts davon erzählen“, fauchte Hermann.
Die Schulkinder laufen unter der sich aufrichtenden Schranke hindurch zur Bushaltestelle. Der Linienbus bringt sie zu kleinen Höhendörfern. Salm und Knuppeglas verlassen die Gaststätte. Sie gehen zum Auto, auf dessen Ladefläche ein Bottich mit Setzlingen steht. Ich stehe am Fenster neben der Anrichte. Alma ist in die Küche zurückgekommen und brät die Äschen.
„Hermann ist in letzter Zeit immer seltsamer geworden“, bemerkt sie.
„Vielleicht hättest du mich früher anrufen sollen.“
„Du wolltest doch nicht mehr, daß ich dich anrufe.“ Ihre Lippen sind blaß. Sie hat mandelförmige blaue Augen, die ein wenig schielen. Mutter sagte, sie habe einen Silberblick. An ihrer Wange kleben einige Äschenschüppchen. Alma wendet die Fische, sie muß achtgeben, daß die Haut nicht an der Pfanne hängenbleibt. Bald darauf kommen die Angler und dann die Arbeiter in den Schankraum. Alma geht hinüber, um sie zu bedienen. Die Arbeiter sind nur herein gekommen, weil es zu sehr regnet. Ihr Vorarbeiter breitet auf dem Tisch einen Plan aus, zeigt auf eine Stelle und sagt, daß die Versorgungsleitungen unter der Brücke noch überprüft werden müssen. Alma serviert den Anglern die Fische.
Ich stehe wieder vor Hermanns Tür und klopfe ungeduldig. Ein Gast geht an mir vorbei, es ist einer der Brückenarbeiter, dessen Kleidung triefnaß ist und der sich umziehen will. Während er seine Zimmertür aufschließt, blickt er zu mir herüber. Tageslicht schimmert durch Glassteine am Flurende, auf dem Boden stehen künstliche Sonnenblumen. Es ist still in Hermanns Zimmer, nicht einmal das Rauschen ist zu hören. Der alte Zehner behauptete früher, betrunken an der Theke stehend, im Rauschen könne man alles hören, was jemals am Fluß geschehen sei.
Als ich wieder nach unten komme, hat Alma mir Kartoffeln, Äschen und Salat auf den Tisch gestellt. Früher, wenn sie mich an ihren freien Tagen besuchte, brachte sie Fische mit, bereitete sie zu, blieb über Nacht, wir schliefen miteinander, am nächsten Morgen fuhr sie zurück. Sie setzt sich an den Tisch, sieht mir beim Essen zu, fragt, ob es schmecke. Die Äsche ist ein wohlschmeckender, nach Thymian duftender Speisefisch, aber mit vielen kleinen Gräten, deswegen weniger beliebt als die Forelle.
„Es hat keinen Zweck, er wird die Tür nicht öffnen, hat auch seit Tagen nichts mehr gegessen, ich dachte, auf dich würde er hören, was machen wir nur, wenn Sartorius kommt“, fragt Alma. Sie steht auf und geht in die Gaststätte. Nur noch der alte Zehner sitzt an der Theke. Alma bringt das Geschirr in die Küche und spült es ab. Sie erzählt mir wieder von der Holländerin, wie schön sie war, daß sie oft bei Hermann am Tisch saß, ihm zusah, wie er Köder anfertigte. Vorsichtig zog er die Larve der Köcherfliege aus ihrem Gehäuse. - Die Larve der Köcherfliege baut ihr Gehäuse aus Sand- und Holzpartikeln auf dem Flußgrund. - Hermann umwickelte den Schenkel eines Einfachhakens mit einer Wollfadenwicklung, kratzte mit einer Nadel eine schmale Rinne in das Gehäuse, bestrich den Wollfaden mit Kleber, schob das Gehäuse auf den Hakenschenkel, band hinter dem Hakenöhr einen Hechelkranz, stellte den Hechel hoch und zwirbelte ihn. Wenn Hermann einen Köder fertig hatte, hängte er ihn in einen Glaskasten hinter der Theke. In ihm sah man Nymphen mit lichtgrauem Körper, rötliche Maifliegen, den Sprock, Rohrmaden, den Steinerbskerl. Im Frühjahr kamen die Angler, um sie zu kaufen.
„Zuletzt hat Hermann seine Köder nicht mehr abgegeben, auch wenn die Angler ihn noch so sehr darum baten. Er hat aber immer weiter welche gebunden“, sagt sie und weist auf die Tapete, auf der überall Köder eingehakt sind.
„Hermann ist früh morgens aufgestanden, hat schweigend gefrühstückt, ist zum Fluß gegangen, hat irgendwo am Ufer gehockt und beobachtet, wie Fische im Wasser stehen, was sie fressen, wie sie auf Fliegen, Maden und Mücken gehen. Er gab seinen Ködern Namen wie: Schwarzer Geist, Blauer Tau, Roter Umhang, Perlenpalmer.“ Während Alma all dies erzählt, stehe ich am Küchenfenster, sehe, wie der Arbeiter ein Sicherungsseil umschnallt, am Holm der Pritsche festbindet und über das Brückengeländer steigt. Er wird zum mittleren Brückenpfeiler hinabgelassen. Einen Moment schwebt er mit ausgebreiteten Armen, wie an einer Angelschnur hängend, dicht überm Fluß. Durch das plötzlich einsetzende Tauwetter führt die Urft Hochwasser. Die Kollegen ziehen den Arbeiter hoch. Er findet auf dem vorstehenden Brückenpfeiler Halt. Sie lassen Seil nach, er kriecht unter die Brücke, dort verlaufen Gasrohre und Stromkabel. Früher haben wir oben von der Brücke geangelt. Dort, wo das um den Pfeiler strömende Wasser zusammenfließt, bildet sich eine ruhige Stelle. Man muß, da die Verwirbelungen des Oberflächenwassers die Beute nach unten drückt, auf Grund angeln, das Vorfach mit Blei beschweren. Eigentlich ist es verboten, von der Brücke zu angeln, und wenn Sartorius kam, rannten wir weg.
Der Arbeiter holt einen Schraubenzieher aus seiner Brusttasche und stochert damit am Eisenträger, fängt mit der Hand den abgekratzten Rost auf, den er in ein Tütchen steckt, dann kriecht er wieder unter der Brücke hervor, stößt dabei mit seinem Helm gegen einen Träger. Der Helm fällt in den Fluß, treibt wie ein kleines Boot auf den Wellen, wird von der Strömung auf die Hauswand der Gaststätte zugetrieben, streicht an der Wand entlang. Ich könnte ihn vom Küchenfenster aus mit einem Besenstiel herausfischen, so hoch ist das Wasser gestiegen. Alma steht neben mir, während der Helm wieder zur Flußmitte auf das Rauschen zutreibt, erzählt sie, daß der Fluß vor zwei Wochen noch zugefroren war. Kinder hatten eine Rutschbahn aufs Eis geschlagen. Sie nahmen Anlauf, schlitterten von der Brücke auf das Wehr zu, kamen jedesmal einige Meter weiter, bis ihre Rutschbahn am Rauschen endete, der aber zugefroren und still war. Nur die Geschicktesten glitten von der Brücke bis zum Rauschen. Einer stolperte und rutschte bäuchlings auf das Wehr zu. Mit ausgebreiteten Armen blieb der Junge liegen, wischte übers Eis, erkannte unter dem Eis eine dicke Hand, die etwas zu halten schien. Es waren, wie sich später herausstellen sollte, Neunaugen, die sich an der Hand der Holländerin angesaugt und festgebissen hatten. Sie war seit zwei Wochen verschwunden. Man hatte sich keine Sorgen um sie gemacht, da sie ja auch zu Hause in der Stadt sein konnte oder vielleicht bei einem Ami in der Militärbasis. Knuppeglas war auf diesen Gedanken gekommen, weil seine Frau vor einigen Jahren mit einem Ami abgehauen war. Der alte Zehner, Salm und Knuppeglas standen mit Sartorius auf dem Eis. Sie hatten ein Loch hineingeschlagen. Sartorius kratzte mit der Stiefelhacke ein großes Geviert in den Schnee, sperrte es ab, verbot jedem, näher an das Loch heranzugehen. Er selbst hockte davor, als das Gesicht der Holländerin zwischen den Eisstücken auftauchte. Eine Sonderkommission aus Köln reiste an. Auf der Brücke standen nun Scheinwerfer, die zum Rauschen hinüber leuchteten, auf Männer, die die Holländerin aus dem Loch zogen und in einen Leichensack legten. Die Fundstelle, ein Geviert von fünf mal fünf Metern, war nun mit einem rotweißen Plastikband abgesperrt. In den nächsten Tagen, noch während die Kriminalpolizei ermittelte, taute es, die Eisenstangen sanken auf den Grund, das Band trieb auf das Wehr hinaus und blieb im Ufergestrüpp hängen. Der Rauschen war jetzt wieder zu hören.
Als die Schwestern aus dem Stift zurück sind, setzen sie sich an den Küchentisch und bitten Alma, Kaffee zu machen, sie sind durchnäßt und frieren. Sie fragen, was mit Hermann sei. Dann berichten sie, daß Mutter sie zuerst gar nicht wiedererkannt habe. Sie erzählen, daß sie mit Mutter an Vaters Grab gewesen seien, an das sie sich aber auch nicht mehr erinnert habe. Statt dessen habe sie nur von ihrem ersten Mann, Valentin, Hermanns Vater, gesprochen. Auch habe nur eine Fotografie von Valentin und Alma in ihrem Zimmer gestanden. Alma sei die einzige, an die Mutter sich wirklich erinnere.
„Sie haben es ihn spüren lassen“, erzählt Alma. „Sonntagmorgen, als sie nach der Kirche in die Gaststätte wollten, ist Hermann in seinem Zimmer geblieben. Sie haben vor der Tür gestanden, ich habe geöffnet, weil wir die Einnahmen doch brauchen“, entschuldigt sie sich. „Später kam er in die Gaststätte, betrank sich, beschimpfte die Gäste. Es kamen noch mehr Leute, weil sie das Ganze als Spektakel empfanden. Hermann sagte mir, daß er nur noch in seinem Zimmer sitzen und immerzu das Rauschen hören wolle. Sein ganzes Zimmer war voller Köder, die er an der Tapete befestigte hatte, mit Anmerkungen auf Zettelchen. Später dann lag er in seinem Bett, starrte an die Zimmerdecke, wo die Spiegelungen des Flusses schimmerten. Wenn überhaupt, dann kam er erst spät abends nach unten, betrank sich, schenkte Schnaps aus, niemand mußte bezahlen. Ich brachte ihn, wenn alle weg waren, nach oben. Er hockte auf dem Bettrand, hatte sich um seinen Verstand gesoffen und redete wirres Zeug.“
Nun dämmert es, der Abendzug kommt, der Zug, mit dem ich früher vom Gymnasium nach Hause kam. Leute steigen aus und gehen zum Parkplatz und zur Bushaltestelle. Die Schwestern fragen, was ich davon halte, wenn wir die Gastwirtschaft verkaufen. Das Telefon klingelt und die ältere Schwester redet mit Sartorius, er sagt, daß er gleich kommt, fragt, ob Hermann endlich sein Zimmer verlassen habe.
„Ich weiß, daß Hermann ihr nichts getan hat“, ruft die Schwester empört. Sie läuft zu Hermann hinauf, klopft gegen seine Zimmertür und sagt, daß Sartorius jetzt kommen will. Sie rüttelte an der Klinke, die Tür öffnet sich. Im Zimmer sind von Wand zu Wand Angelschnüre gespannt, an der Tapete hängen Köderfliegen, winzige Larven und Insekten, große Käfer und Schmetterlinge. Hermann sitzt nackt auf seinem Bett, hat einen Hechel auf seinem rasierten Kopf, seine Lippen hat er geschminkt, wie ein Fischmaul. Der Rauschen ist leise zu hören. Die jüngere Schwester läuft schreiend den Flur hinunter. Sie sitzt auf der Treppe, die Ältere versucht, sie zu beruhigen. Auf dem Tisch in Hermanns Zimmer befinden sich Geräte zum Köderbinden, sein Schulkatechismus, eine Fotografie, auf der er am Flußufer steht und stolz seine erste gefangene Forelle präsentiert. Nun kommt Alma mit Sartorius die Treppe hinauf. Der Abendzug fährt an der Gaststätte vorbei in den Stiftbergtunnel.
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