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Kevin Vennemann
In Komponierhäuschen (Auszug)
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Als Kind an einem einzigen Tag ein Rudel erfrorener Rehe als Resonanzkörper in eine Senke unweit des Komponierhäuschens zusammengeschleift, mit Ästen und Moos sorgsam bedeckt, mich frierend und weinend zu den eiskalten Körpern gelegt ohne zu erfrieren, als Kind bereits das Komponierhäuschen und sowieso Mahler nie wirklich gemocht, wie Sie wissen, wissen Sie überhaupt, alle Sinfonien, dieses so ewige wie endlose Bedächtig. Nicht eilen ebenso wenig je ausstehen können wie die zahllosen In gemächlicher Bewegung. All das Ohne Hast und so viele Ruhevoll und Sehr behaglich und so weiter regelrecht gehasst als Kind bereits gehasst wie die Pest. Als Kind bereits unter heldenhaft verstümmelten Pilgern in Kinderuniform am Ulrichsberg unter fallenden Schüssen dem heiligen Untergang im Nebel salutiert, in Kinderstiefeln stillgestanden bis in die Ohnmacht an der Seite des Vaters und Onkels und Großvaters an jenen zuletzt noch zumeist sehr spät so milden Oktobertagen, in einem Marktplatzrestaurant der Landeshauptstadt an diesen Tagen während Salutpausen zur Beruhigung und Belohnung für mein Durchhaltevermögen Salsiccias sogar außer Haus und Risotto auf dem weit beiderhand bestuhlten Marktplatz serviert bekommen auf Zwiebelringen und ganzen Platten Essigwurst mit Senf, und im Anschluss geglaubt, doch wieder sehr gerne dort oben am Ulrichsberg gestanden zu haben, gegrüßt, gesungen wie selbstverständlich weil selbstverständlich die eiskalte Hand des Vaters festgehalten, die andere im Handschuh in der Manteltasche und mitgesungen mit aller Kraft, die gehaltenen, wenn auch kaum je wirklich verstandenen Reden mit summend heißem Kopf gehört und geliebt. Am Ulrichsberg als kindlicher und so gar nicht verkrüppelter Pilger und als Kind über Vormittage unter Hunderten alter Herren, Kameraden, jüngerer Bewunderer während Versöhnungs- und Friedensfeiern bis zur Ohmacht stillgestanden und halb ohnmächtig den heldenhaft Gefallenen und oder Verwundeten die mächtige verpflichtende Ehre der zur Ehrerweisung verpflichteten noch Lebenden und oder (zu) Jungen erwiesen dem Splitter in der Hüfte und Tinnitus im Ohr des Onkels dem Stolz der Tante den Schmerzen den Qualen dem Trauma des Vaters dem Stolz der Mutter dem abgeschlagenen Bein des Großvaters dem gebrochenen Herzen der Großmutter der großen Niederlage und gebeten darf ich den Stumpen gefragt einmal anfassen gefragt fühlt sich wie ein Herz an gesagt wie ein Herz an darf ich ihn festhalten gefragt das auf immer ein pumpendes Herz dieses, berichtet Pflügler an guten Tagen. An den meisten anderen erzählt er nicht viel, und auch an diesen Tagen, ohne mich zu erkennen, sucht er sich mit bald jedem zweiten Satz den langen Weg hinüber zu einer Sprache aufzuraffen, scheinbar angekommen: die als nicht die seine zu erkennen ist in den meisten Fällen im ersten Moment. Pflügler an solchermaßen guten oder ähnlichen Tagen vielleicht auch: Als Kind beim Komponierhäuschen unterhalb des Komponierhäuschens am Seestrand den Slowenen mit Schwung und immer wieder in Phrasen und leere Versprechungen, falsche Freundschaften geworfen, einen Stein an seine Fesseln gebunden, die Augen versiegelt mit Teppichklebeband, an unsere Angel ein Messer gebunden, das Messer an der Angel in den See zum zwangstauchenden Slowenen hinunter gehalten aus Spaß nach so langer Zeit endlich, soll ich, muss ich, den Slowenen als Kind schon nicht ausstehen können, berichtet Pflügler an solchen Tagen ruhig, an anderen: Als Kind bereits vor Zorn den eigenen Schädel aufgeschlagen nach verlorenen Spielen mit und oder gegen den Slowenen wenigstens einmal im Jahr, nach vom Slowenen oder sonstwem nicht wie verlangt gereichten Dingen, und als Kind bereits immer wieder wahllos Arme und Schultern in Fensterglas geschlagen und zerschnitten nach nicht wie verlangt geschehenen Dingen. Als Kind mir bereits regelmäßig den Schädel an der Stallwand bis an die Ohnmacht heran regelrecht zertrümmert vor Zorn und dabei geschrieen, dass die Gendarmerie ausrücken musste, als Kind bereits in regelmäßigen Abständen einen offen daliegenden Muskel im am Glastisch aufgeschlagenen Unterarm und oder Handgelenk zu beobachten geglaubt, zu berühren versucht, wie Sie wissen, wissen Sie am steigenden Schnee zu ersticken versucht, völlig eingeschneit zu werden versucht oder erdrückt zu werden oder frei fallend zu ertrinken im Schnee, endlich zu ertrinken im Schnee, als Kind bereits. In Krumpendorf oder am Ulrichsberg. Gerne auch irgendwo sonst, die vielen endlosen Geschichten gehört aus den Julischen Alpen. Die großen Julische Alpen-Geschichten gehört jeden Tag und hören. Müssen und am Tag dann zu ertrinken versucht immer wieder und. Am Tag zu ertrinken versucht immer wieder, immer. Wieder, nachts dann ertrunken.
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Wenn Pflügler an guten Tagen auf diese oder ähnliche Weise berichtet und zusammenfasst, was alles für den Verlauf seines Lebens ein Grund gewesen sein mag. Was sich zugetragen haben mag in Pflüglers Kärntner Kinderleben während der Treffen am Ulrichsberg zum Beispiel. Pflüglers Blick vor mir also starr und abgewandt, auf den Boden gerichtet, oft über Stunden nicht eine Sekunde auf mich oder jeden vergeblichen Versuch, an ganz normalen Tagen etwas Verwertbares aus dem doch eigentlich alles andere als verschwiegenen Pflügler herauszubringen, über was geschehen ist während der letzten sagen wir fünfunddreißig, vierzig Jahre im Leben des inzwischen alt werdenden Großbauern Ludwig Pflügler, würde es mich nicht im Geringsten stören, wenn du mich in den Schlaf brächtest heute. Nacht, nicht einmal würde ich, glaube ich, kämpfen wollen, murmelt Pflügler, und sicher: Ich würde. Den Schmerz nicht vermissen, murmelt Pflügler, und: Aber ich weiß, ich muss mein Leben leben und die Qual spüren und auf dem Weg dorthin erst allmählich begreifen, dass ich nicht mehr bin als ein Salzkorn im Salz der Erde. Nicht mehr. Und alles. Alles ist Gnade, murmelt Pflügler, ich würde an solchen lohnenswerten Tagen nicht im Traum je vermuten, dass Pflügler tatsächlich noch immer ohne mich zu erkennen da sitzt und vor mir sitzt, wie ich ihn seit meiner unserer Kindheit schon kenne, und. Denkt. Dass er mir etwas vorspielt und noch immer nicht wieder weiß, wer ich bin. Dass er außerdem auch nur ansatzweise wüsste, was er tut, und kalkuliert, dass er mit mir spielt, dass er nichts als mich leiten will, wohin, zeigt er mir nicht, er zeigt mir rein gar nichts und sich mir selber noch immer nicht. Vielleicht liege ich falsch. Sicher ganz falsch, Pflügler denkt.
Es vergeht viel Zeit an diesen Morgen, an denen er während seiner Bewährungszeit dreimal in der Woche zu mir kommt und von sich berichten soll, ohne dass etwas geschieht. Es gibt hauptsächlich normale Tage, an denen kein Wort aus ihm herauszubekommen ist, gute Tage, an denen er redet, solche Tage sind vielleicht jene Tage, an denen Esther Kogojs Nähe wirkt, ihr gutes Zureden, solche Tage sind aus welchen Gründen auch immer selten, an solchen Tagen berichtet er. Von sich, nichts kann ihn an solchen Tagen mehr beeindrucken, als wenn er Kogoj im Stationsflur auf sich wartend sitzen lässt, was ihm sichtlich gefällt. Wenn ich ihm hereinzukommen winke, schüttelt er ihr die Hand ganz förmlich zum Abschied, was nicht nötig wäre, weil er nicht lange bleiben wird, weil er nie lange bleibt in meinem Büro, weil er, und dies wird mir dreimal pro Woche am Morgen im Türrahmen zu meinem Büro immer dann erst bewusst, wenn ich Pflügler Kogoj die Hand schütteln beobachte, als sähen die beiden sich zum letzten Mal, als verbrächten sie untertags eine gute Zeit miteinander, kalkuliert. Als wenn er wüsste, was er tut, als hätte er einen Plan, weil diese Sitzungen bei mir für ihn nur eine Etappe und stets bereits im Voraus geplant vorausgesehen sind. Weil Kogoj sich an diesen Morgen gerne im Flur sitzen lassen lässt, über jeden Augenblick, den sie nicht mit Pflügler zusammen verbringen muss, ist sie glücklich, wie ich weiß, und lässt sich aber dennoch morgens auf dem Gang vor meinem Büro nur ungern Kaffee von mir bringen, wartet auf uns, Pflügler und mich, darauf, dass wir sie allein lassen, einen steinalten Paustowskij-Erzählungsband neben sich, in dem sie lesen wird, während wir weg sind, seit Monaten bereits dasselbe Buch an wenigstens einem von drei Morgen, an den anderen abwechselnd Block, Chlebnikov, Jessenin, Mandelstam, Zwetajewa, oder tippt lächelnd etwas zur Abwehr gegen mich über den Stationsgang zu ihr Kommenden in ihr Telefon, damit ich weiß, dass ich störe und nur rasch Pflügler abholen und dann mit Pflügler zusammen wieder gehen soll so schnell wie möglich, selbst wenn und obwohl ich Kaffee mitbringe. Dich bewirte ich nicht, Achilles, sagte er zu dem Friseur, zitiert Kogoj einen mir damals (noch) nicht bekannten Leutnant Friedrich Kohlberg eines Morgens letzten Sommer. Aus Paustowskijs englischem Rasiermesser, verrät sie mir bleich vor Ekel über meinen anhaltend ungebrochenen Aberglauben, regelmäßiges Kaffeebringen könne zu einer angenehmeren Arbeits-, Umgangs-, Untersuchungsatmosphäre beitragen. Kohlbergs Bedienen meint das qualvoll langsame Zugrunderichten zweier jüdischer Jungen aus Mariupol, indem er sie große Mengen Wodka trinken zwingen lässt, klein und schwarz lagen sie da wie vom Blitz versengt. Dass Kohlberg sich, wiederum später, von Awetis, den er Achilles nennt, rasieren lässt, habe Awetis demütigen sollen, allerdings dann doch zur Niederlage des teuflischen Kohlberg und Awetis’ glücklicher Flucht geführt. Was von beidem haben nun Sie vor, mit mir, mit Pflügler, wenn Sie ihm und mir Kaffee bringen jeden Tag, liefern Sie sich aus, ihm, mir, oder wollen Sie uns täuschen, nun, will sie wissen an jenem Morgen lacht. Sie legt ihr Telefon beiseite und lächelt erst dann zu mir herauf, als keine Wahl mehr bleibt. Lässt sich dann doch gerne auch von mir einen Becher zweiten Frühstückskaffee geben, alles wie immer, beruhigt sie, nichts Neues, bestätigt sie, treiben Sie’s nicht zu bunt, mahnt sie. Pflügler gibt mir zur Begrüßung die Hand, in die er zuvor seine Zigarettenasche abgeklopft hat: Oder, fügt sie hinzu, machen Sie doch gerne mit ihm, was Sie wollen lacht gleichzeitig den halb geblendet vor Angst lasst mich gehen lasst mich los und Ähnliches keuchenden Slowenen in den Seeufersandstrand unterhalb des Komponierhäuschens vor uns auf die Knie gestürzt. Der Länge nach den Slowenen zu dritt in den Sand gedrückt zu dritt mit den Knien in den Sand gestemmt, murmelt Pflügler, aber vorm Abreißen des Klebebands dem keuchenden Slowenen am hellbraunen Seestrand unterhalb des Komponierhäuschens am Wasser noch triefend und durch und durch durchnässt ins nahe gelegene Unterholz geworfen beim Abreißen des versiegelnden Teppichklebebands beinahe dem Slowenen die Augen ausgerissen, wissen Sie, dem Slowenen die Lider offen gerissen bei jedem Abreißen des Klebebands, murmelt Pflügler im Moment der Zuweisung der Bewährungshelferin Esther Kogoj und Ihrer Zuweisung als Pflichttherapeut die Slowenin Esther Kogoj als Bewährungshelferin und Sie als Slowenen und Pflichttherapeut zugewiesen aufgezwungen bekommen zu haben bereits ab dem Moment ihrer und Ihrer Zwangszuweisung als die größte Demütigung empfunden ehrlich gesagt, murmelt Pflügler. Dem keuchenden Slowenen am hellbraunen Seestrand ein Hemd oder ein Handtuch oder einen Strumpf um den Kopf und um die blutenden Augen gebunden, als Kind schon, murmelt Pflügler, und auch als Kind schon tagtäglich auf die Dunkelheit gewartet jeden. Tag mir den Milchtisch als Schlachtbank vorgestellt, eine Gerätekammer als Gruft, wenn er, jeden Tag mir vorgestellt, ich stürbe, wir stürben auf dem Milchtisch als Schlachtbank unseren Tod zusammen durch die Hände des Vaters Onkels Großvaters in ihren Händen, wenn er, den ich verdiene und wir alle verdienen aus ihren Händen, wie ich, wie wir nichts sonst verdienen, wenn er dann plötzlich, weil es die anderen an unserer Statt nicht oder zu schnell oder zu viele zu wenig schmerzvoll getan haben, murmelt, rufend um sich zu schlagen und zu treten beginnt und diesmal rufend intoniert: zu sterben nämlich. Da stehe ich und. Habe die Zeit seit dem letzten vergleichbaren Zwischenfall genutzt, zwei Nächte lang die sich auf meinem Schreibtisch seit Pflüglers Haftentlassung stapelnden Zeitungen und Fotos und Papiere und sonstigen Dokumente einzeln vom Schreibtisch genommen und jeweils zu zweit in Klarsichthüllen geschoben gegen Pflüglers bald täglich während ähnlicher Ausfälle über den Schreibtisch fliegende, halb oder zur Gänze gefüllte Kaffeetasse. Pflüglers und Rahns seit Jahren regelmäßig auf so vielen Zeitungsseiten auftauchendes Foto und zahllose Artikel über zwei unscheinbare, in etwa gleichaltrige Männer in jeweils verschiedenen Altersstufen vor sämtlichen denkbaren Hintergründen, und unter vielen anderen Dokumenten Pflüglers und Rahns Namen auf nahezu jeder Liste im deutschen Sprachraum in den letzten Jahren auffällig gewordener so genannter Volksgruppengruppen, Bilanz: hoher Aggressionsgrad, wenig Einsichts- oder Selbstregulierungstendenzen. Pflüglers und Rahns Namen in bald allen Reaktionen auf die regelmäßig, jährlich von verschiedensten Verlagen und Publikationen, Opferverbänden, Presseagenturen, Bürgerinitiativen gestellten offenen Anfragen zu den Statistiken als migrationsfeindlich, antisemitisch und oder antizionistisch, antiziganistisch, im weitesten Sinne rassistisch motiviert eingestufter Straftaten: niedrige Hemmschwelle, schwierig zu kategorisieren, viele Grenzfälle, hohe Dunkelziffer, behördliches Desinteresse, im Allgemeinen geringes Aufmerksamkeitslevel. Eine ausführliche Darstellung sämtlicher Aktivitäten des von Pflügler und Rahn gemeinsam initiierten Landwirtschaftlichen Selbstverteidigungsbunds (LS) seit seiner Gründung etwa neunzehnhundertdreiundachtzig. Pflüglers und Rahns Namen wiederholt in der im Frühherbst neunzehnhundertsechsundneunzig umfangreich dokumentierten Berichterstattung zur so umstrittenen wie ereignisreichen Eröffnung der so genannten Wehrmachtsschau im landeshauptstädtischen, leicht peripher gelegenen Neubau der privaten Kunsthalleninitiative Ritter. Immenses Öffentlichkeitsecho, zahllose unergiebige Diskussionen im Vorfeld, ungeahnte Abgründe unter anderem auch und besonders der sozialdemokratischen Landespolitik. Etliche aussagekräftige Ausgaben von Pflüglers inzwischen eingegangenen Zeitschriften Das Erbe und Die Saat ab etwa neunzehnhunderteinundachtzig bis neunzehnhundertvierundachtzig. Ein vom Berg aus gegen den abfallenden Hang geschossenes Foto, auf dem über Pflüglers Osttiroler Gutshof die weinrote Sonne jenseits flacher Hügel untergeht. Eine Bäuerin zupft im Zwielicht Trauben mit den bloßen Händen direkt in ihre Schürze, ein, ja, blonder Junge in Lederhosen turnt vor der Kamera sichtlich überglücklich auf der Wäschestange.
Esther Kogoj betritt das Zimmer aus dem Hintergrund mit regungslosem Gesicht auf ihr Telefon eintippend. Die zwei privaten Sicherheitskräfte kümmern sich um Pflügler auf Kogojs Fingerzeig hin. Dahinter der Hofbrunnen, eine Scheune, ganz rechts Pflügler, der mit einladender Geste seinen ausgestreckten Arm und den Blick der Betrachtenden über das Tal und seine Besitzungen schweifen lässt, als Ursprung all dessen der Wein, der das Sonnenlicht glutrot in sich brechende gute Wein gleich neben Kogoj als Zentrum des Bildes im Büro und meiner den zu Ende gegangenen Tag raffenden Notiz am Abend: Im Laufe der Wochen und Monate, um Pflügler aus der Reserve zu locken, vermehrt die Konfrontation mit Pflügler gesucht und dabei in zunehmendem Maße die Kontrolle verloren. Während jeder Sitzung oder während jeder zweiten Sitzung Pflügler mit einer Auswahl seiner Aussagen konfrontiert und dabei die Kontrolle über unser Gespräch mehr und mehr Pflügler überlassen, anstatt sie ihm wie doch eigentlich beabsichtigt Stück für Stück zu entreißen. Pflüglers Reaktionen auf seine eigenen Aussagen beobachtet und aufgezeichnet und systematisiert und analysiert, währenddessen von Pflügler beobachtet worden, ich kann es von seinem Gesicht ablesen, wenn er auf meine Fragen antwortet. Er sieht mich ungerührt an, während ich ihn zu fassen zu bekommen versuche mit seinen eigenen, in der Vergangenheit getroffenen Aussagen, holt er mich Stück für Stück wieder ein. So zum Beispiel Pflügler im Juli neunzehnhundertfünfundneunzig in einem Flugblatt: Ein Land, das den wahren Verbrechern, Rauschgift- und Menschenhändlern, Kinderschändern, politischen Mördern, Dieben, größte Nachsichtigkeit gewährt. Pflügler: Gesagt. Pflügler über die Zukunft seiner kurzzeitig aufstrebenden Partei Neue Deutsche Ordnung (PNDO) im Januar neunzehnhunderteinundneunzig: Nach Etablierung der Basis unserer aufstrebenden Volksbewegung haben wir mit diversen Veranstaltungen und Zusammenkünften sowie der Initiation von Jugendbünden unser nächstes und wichtigstes Entwicklungsstadium erreicht. Nach und nach stößt mehr und mehr Jugend zu uns, das Opfer ihrer Väter gläubig annehmend, die Unsterblichkeit der dahin gemetzelten Helden bewahrend. Zielstrebig und ohne jede ernstzunehmende Gegenwehr gewinnen wir mit der Jugend auch die Zukunft. Pflügler: Gesagt. Nein: Geschrieben. Pflüglers Zukunftsvisionen in einer seinen abermaligen Rücktritt vom Rücktritt aus dem von ihm ausgerufenen nationalistischen Freiheitskampf verkündenden Aussendung vom dreizehnten Zehnten neunzehnhundertsechsundneunzig: Die vor dem schon krankhaft zerbröselnden Demokratiegeschwür Kriechenden haben unbeabsichtigt und völlig ahnungslos dem Volkswillen den allergrößten Dienst erwiesen. Eine grundsätzliche Umstrukturierung des Freiheitskampfes stellt sich ein. Überall beginnt nun die so brutale wie rücksichtslose Gegenwehr gegen das mit Hilfe der Demokratie nur mehr höchst mühsam agierende verfaulte antifaschistische Unrechtssystem. Pflügler: Gesagt. Pflügler über das österreichische Rechtssystem im Allgemeinen und im Dezember neunzehnhundertsiebenundneunzig: Staatsanwaltschaft unter die alles und alle beherrschende, terrorisierende Knute des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) gezwungen. Pflügler an guten Tagen: Gesagt. Oder geschrieben, suchen Sie sich etwas aus. An schlechten sagt er nichts, fährt mit seiner sorgfältig justierten Sesselsitzfläche hinauf und hinab, hinauf und hinab etliche Male hintereinander, bis er die so seltene wie kostbare Ursprungsposition nicht wieder findet und für den Rest des wie fast immer kurzen Tages sich vor Wut nicht länger in der Lage sieht, noch etwas zu Protokoll zu geben. Pflügler hingegen an anderen, kaum besseren Tagen in der zweiten Ordnung und Konsequenz-Ausgabe vom März neunzehnhundertzweiundneunzig über den: Justizterror, bis die aufgrund ihrer systematisch kommunistisch-antifaschistischen Heranzüchtung psychisch deformierten Schwerverbrecher im Talar endlich verantwortlich gemacht werden können für ihre Taten. Das NS-Verbotsgesetz ist ein Unrechtgesetz und ein Willkürgesetz im Vollbesitz geisteskranker Kommunisten und gewalttätiger Antifaschisten in den höchsten politischen und angeblich Recht sprechenden Gremien. Pflügler: Gesagt. An einem jener besonders guten, heißt: bald redseligen, nahezu selbstkritischen Tage, an denen die Führung über unser Gespräch längst bei ihm liegt: Damals am Ulrichsberg.
Mit den anderen zusammen und unter dem immensen Druck der anderen, Älteren mich erinnert, mich erinnern müssen notwendigerweise, und auch später regelmäßig in diversen Komponierhäuschen dann aber nur für mich. Nur für mich meine eigene Wirklichkeit komponieren wollen abseits der der Erinnerung des Vaters Onkels Großvaters und heute unter anderem als Gedächtnisverantwortlicher im Komponierhäuschen meiner Parteinachrichten oder Volksdeutschenaussendung für ein wesentlich breiteres Publikum alle nötigen Harmoniefäden und Tonspuren gezogen, Akkorde dessen gesetzt, was gesagt und gedacht werden kann und auf keinen Fall nicht gesagt oder gedacht werden darf, als Kind schon immer wieder versucht, mein eigener Memorizer, wie Sie sagen würden nicht wahr, zu sein, komponiert, später neben den Arbeiten in den Ställen auf den Feldern in den Scheunen Wäldern Weinbergen Freiheitskämpfen der ausschließliche Tonsetzer, Wirklichkeitsmixer, Erinnerungskomponist, Gedächtnisverantwortliche der Volksdeutschenaussendungsleserschaft, lacht Pflügler mich an, bei sich nun, gewesen, und also zurückgekehrt: So würden Sie sagen, nicht wahr. Das sind Worte, die nach Ihrem wissenschaftlichen Geschmack wären, nicht wahr, eine Wissenschaftsschlagzeile schwarze riesige Lettern: Osttiroler Großbauer Wirklichkeitsmixer Erinnerungskomponist Pseudomemorizer Gedächtnisverantwortlicher siebenfarbige Kleidung tragender Neonazi Pflügler auf einem Platz zur Seite des alle Erinnerungsinhalte oberbefehlenden Königs eine Traumvorstellung für Sie jede Nacht wenn Sie alleine wach liegen und nicht neben Kogoj wach liegen können dürfen nicht wahr weiß ich doch. Lacht Pflügler, Sie lassen Ihre albernen Notizen hier recht achtlos herumliegen, wissen Sie. Allerdings interessant, worüber Sie schreiben, was Sie so lesen, um darüber schreiben zu können. Wenn Sie an der Tür bei und mit der Kogoj stehen und. Sich die Zeit nehmen, mit ihr zu plaudern, während ich hier sitze und auf Sie warte, wissen Sie, die Zuweisung einer slowenischen Bewährungshelferin und eines slowenischen Pflichttherapeuten immer schon als die überhaupt größtmögliche Zumutung und Demütigung empfunden, murmelt Pflügler. Heute spät am Abend Pflüglers karge Angaben zum Moment des Kennenlernens Rahns und Pflüglers vor bald zwanzig Jahren notiert. Eine durchaus beliebige Stelle in einer Stadt oder auf einem Dorf, diktiert Pflügler, irgendwas irgendwo irgendwann irgendwie wissen Sie, diktiert Pflügler und lacht. Weder wisse er, was ich von ihm wolle, noch, wo und wann er Rahn kennengelernt habe. Noch wisse er selber genau, was Rahn genau gewollt habe, beides sei ihm durchaus noch immer ein Rätsel. Sie und Rahn, sagt Pflügler. Ohne mich zu erkennen, im Grunde, sagt Pflügler, sind Sie und Rahn sich sehr ähnlich. Ich weiß schlicht nicht, was Sie wollen. Darin gleichen Sie Rahn. Sie fragen und reden den Großteil einer jeden unserer Sitzungen über vor sich hin irgendwas, und ich antworte nur, plappere ein wenig, ohne dass Sie je merken, dass ich nicht wirklich etwas sage. Ich erzähle Ihnen irgendetwas für Sie und für Kogoj und irgendwelche Studien oder Untersuchungen Statistiken möglicherweise Bedeutsames, damit Sie dann endlich zufrieden sind was soll ich sonst tun. Was er heute wolle, welche Ziele er, Rahn, noch habe, wisse er, Pflügler, heute ebenso wenig, wie irgendwann sonst, und deshalb könne er mir auch heute nicht sagen, wo und wann er Rahn zum ersten Mal getroffen habe. Ich dürfe im Nachhinein selber entscheiden, wo, wann genau. Pflügler im März neunzehnhundertzweiundneunzig weiter: Nur sich mit Hirnkrankheiten herumschlagende Antifaschisten, die derartigen historischen Evolutionsprozessen ohne jeden Geist oder Verstand und daher auch ohne jedes Verständnis tatenlos zusehen müssen, sind dazu auf immer verdammt, in ihrer selbstmitleidigen Rückwärtsgewandtheit stecken zu bleiben. Pflügler: Gesagt. Pflügler als Vorsitzender einer Hilfsgemeinschaft des Österreichischen Bauerntums (HGÖB) über die laut Wiener Zeitung vom zweiten Zehnten neunzehnhundertsechsundneunzig von zwei bis dahin noch unbekannten Attentätern nur wenige Minuten nach ihrem Überfall auf die so genannte Wehrmachtsausstellung per Fax in Umlauf gebrachte Botschaft Lügen- und Hassausstellung des antifaschistischen Hamburger Instituts für Sozialforschung beschlagnahmt und im Namen aller Österreicher geschlossen: Für Österreich, für die deutsche Nation. Gefallen im Kampf gegen niemals blutsatte südslawische Partisanen. Nicht ein Verbrecher, nicht ein Lügner, nicht ein Feigling, nicht ein Ehrloser, nicht ein Untreuer, nicht ein Heuchler, nicht ein Verlierer, nicht einer, der nicht alles gegeben hätte. Die Schließung der Ausstellung gerade noch rechtzeitig vorgenommen. Pflügler: Gesagt, und an solchen außerordentlichen Tagen: Andauernd immer wieder schmerzhaft und tagtäglich seit Anbeginn des unnachgiebigen Vaterkampfes gegen die weltweiten antibäuerlichen Ausrottungsmechanismen daran erinnert worden, dass es eine weltumspannende Struktur gibt, welche den Untergang der Bauernschaft verursacht, und also mich als Kind bereits bald tagtäglich im Komponierhäuschen befunden, murmelt Pflügler, und komponiert, sozusagen.
Im frühen September geht Pflügler in Berufung, sein Verfahren wird an die nächst höhere Instanz verwiesen. Esther auf einem der Spitalgänge zu mir: Als Kind habe ihn seine Familie zu den „sich sanft in einen Nationalrausch hinübersaufen[den]“ Treffen am Ulrichsberg angeblich zwingen, zu jedem einzelnen Treffen am Ulrichsberg unter Gewaltanwendung zerren müssen, kein einziges Mal sei er freiwillig aus eigenem Antrieb dorthin gegangen, niemals, so Pflügler, hätte er sich je gegen einzelne, ihm im weitesten Sinne ausländisch oder jüdisch oder zigeunerhaft, um seine Bezeichnung zu verwenden, erscheinende Mitschüler und -bürger gewandt, wenn er dazu nicht von seiner Familie gezwungen worden wäre. Esther dann eines Morgens ganz früh: Symptome von Schizophrenie, gottähnliche Erscheinungen, angeblich mystische Visionen, Reue-, Bußanflüge, Wahnzustände, Todes- und Foltersehnsüchte, Schlachtvisionen, Angstanfälle, chronische Paranoia. Du hättest während eurer Sitzungen all das bereits an ihm erlebt, es seien nur mehr einige Sitzungen mit dir nötig, bis du diese jüngste Entwicklung seiner Krankengeschichte bestätigen würdest und deine Einschätzung sich mit der seinen nahtlos decke. Diese würdest du dann ohne jeden Zweifel bestätigen und ein Urteil darüber abfassen, das seinen Antrag unterstützen wird darauf also will er hinaus er spricht von eurem Vertrauensverhältnis als der besten und gültigsten also schlagkräftigsten Referenz von eurem Vertrauensverhältnis.
An diesem Morgen sitzt Esther auf der Terrasse neben mir mit Blick über die Herbstfarben der Stadt: Warum tust du dir diese erbärmliche Gestalt nur an das verstehe ich nicht. Immerhin kommt der Frühherbst verlässlich darauf also will er hinaus: Kindheitstrauma. Du wirst ihn nicht stützen nicht wahr. Du wirst seinem Antrag nicht stattgeben nicht wahr. Kannst du ihn nicht loswerden. Es gibt genug andere Ärzte, die ihn dir mit Handkuss und ausreichend dicker Haut abnähmen. Warum tust du dir das nur an, deshalb vielleicht: Als Kind beim Komponierhäuschen von Pflügler und einigen wenigen anderen immer wieder an den Händen gebunden worden, am hellbraunen Seestrand mit blutenden Augen in den Seeufersandstrand unterhalb des Komponierhäuschens lasst mich gehen lasst mich los und Ähnliches keuchend der Länge nach in den Sand gedrückt oder mit den Knien mehrerer immer wieder in den Sand gestemmt und ins nahe gelegene Unterholz geworfen worden regelmäßig. Pflügler ganz ähnlich heute wieder mit Rasierpinsel, eisernem Leuchter, englischem Rasiermesser über mir da hast du sicherlich Recht. Aber er sieht und erkennt mich nicht während der an einem der nächsten Nachmittage anstehenden Berufungsverhandlung gegen Pflügler und Rahn wegen ihrer Unterstützungskampagne für die beiden Burgenländer Robert Dürr (vierzig) und Michael Gruber (achtunddreißig) sowie ihrer auf diese Kampagne folgenden, weiteren Aufrufe zum über Dürr und Gruber hinausgehenden gewalttätigen Widerstand gegen die Wehrmachtsausstellung zitiert Pflüglers Verteidiger zum Beweis eines sich angeblich: geschlossen hinter meinem Mandanten sammelnden kollektiven Kärntner Gedächtnisses, zu Pflügers Entlastung also, eine am neunundzwanzigsten Achten neunzehnhundertsechsundneunzig im Rahmen hitziger Debatten über Recht- und Unrechtmäßigkeit der Ausstellung und deren Gleichzeitigkeit zur Versammlung am Ulrichsberg getroffene Aussage des inzwischen ehemaligen Bürgermeisters: „Das ist eine Provokation, so etwas rund um den 10. Oktober zu inszenieren, wenn man weiß, wie heilig den Kärntnern ihr Gedenken an die Volksabstimmung ist“, um, ebenfalls zu Pflüglers Entlastung, im Anschluss und abschließend einen Der Standard-Kommentar vom selben Tag anzubringen: „Nicht die ‚linkslastige Historiker-Schickeria’ und ihre verbündeten Medien haben es auf die Verbiegung des Kärntner Bewußtseins abgesehen, sondern die Enkelgeneration der Handy-Träger, Cabrio- und Motorbootfahrer, die am Wörther See den Begriff ‚Schickeria’ so nachdrücklich definiert hat. Die Ansagen eines Karl Heinz Grasser [...] oder eines Martin Strutz [...] legen den geistigen Horizont dieser Schickeria endgültig mit dem Durchmesser einer Zirkelspitze fest. [...]“ Um also diesen in jeder Hinsicht unzulässig gekürzten Kommentar anzubringen als Beweis für die nach Meinung des Anwalts unsachliche Polemik der Wehrmachtsschaugegnergegner von der sicheren Plattform einer Wiener Tages- und Mehrheitspresse aus, deren Voreingenommenheit seinen Mandanten, Pflügler, bereits im Vorfeld unschuldig verurteilt habe. Alles Lüge, ruft Pflüglers Verteidiger also noch in die Verhandlung, alles Lügner.
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