Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Bettina Balaka (Bild: ORF - Johannes Puch)
Bettina Balaka
Blaue Augen

      Meine Oma lag im Sterben. Natürlich lag meine Oma schon seit Jahren im Sterben, die meiste Zeit saß sie eigentlich im Sterben, während sie jeweils ein paar Tage vor Allerheiligen, Fronleichnam oder Christi Himmelfahrt anrief, um mit ihrer sterbenden Stimme zu fragen, ob ich denn nicht noch ein einziges, möglicherweise allerletztes Mal, Mariä Empfängnis oder Ostern oder Pfingsten mit ihr verbringen wolle. Sie wählte stets mit großem Bedacht die Worte: „Willst DU nicht...“, oder: „DU und ich könnten doch...“, was Simone natürlich auf die Palme brachte, denn meine Oma wählte dieselben Worte auch dann, wenn Simone anwesend war, stets schaute sie an Simone vorbei, um mit ihrer sterbenden Stimme zu sagen: „Wer weiß, Manfred, ob ich am nächsten Dreikönigstag überhaupt noch am Leben bin?“ Ich wusste dann genau, was ich von Simone wieder zu hören bekommen würde: „Warum kann sie nicht ein Mal IHR sagen? Hat sie es noch immer nicht begriffen, dass wir verheiratet sind?“, und während ich noch mögliche Ablenkungsmanöver für den Abend in Erwägung zog (Kinobesuch?), pflegte Oma schon den nächsten taktischen Vorstoß zu unternehmen, etwa mit: „Weißt du noch, Manfred? Dieser wunderschöne Urlaub, den wir zwei in Sharm el Sheik verbrachten?“ (Anspielung auf meine in ihren Augen glückliche Single-Zeit, in der ich sie einmal auf einen Tauchurlaub mitgenommen hatte), oder schlimmer noch: „Ich darf gar nicht daran denken, wie oft ich deinen Vater davon abgehalten habe, dich zu verprügeln...“
      Wozu das alles? dachte ich, ist doch nur ein Scheiß-Feiertag. Nachdem mir Simone aber schon lange vor unserer Eheschließung auseinandergesetzt hatte, dass das Wesen der Ehe darin bestünde, dass man endlich erwachsen werde und sich aus sämtlichen Uteri vorvergangener Matriarchinnen löse, was für mich im Klartext hieß, entweder einen Feiertag lang wilden Sex mit Simone oder wilden Zoff mit Simone, entschied ich mich konsequent für den erwachsenen Weg des geringsten Widerstandes und somit für Sätze wie: „Oma, nicht böse sein, WIR haben schon andere Pläne.“ Dabei schaute ich abwechselnd in die blauen, wütenden Augen meiner Oma und in die braunen, zufriedenen Augen Simones. Das ganze Unheil begann nämlich damit, dass meine Oma blaue Augen hatte und Simone braune, und damit, dass meine Oma ganz schwer einen an der Waffel hatte, das musste ich ehrlich eingestehen. Es begann auch damit, dass ich überhaupt solche piefkinesischen Ausdrücke verwendete wie „Zoff“ oder „einen an der Waffel haben“, wiewohl ich doch in Hollabrunn geboren und aufgewachsen war, was daran lag, dass meine Oma alles Deutsche und insbesondere „die deutsche Sprache“ verehrte, wiewohl sie doch eine geborene Machacova aus Bratislava war, das bei ihr jedoch ausnahmslos „Pressburg“ hieß. Das ganze Unheil hatte also genaugenommen in dem Moment begonnen, als meine Oma Simone zum ersten Mal zu Gesicht bekam und sofort auf ihre braunen Augen hinwies und ihr eine „slawische Physiognomie“ attestierte. Wiewohl Simone aus Tirol stammte und damals noch Kohlbacher hieß. Das ganze Unheil hatte in Wahrheit schon vor fünfundsechzig Jahren begonnen, weil meine Oma schon vor fünfundsechzig Jahren einen an der Waffel gehabt haben musste, vielleicht sogar schon vor siebzig Jahren oder noch früher, in ihrer Kindheit. In meiner Kindheit war sie immer wieder monatelang zu uns gekommen, wenn meine Mutter, ihre Tochter, mit mir „nicht zurande kam“, und meine Oma hatte mich gebadet und in flauschige Badetücher gehüllt und mir Milchreis mit geriebener Schokolade drauf gekocht und mir unermüdlich Bücher über die Feuerwehr oder das Bergsteigen vorgelesen, und sie hatte tatsächlich sehr oft meinen Vater durch geschickte Schachzüge („Ein Glas Sherry, Günther?“) davon abgehalten, mich zu verhauen. Sie war mit mir ausgestiegen, wenn meine Mutter mich wegen „lästiger Quengelei“ aus dem Auto geworfen hatte, und hatte ihr nachgerufen: „Du kannst doch den Jungen nicht alleine nach Hause gehen lassen, Anneliese!“ Sogar „Junge“ sagte sie zu mir, nicht „Bub“. Ich musste mir eingestehen, dass ich meine Oma mehr liebte als meine beiden Eltern zusammen, das heißt, ich musste mir das Schlimmste eingestehen, nämlich jemanden zu lieben, der Dinge sagte wie: „Auschwitzlüge“ oder: „Der Neger hat einfach viel schärfere Ausdünstungen als wir.“

      Dann lag meine Oma tatsächlich im Sterben, zumindest sprachen die Ärzte von ihrem „instabilen Zustand“ und davon, dass „angesichts ihres hohen Alters nichts mehr mit Sicherheit zu sagen“ wäre. Ein Gehirntumor war aus ihrem aufgebohrten Schädel entfernt worden, und es wäre für mich tröstlich gewesen, hätte man es dem Tumor zuschreiben können, dass sie einen an der Waffel hatte, aber die Ärzte versicherten mir, der Tumor sei frühestens vor einem Jahr entstanden, und wie gesagt, einen an der Waffel hatte meine Oma schon vor Jahrzehnten gehabt. Simone und ich fuhren ins Spital, um sie zu besuchen, Simone war im dritten Monat schwanger und saß am Steuer, sie wollte sich beweisen, dass sie schwanger und nicht krank sei, obwohl sie sich jede Nacht bis zur Dehydrierungsgefahr übergab. Trotzdem beneidete ich sie, erstens, weil ihr die Schwangerschaft einen heroischen Glanz verlieh, wie mir schien, und zweitens, weil sie in bezug auf das Dritte Reich eine derart untadelige Familienhistorie vorzuweisen hatte, dass es für österreichische Verhältnisse der Wahrscheinlichkeit eines Sterntalerregens entsprach. Simones Großvater war Widerstandskämpfer gewesen, ja, so etwas gab es im Tirolischen, in echter Andreas Hofer-Manier hatte er eine Widerstandsgruppe aufgebaut über die schmalen Täler und hohen Berge hinweg, Wehrmachtsdeserteure hatten sich dazugesellt und wurden versteckt, Jagd- und Wildererwaffen wurden heimlich gesammelt, immer wieder marschierte Simones Großvater über die steilen Pässe nach Italien, um dort in Almhütten mit britischen Geheimdienstleuten zu konferieren, viele Bauern waren involviert, die Scheunen und Brotlaibe zur Verfügung stellten für die gute Sache. Den Hof musste Simones Großmutter mit zwei Mägden alleine führen, denn nicht nur ihr Mann, sondern auch ihre beiden Söhne waren im Widerstand und somit jede Nacht in einem anderen Versteck. Schließlich sollte ein Coup gelandet werden: Man plante, nachts in das Haus eines großen Nazi-Bonzen einzudringen, diesen gefangenzunehmen und über die italienische Grenze zu den Briten zu transportieren. Jedoch, die Widerstandskämpfer waren verraten worden, im scheinbar schlafenden Haus des Nazi-Bonzen erwartete sie schwer bewaffnete SS und Dorfgendarmerie, alle Widerstandskämpfer wurden erschossen, ihre Leichen am nächsten Morgen am Hauptplatz ausgestellt. So starben Simones Großvater und ihre beiden Onkel, als ihre Großmutter gerade schwanger mit ihrer Mutter war. Der oberste Dorfgendarm, der sich bei der Erschießung besonders hervorgetan hatte, war noch lange nach Kriegsende in seinem Amt, noch lange nach der Gründung der Zweiten Republik und bis in die Siebzigerjahre, als er schließlich seinen beamteten Ruhestand antrat. Simones Großmutter aber versuchte jahrzehntelang vergebens, finanzielle Unterstützung von der Opferfürsorge zu erlangen, wurde aber nicht als Nazi-Opfer anerkannt, da ihr Mann und ihre Söhne nicht als Widerstandskämpfer anerkannt wurden, denn dann hätten der oberste Dorfgendarm und der Verräter und der Nazi-Bonze und etliche andere umdefiniert werden müssen in Verbrecher, was wiederum die gesamte Dorfstruktur ins Wanken gebracht hätte, also wurden vielmehr Simones Großvater und ihre beiden Onkel als Verbrecher definiert, die einen ganz gewöhnlichen Raubüberfall begangen hatten und dabei von der Hand des Gesetzes zur Strecke gebracht worden waren, und Simones Großmutter bekam ihr Leben lang keine Entschädigung. Am Schluss, nachdem sie ihre Tochter und ihren Hof entschädigungslos durchgebracht hatte, wollte sie auch gar keine Entschädigung mehr, sie war alt und mürbe geworden, sie wollte nur mehr die Anerkennung ihres Mannes und ihrer Söhne als Widerstandskämpfer, das wäre sie ihnen schuldig, glaubte sie, und das wäre dieses Land ihnen schuldig, und vielleicht auch wollte sie an ihrem Lebensabend noch einmal durch das Dorf gehen, ohne als Witwe und Mutter von Verbrechern scheel angesehen zu werden.
      An all das dachte ich, als ich neben Simone im Auto saß und wir zu meiner Großmutter ins Krankenhaus fuhren, die nur mehr ein Bündel alter Knochen mit einem riesigen Verband um den kahlgeschorenen Schädel war, die in der Zeit, als Simones Verwandte ihr Leben aufs Spiel setzten, eine glänzende Nazi-Karriere durchlief bis hin zu ihrer Funktion als „BDM-Chefin von Wien und Niederösterreich“, wie sie mit ungebrochenem Stolz zu sagen pflegte, und die bis zum Kriegsende und bis zur Gründung der Zweiten Republik und bis in die Siebziger Jahre, als ich geboren wurde, und bis zum heutigen Tage nicht eine Sekunde lang von der Meinung abgewichen war, dass das Dritte Reich nie und nimmer zerstört werden hätte dürfen. Dass man die Menschen um das Dritte Reich betrogen hatte, sagte sie stets, war das Schlimmste, was man ihnen – und ihr – hatte antun können. Ich saß im Auto neben Simone, die schwanger war mit unserem gemeinsamen Kind, das aller Voraussicht nach in Friedenszeiten aufwachsen und seinen Vater am Leben vorfinden würde, und hatte plötzlich den Faden verloren in einem heillosen Zeitknäuel, und fragte mich, wie sich die Ereignisse wohl fortgesetzt hätten, hätte damals die Gesinnungsgemeinschaft meiner Oma obsiegt.

      Meine Oma sah noch erbärmlicher aus als bei unserem letzten Besuch, sie war abgemagert weit unter das, was sie als „gute Figur“ bezeichnet hätte und ihr Leben lang angestrebt hatte, ihre Haut hatte allerlei ungesunde Farbschattierungen, bläulich und gelblich, Schläuche kamen aus ihrer Nase und ihr linker Arm hing an einem Tropf. Sie schilderte uns den Zustand ihrer wundgelegenen Rückseite, die wir zum Glück nicht sehen konnten, und rief gleich einen Pfleger herbei, der ihre Angaben („Haut in Fetzen, rohes Fleisch“) bestätigte. Aufgerichtet wie eine Puppe saß sie in ihren Kissen, und ich musste feststellen, dass mir grauste, als ich sie küsste, obwohl ich sie als Kind immer abgeschmust hatte, weil sie in meinen Augen die wärmste und weichste Großmutter war. Ich fasste Simone um die Hüfte und erklärte: „Oma, man sieht es noch nicht...“
      „Bist du schwanger, Mädchen?“ fragte Oma, diesmal ausnahmsweise an mir vorbeisehend, und Simone nickte. Oma gratulierte über die Maßen herzlich und trug Simone sogleich das Mittagessen an, das auf einem Betttischchen knapp unter ihren spuckenden Lippen stand. Es handelte sich um einen äußerst übelriechenden Teller Nudelsuppe, der in mir Bilder von Spulwürmern in Äthylalkohol in den wenig besuchten Räumen des Naturhistorischen Museums wachrief, und einem kleinen Schälchen mit etwas, das aussah wie Senf in Wasser, aber höchstwahrscheinlich Apfelmus war. Oma ließ nicht davon ab, Simone zu bedrängen, immer wieder erklärte sie, dass Schwangere für zwei essen müssten, eine kräftige Suppe und ein „Dessert“! Ich erlöste Simone, indem ich die grauenhafte Nudelsuppe selbst in mich hineinlöffelte.
      „Der Jammer ist“, sagte Oma mitten in mein Suppenmartyrium hinein, „dass ihr beide schasaugert seid.“ Bisweilen konnte meine Oma nämlich durchaus österreichisch sprechen, wenn ihr der Sinn danach stand. „Zwei schasaugerte Eltern, das ergibt ein doppelt so schasaugertes Kind.“
      „Schasaugert“ hatte meine Oma mich genannt, seit ich mit acht Jahren eine Brille bekam und endlich wieder dem Unterricht folgen konnte. Obwohl ich damals zu ahnen begann, dass sie einen an der Waffel hatte, und ich mir zum Zeitpunkt des Führerscheinerwerbs in diesem Punkt sicher war, fuhr ich drei Jahre lang ohne Brille Auto, nur um nicht als schasaugerter, genetisch minderwertiger Abschaum kenntlich zu sein, dann legte ich mir aus philanthropischen Motiven Kontaktlinsen zu. Simone dagegen, die ebenfalls kurzsichtig war, trug beinhart, wie man es nur nennen konnte, ihr nicht einmal besonders edles Brillengestell und zählte mir derartig viele erwiesenermaßen schasaugerte Genies auf, dass ich zu dem Eindruck gelangen musste, Schasaugertheit wäre geradezu eine Grundvoraussetzung für Genie.
      „Wenn das Kind nur nicht braunäugig wird,“ sagte meine Oma, „das dunklere Blut pflanzt sich ja viel stärker fort als das hellere. Wenn ein Neger und ein Weißer sich paaren, wird das Kind zwangsläufig schwarz.“ Zum Glück kam in diesem Moment der Pfleger herein, um die Reste der Mahlzeit abzutransportieren, doch das „Dessert“ behielt meine Oma in der Hand. Während ich noch überlegte, ob das bedeutete, dass ich es essen würde müssen, nahm sie ihren Faden wieder auf: „Wenn man ein weißes Kaninchen mit einem schwarzen paart...“
      „Hatte dein Verlobter nicht auch braune Augen?“ fragte Simone und deutete auf das Foto eines jungen Offiziers in Wehrmachtsuniform, das wie ein Altarbild vor einer brennenden Kerze auf dem Nachtkästchen stand.
      „Er steht noch immer auf einem Podest“, erklärte meine Oma ohne besondere Logik, „gefallen an der Ostfront mit fünfundzwanzig Jahren. Und ich in einem Trümmerhaufen, schwanger mit Anneliese.“ Sie reckte den Hals und hackte mit den Handkanten durch die Luft: „Stellt euch vor, links und rechts fallen die Bomben! Wie soll ich hier mein Kind zur Welt bringen, ihr alliierten Schweine, hab ich gedacht, mein Verlobter ermordet, die Häuser in Schutt und überall Brände und Rauch! Wie könnt ihr nur Familien und Lebensglück so zerstören, habt ihr denn keine Menschlichkeit, bringt unsere Männer um und werft Bomben auf schwangere Frauen?“
      Der Verlobte, der in Wehrmachtsuniform auf dem Podest oder vielmehr Nachtkästchen stand, war mein Opa, ich hatte ihn nicht gekannt, meine Mutter hatte ihn nicht gekannt, mit fünfundzwanzig Jahren war er an die Ostfront gezogen, um dort im Sinne meiner Oma Ländereien und Güter zu erobern, auf denen man gut leben hätte können mit Zwangsarbeitern der unterworfenen slawischen Völker, stattdessen war der fesche Offizier im Schneesturm verreckt an der Ruhr, laut meiner Mutter, wogegen meine Oma von einem tödlichen Scharmützel mit dem heimtückischen russischen Feind erzählte. Und ja, er hatte braune Augen gehabt. Ohne sie irgendjemandem zu vererben. Meine Mutter hatte blaue Augen, ich auch.
      „Was für eine schöne kleine Hochzeit ihr gehabt habt“, seufzte Oma, „ich habe gar keine Hochzeit gehabt. Das Hochzeitskleid war schon im Schrank, aber dein Großvater ist nie heimgekehrt von der Front.“ Wir kannten das besagte Hochzeitskleid, es hing nämlich noch immer in Omas Schrank und wurde alljährlich zum Todestag des Gefallenen hervorgeholt, gereinigt und gezeigt. Es war in Omas Augen ein großer Tag, als auch Simone in den kleinen Kreis Eingeweihter aufgenommen wurde, die das Hochzeitskleid sehen durften, und für uns ein außerordentlich schauriger Tag, als sie zwei Jahre danach Simone antrug, das Kleid doch bei unserer Hochzeit zu tragen. „Du heiratest ja meinen Jungen“, hatte sie gesagt, „das wäre seinem Großvater schon recht.“ Während ich noch stillschweigend in Erwägung zog, die Hochzeit nötigenfalls abzusagen, hatte Simone elegant die Katastrophe abgewendet, indem sie darauf hinwies, dass das Kleid für sie ja zwei Nummern zu groß wäre und es einer völligen Zerstörung desselben gleichkäme, würde man den Versuch unternehmen, es zu ändern. Damit schien meine Oma hochzufrieden und hängte die muffige Reliquie zurück in den Schrank.
      Unsere schöne, „kleine“ Hochzeit! Ja, viel zu klein war sie für Omas Geschmack gewesen, zu wenige Gäste, zu wenig Brimborium, zu wenig Prominenz. Simone hatte praktisch überhaupt keine „Familie“ in Omas Augen, nur ihre Mutter war aus Brest angereist, wo sie nun lebte, und die Großmutter aus Tirol, aber mit weitschichtigeren Verwandten hatten die Verbliebenen der „Verbrecherfamilie“ keinen Kontakt. Mehr als einmal war es mir auf der Zunge gelegen, Oma darauf hinzuweisen, dass drei von Simones engsten Verwandten deshalb nicht kommen konnten, weil... Aber wir hatten beschlossen, dieses Geheimnis für uns zu behalten und keiner der beiden Großmütter einen Ton von der Vergangenheit der anderen zu erzählen, Panik hatten wir gehabt, dass irgendetwas durch vom Wein gelöste Zungen auffliegen könnte, ewig hatten wir an der Sitzordnung gebastelt, um die Großmütter möglichst fern voneinander zu halten, auch unsere Mütter hatten wir versucht voneinander fern zu halten, im übrigen hatte mein Vater sein Kommen abgesagt, weil meine Mutter sich jüngst von ihm scheiden hatte lassen und er unter keinen Umständen mit diesem „Weibsbild“ zusammentreffen wollte, und Simones Vater, ein Zisterziensermönch, wusste gar nicht, dass es sie gab.
      Es war alles glatt gegangen, niemand war auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, auf einer Hochzeit im Jahr 1998 über Endsieg-Ereignisse zu diskutieren. Erst auf der Hochzeitsreise (Malediven) erinnerte ich mich wieder daran, wie eisern meine Oma vor Fremden von der BDM-Chefinnen-Sache zu schweigen pflegte, und regte mich darüber auf, mich so unnötig aufgeregt zu haben.

      „Jetzt werde ich vielleicht noch ein paar Wochen leben“, sagte meine Oma und röchelte durch ihre Nasenschläuche, „es interessiert mich gar nicht, noch etwas zu essen.“
      „Was mich am meisten bedrückt“, fuhr Oma fort, und gespannt richtete ich mich auf, eine brisante Todesbett-Einsicht erwartend, „ – ist diese fürchterliche rassische Durchmischung in Brasilien.“ Simone trat an die Bettkante: „Sag mal, glaubst du noch immer an Hitler?“
      „Er mag Fehler gemacht haben wie jeder andere Mensch auch“, erwiderte Oma sehr sanft und deutete auf uns als die anderen Menschen, die auch Fehler machten, „aber ich denke nach wie vor, dass er ein äußerst fähiger Politiker war.“ Ich verließ das Zimmer, wohl wissend, dass mir Simone Vorhaltungen machen würde, ich hätte sie mit Oma und Hitler und dem „Dessert“ alleine gelassen. Als ich zurückkam, erzählte Oma gerade Anekdoten aus meinen Kindheitstagen, die sie mit Anekdoten aus den Kindheitstagen meiner Mutter verwechselte und vermischte, nicht ohne anzumerken, wie sehr sie darunter gelitten hätte, dass ihr einziges Kind ein Mädchen war, und welch großes Glück meine Geburt, denn so hatte sie doch noch einen Jungen bekommen. Ich fragte mich, ob ich mir vielleicht nur deshalb an manchen Tagen ein Mädchen wünschte, um nicht wie meine Oma zu sein, und an anderen Tagen einen Buben, damit nicht so etwas wie meine Oma herauskommen konnte, ob ich nicht vielleicht deshalb so getreulich putzte und kochte, um zu beweisen, dass ich nicht aufgrund der Bevorzugung durch meine Oma zu einem haushaltsunfähigen Pascha verkommen war, ob ich nicht vielleicht Simone überhaupt nur geheiratet hatte, um mir eine andere, ganz gegensätzliche Familiengeschichte anzueignen, und wieso mir eigentlich immer wieder die Tränen kamen, weil diese alte Frau im Sterben lag und so kreuzelend aussah und mir unsagbar leid tat und ich sie immer noch liebte.
      Ich setzte mich an die Bettkante und streichelte ihr die krepppapierene Hand. „Sag mal, Mädchen“, sagte Oma, immer noch an Simone gewandt, dann hustete sie eine Weile zum Gotterbarmen. „Wirst du das Baby schreien lassen“, setzte sie von neuem an, „oder wirst du es trösten?“ Letzteres natürlich, erwiderte Simone, kein Mensch ließe heutzutage mehr Babies schreien. „Dann bist du die Richtige für meinen Jungen“, war Omas überraschende Schlussfolgerung. Simone und ich warfen uns einen Blick zu: späte Erkenntnis, drei Jahre nach unserer Hochzeit. Aber Oma hatte noch weitere Überraschungen in petto: „Ich werde euch meine Wohnung hinterlassen“, erklärte sie, „ist schon alles notariell festgelegt. Anneliese wird toben, aber das soll euch egal sein.“ Sie kicherte vergnügt, wohl beim Gedanken an ihre tobende Tochter. Sie hat EUCH gesagt, dachte ich, sie will tatsächlich UNS etwas hinterlassen. Simone schob an ihren Fingernagelhäutchen herum und schwieg.

      Auf der Rückfahrt schwieg Simone noch immer. Ich durfte nun am Steuer sitzen, sie war höchstwahrscheinlich sauer wegen etwas, vielleicht, weil ich sie mit Oma allein gelassen hatte, weil Oma sich danebenbenommen hatte und das nicht entschuldbar war durch ihren Zustand, denn auch ohne Loch im Schädel und Schläuche in der Nase hätte Oma sich danebenbenommen, oder weil ich mich danebenbenommen hatte und keine flammende heroische Widerstandskämpferrede gehalten hatte, weil ich nicht gleich gesagt hatte: „Nein, Oma, deine Wohnung nehmen wir nicht.“ Wie immer, wenn Simone nichts sagte, führte ich heftige innere Dialoge mit ihr, warum sie sich denn so aufrege, sagte ich innerlich zu Simone, obwohl sie sich äußerlich gar nicht aufregte, diese Sprüche über Hitler und Rassenkunde und Blabla, das kennen wir doch schon, ob sie das denn nicht mit faszinierter Wissenschaftlichkeit betrachten könne, mit betroffener Distanz, mit dieser nüchternen, kritischen Kühle, wie sie etwa ein Fernsehreporter an den Tag legt. Und überhaupt, regte ich mich innerlich auf, so aufzuregen brauchst du dich auch nicht, du tust ja gerade so, als ob du es mit einer leibhaftigen Mörderin zu tun hättest, aber was hat meine Oma denn schon getan ihr ganzes Leben, außer blöd geredet? Sie hat niemanden eigenhändig umgebracht. Sie hat auch niemanden per Unterschrift umgebracht. Sie hat auch keine versteckten Juden ausgeliefert, weil sie gar keine versteckten Juden gefunden hat. „Und wenn sie welche gefunden hätte?“ fragte meine innere Simone, während die äußere ein Tic Tac in den Mund steckte und mir auch eines anbot.
      „Simone“, sagte ich innerlich zu Simone, und in meiner gedachten Stimme lag große Gefasstheit und Beherrschung, „das sind Spekulationen, die unter deiner Würde sind, niemand weiß besser als du (Simone ist Juristin), dass man niemanden aufgrund der potentiellen Möglichkeit zu einem Verbrechen verurteilen kann, denn vielleicht hätte sich die Person ja doch im letzten Augenblick anders entschieden, auch wenn hundertmal vorher alles darauf hingedeutet hat, dass die Person das Verbrechen begehen würde, wenn sie die Gelegenheit dazu bekäme, und im übrigen, Simone! (Ich schüttelte innerlich die innere Simone.) Wer weiß denn schon, was wir gemacht hätten damals, glaubst du allen Ernstes, ich hätte mich abknallen lassen als Widerstandskämpfer, während du schwanger bist? Vielleicht hättest du mich beschworen, wenn du damals so schwanger gewesen wärest, wie du es jetzt bist, dass ich die Schrotflinte vergrabe und meinen Mund halte und zusehe, dass wir irgendwo ein Überleben aquirieren?“ Erschöpft von meiner innerlichen Rede lehnte ich mich zurück, während die äußere Simone die Augen geschlossen hatte und die Hände sorgsam auf den noch völlig flachen Bauch legte.
      Ich fand es unerträglich, wenn Simone nicht mit mir sprach, obwohl es doch wahrlich genug zu besprechen gegeben hätte, und dann auch noch die Augen schloß, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders als bei der wahrlich zu besprechenden Sache. Ich musste zugeben, dass ich meiner Oma nie wirklich die Meinung gesagt hatte, und es natürlich jetzt, wo sie im Sterben lag, auch nicht mehr tun würde, ich hatte nie mit meiner Oma gestritten, nicht einmal über Kleinigkeiten, ich war jedem Streit aus dem Weg gegangen, selbst wenn sie mir den vierten Tauchgang am Tag verbieten wollte, weil er ungesund sei (in Wirklichkeit natürlich, weil ihr fad war ohne mich), hatte ich nur gelacht und gesagt: „Omi-Schatzi, zum Abendessen bin ich gesund und munter wieder bei dir.“ Ich hatte immer das Bedürfnis gehabt, Rücksicht zu nehmen auf diese alte Frau, die einem völligen Schwachsinn aufgesessen war und ohnehin dafür gebüßt hatte, den „Mann ihres Lebens“ hatte sie dieser Schwachsinn gekostet, allein und im Bombenhagel der in ihren Augen wahnsinnigen Alliierten hatte sie ihre Schwangerschaft durchgestanden, all ihre Träume und Glücksvisionen waren mit 1945 zerstört, keine Rückkehr in die großdeutsch eroberte Slowakei als Gutsbesitzerin (Geschenk des Führers für besondere Verdienste), keine sechs Jungens mit blauen Augen und „arischer Physiognomie“, kein Liebesglück mit einem Kriegshelden, keine Weltbestätigung für Treue und Pflicht. Und den Rest ihres Lebens seit 1945, der quälend, lähmend, unendlich lang war, war sie gleichsam dahinvegetiert, verbohrt und verbittert, hatte sie insgeheim gehofft, ihre gespenstischen Ideale würden irgendwann aus Grüften und Bunkern wieder auferstehen und wie damals alle entflammen – ich hatte nicht das Herz, ihr jemals ins Gesicht zu sagen, sie solle aufhören, an diesen Schwachsinn zu glauben, lieber machte ich schwachsinnige Witze: „Omilein, willst du nicht mit mir nach Israel fahren? Vergiss die Juden, Eilat ist erstklassiges Tauchgebiet.“ Sie tat mir leid. Immerhin hatte sie mir, wie sie nicht müde wurde zu erwähnen, dereinst „den Hintern ausgewischt“, und vielleicht bleibt man ja stets den Frauen, die einem dereinst „den Hintern ausgewischt“ haben, in anal-masochistischer oder pervers-opportunistischer Weise verbunden. Vielleicht liebte ich sie, weil ich einmal von ihr abhängig gewesen war. Vielleicht hasste ich sie, weil sie immer noch abhängig war von mir.

      „Blinker einschalten“, befahl die äußere Simone. „Falls Oma tatsächlich stirbt“, sagte ich laut, „was machen wir mit ihrer Wohnung?“
      Simone schwieg. Es war das unbegreiflichste Schweigen Simones seit jenem Moment, als zum ersten Mal mein Auge auf sie fiel, weil sie auf der Hochzeit meines besten Freundes Harald den von der Braut in die Menge geschleuderten Brautstrauß auffing. Dieses Schweigen Simones kam so überraschend, dass ich alles in Frage stellen musste, was ich bisher über sie zu wissen geglaubt hatte, es ließ mich sozusagen in einem ontologischen Dunkel, und ein ontologisches Dunkel ist wahrlich das Letzte, was man brauchen kann, wenn man nach Beziehung und Ehe und Jahren ein Kind erwartet mit einer Frau.
      Wir wussten beide, dass die Wohnung meiner Oma „arisierter Besitz“ war. Es handelte sich um eine für Wiener Verhältnisse unsagbar schöne, luxuriöse Wohnung, genaugenommen ein halbes Haus, das untere Stockwerk einer Villa in erstklassiger Grünlage, umgeben von einem großen Garten mit alten Linden und Föhren und sogar einer Zypresse, und obwohl in ganz Wien das Erdgeschoß gemeinhin als unerstrebenswert galt, war es im Falle der Wohnung meiner Oma ein Vorteil, da alle Fenster und Türen und die Terrasse auf diesen landguthaften Garten hinausgingen, in dem die Eichhörnchen herumhuschten, der Eichelhäher keckerte und seltene Schmetterlingsarten eine Zuflucht fanden. Überdies war die Wohnung zweihundertundzwanzig Quadratmeter groß, eine Fläche, von der ein junges, kinderwartendes Paar nur träumen konnte, zwei Bäder und fünf Zimmer und ein Wahnsinn, hatten wir immer gesagt, dass eine alte Frau ganz allein darin wohnt. Ein Wahnsinn, weil sie sie kaum putzen konnte mit zunehmendem Alter, nutzen schon gar nicht, und alles voll mit Jugendstil-Mobiliar. Im Stockwerk darüber hatten erst zwei ältliche Schwestern gewohnt, dann deren Neffe mit Frau, schließlich zog ein Nachfahre mit Shiatsu-Praxis ein. Ein Mal hatte ich den Neffen gefragt, ob er denn wisse, dass es sich bei diesem Haus um arisierten Besitz handle. Er hatte mich entsetzt angesehen und erwidert: „Meine Großeltern haben die Wohnung vollkommen rechtmäßig erworben“, so dass ich mich nicht mehr auskannte, hatte ich doch gedacht, er wäre der Neffe von zwei Schwestern, deren eine mit einem SS-Major verheiratet gewesen war, und den Shiatsu-Meister hatte ich später auch einmal gefragt, der wiederum erklärte kopfschüttelnd: „Aber von denen lebt doch keiner mehr“, wohl auf die jüdischen Vorbesitzer verweisend. Nicht, dass ich jemals genau nachgeforscht hätte, ich wusste nur, dass meine Oma den Begriff „arisierter Besitz“ durchaus mit Stolz verwendete, als wäre das Haus dadurch aufgewertet worden, und gelegentlich Andeutungen machte über „reiche Amerikaner, die ohnehin nichts damit anfangen könnten“, oder „Feiglinge, die die Heimat verlassen haben und zum Feind übergelaufen sind.“ Manchmal wurde in mir die Vorstellung übermächtig, dass die Familie, die einst in diesem wunderschönen Haus gelebt hatte, keineswegs in Amerika reicher und reicher geworden, sondern in Vernichtungslagern umgekommen war, und ich begann überall auf den wunderschönen Parkettböden Blutspuren zu sehen und in den wunderschönen hohen Räumen Schreie zu hören. Ich stellte mir vor, wie eines Nachts die Gestapo eingedrungen war, Uniformierte die Schlafenden aus den Betten zerrten, wie Kinder an den Haaren hinausgezerrt wurden und ihren Eltern von einem beiläufigen Gewehrkolbenschlag die Stirne aufsprang. Ich stellte mir immer wieder vor, wie eine Staatsgewalt die Haustüre aufdrückte und hineindrang, wie eine Frau vor den Augen des Mannes und ein Mann vor den Augen der Frau hinausgeprügelt wurden in Nachtgewändern, wie am nächsten Tag alle Nachbarn wohlwollend dem Einzug einer BDM-Chefin zuschauten, die das Kinderspielzeug im Garten in Augenschein nahm und für die eigene Nachkommenschaft verwahrte. Ich hatte nie, das konnte ich beschwören, auch nur einen Augenblick lang die Möglichkeit in Betracht gezogen, jemals selbst in dieser Wohnung zu wohnen.
      „Mir ist das alles zu komplex“, sagte die äußere Simone endlich, „ehrlich, denk doch mal nach.“ Nun schwieg ich. „Wir haben die Wahl“, fuhr Simone fort, und obwohl ich sie nie zu Gericht begleitet hatte, war ich mir sicher, dass das ihre Anwaltsstimme war, mit der sie sonst übellaunige Richter und kleingeistige Schöffen zu überzeugen suchte, „ – Verzicht zu üben für eine ungeklärte Ehre, dann wohnt deine Mutter in der Villa für die nächsten dreißig Jahre, während wir uns abschuften auf siebzig Quadratmetern mitten im Beton ohne ein Bäumchen, oder wir sind gewissenlose Augenverschließer in einer traumhaften Wohnung mit einem herrlichen Garten für die Kinder. Ich sag dir was, ich will, dass meine Tochter weiß, wie ein Regenwurm aussieht, und dass sie ein eigenes Zimmer hat und die Vögel zwitschern hört, wenn sie morgens aufwacht.“
      Es lag mir auf der Zunge zu sagen: „Aber in fünfzehn oder zwanzig Jahren könnte unsere Tochter...“, oder: „Woher willst du eigentlich wissen, dass es ein Mädchen...?“, doch da sah ich die innere Simone strahlend und Blumennamen aussprechend durch einen Gartenmarkt gehen, ich sah sie im Laub eine Schale Milch für die Igel hinstellen und mit einer kleinen Kelle den Humus für die Tulpenzwiebeln umdrehen, und ich hielt meinen Mund und freute mich darauf, im Schatten der Zypresse eine Sandkiste zu bauen.