Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Artur Becker (Bild: ORF - Johannes Puch)
Artur Becker
(Aus einer Novelle)

Es war die Zeit der Stinte, die durch die Weser zogen und sich vermehrten.
     Schöne Schmerzen, fette Schlagzeilen, dachte er sich, ich erwische meine Exfrau mit Michail, dem Fotografen, wie sie es in der schmutzigweißen Dunkelheit der Betonwände treiben, nein, nicht in der Besenkammer (die gibt es ja in Vaters Hochhaus nicht), sondern ausgerechnet in Vaters heiligem Keller, wo er nicht selten, meist im Augenblick der totalen Herzensschwäche, auf dem 25-Kilo-Kartoffelsack sitzt wie in seinem begrabenen Deutsch-Eylau, und seiner Danusia nachweint, in allen Himmeln nachweint.
     Es war nicht schlechter als ein Porno, was Chrystian im Keller seines Vaters zu sehen gekriegt hatte. Und es war ein schönes Gefühl, besiegt worden zu sein – dazu von einem Freund und von seiner eigenen Exfrau, die er zwar nicht mehr liebte und nicht mehr lieben durfte, aber doch aufs Intimste kannte, von den Haarspitzen, Wimpern, Schulterblättern bis zu dem süßen Marmeladeschmatzen am Frühstückstisch. Er kannte sie wie den Wald aus der Kindheit, der farbenprächtigste Träume meistert.
     »Ich geh Kartoffeln holen«, hatte er zu seinem Vater gesagt, wie an so vielen Sonntagen, und sich sogleich auf den Weg gemacht, wohlwissend, dass er wieder einmal die Treppe hinuntersteigen würde, die praktisch seine Mutter umgebracht hatte. Eine der Stufen war schuld, und der dritte Fuß oder Schritt vielleicht, der Danusia dazwischengekommen war. Kein leichter Gang für einen Sohn und Enkel, dem seine Oma Annegret väterlicherseits zu jeder Weihnachtsfeier von den zwanzig Russen erzählte: »In einer Stunde zwanzig Soldaten! Jeder mit einem roten Stern auf der Stirn. Schlimmer als die Hakenkreuzler aus Deutsch-Eylau«, war Annegrets Klage. »›Alle Frauen sind Huren, auch deutsche!‹, haben die Soldaten gesagt!«
     Chrystian begriff bis heute nicht, wie das vonstatten gegangen sein sollte, in so einem rasanten Tempo, zwanzig hungrige, dreckige Engel befriedigen zu müssen. Arktis, Gletscher und Eisberge in der Großmutter, wie in einem Fingerhut.
     Er hatte einmal einen Ausschnitt aus einem US-amerikani-schen Porno gesehen, da waren mehr als zweihundert Männer – jeder mit einem Nummernschild auf dem Rücken – und eine Frau in einem riesigen Studiosaal versammelt. In der Mitte das Podium, Eimer mit Wasser und Handtücher und das Bett. Nur dass alle Versammelten glücklich schienen. Und Geld verdienten. Und sich ins Guinnessbuch der Rekorde eintragen durften wegen der öffentlichen, verfilmten Befriedigung.

Nach dem Mittagessen sagte er zu Michail, als sie auf dem Balkon Zigaretten rauchten: »Klar. Du kannst Katharina bumsen. Ich freue mich darüber sogar. Ich will nicht, dass sie unglücklich ist, nur weil wir uns getrennt haben. Aber willst du auch Boreas’ Papa werden?«
     »Sex ist eine komplizierte Sache, man kann sich erkälten«, sagte Michail.
     »Komm du mir nicht mit deinem russischen Sinn für absurden Humor. Es reicht, dass du aus mir einen Putin-Anhänger machen wolltest.«
     »Bitte, sei nicht komisch. Ihr seid doch nicht mehr zusammen. Und ich bin wirklich unglücklich. Ich sollte deinen Bruder nach Berlin begleiten.«

Chrystian liebte Katharina nicht mehr, klar, er liebte den Unisee nicht, wo er sie vor acht Jahren nach einem Rockkonzert aufgegabelt hatte. Doch was nützte ihm die Gewissheit, dass seine Liebe zu Katharina erloschen war, und was nützten ihm jetzt Mona Juchelka und die bunten Feuerwerke in Leipzig, die er sich in seiner Phantasie ausmalte, wenn er sich einfach verletzt fühlte? Von ihm und von ihr.
     Jahwe, Monas Gott, war groß. Er hatte stets alles im Griff. Hatte er auch Chrystian Brodd und Michail Glos im Griff? Auf Letzteren musste er ganz besonders aufpassen, so schien es Chrystian: Wer in Putin den neuen Zaren und Führer zum Goldenen Zeitalter sah (und das würde selbst Platon wundern), der war vom Verstand heruntergegangen, wie Michails Landsleute sagten, also schlicht und einfach verrückt, ein sumasedschij.
     Katharina war ihm keine Erklärung schuldig. Sie konnte jetzt bis in alle Ewigkeit Luft aus seinen Matratzen rauslassen und ihn auslachen. Seltsam, überlegte Chrystian wie im Haschischrausch, dass wir so gut vergessen können, an die vielen gemeinsamen Jahre mit einer einst geliebten Person höchstens einmal nur mit einem Körnchen Nostalgie oder Schmunzeln denken. Wo ist doch der ganze Scheiß geblieben? Wo das Lieben, der Appetit und der Stundenplan, der Kalender? Das Abschiednehmen ist wohl nicht meine Stärke, Mona.
     Chrystians Vater und Boreas hatten von dem, was im Keller vorgefallen war, keinen blassen Schimmer. Michail hatte ja angeblich nur das Kinderfahrrad reparieren wollen. Den Reifen wechseln, oder die Kette. Es gab tausend Gründe, um vorwärts zu kommen, mit der Liebe und den Trieben. Nichts durfte langweilig werden. Rudi Zitzmann hatte Recht. Der Kick, der verdammte Kick.
     »Wir sind schon eine eigenartige Familie«, sagte Chrystian zu Katharina, bevor er ging. »Eifersüchtig? Nein, bin ich nicht. Ich vermisse dich, aber nur deshalb, weil ich mich erinnere. Und dich kenne, von früher. Ich weiß, wer du einmal gewesen bist. Die Katharina von heute ist mir eine fremde Frau.«
     »Deshalb musst du nach Detroit, oder sonst wohin. Ich mach da nicht mehr mit«, sagte sie. »Du hättest alles haben können und hast nicht einmal das Nötigste erledigt: Ich habe dich verlassen, nicht umgekehrt. Einsamkeit habe ich nicht heiraten wollen. Noch nie. Leb wohl!«

Er fuhr mit seinem VW nach Hause. Alte Volkswagen rochen immer nach Kühlwasser. Der penetrante Geruch war im Winter besonders stark, wenn heiße Luft aus dem Gebläse kam. Aber seitdem er Mona durch Bremen kutschiert hatte, war dieser modrige, rostige Mief aus dem Auto entwichen, und bei jeder Fahrt hatte er den Eindruck, Mona würde auf dem Beifahrersitz in ihrer Umhängetasche mit den Plastiktütchen rascheln und mit ihm reden. Vielleicht war es der Frühling, der neben ihm saß und den er von der Straße mitgenommen hatte. Die Wohnung in Klein-Brooklyn erfüllte nur noch den einen Zweck: Er konnte sich in ihr verstecken. Ohne seinen Sohn Boreas und Mona, dafür aber mit dem Frühling auf dem Beifahrersitz, der kein Mensch war – höchstens eine Erinnerung an andere Frühlinge und Frauen –, war seine Wohnung wie ein Lager, wo man alte Möbel und prall gefüllte Kartons abstellte.
     Er hatte es am liebsten, wenn die Vorhänge zugezogen waren und in der Ecke eine Stehlampe eingeschaltet war, bei der man die Lichtstärke regulieren konnte.
     Schwaches, dunkelgelbes Bahnhofslicht erhellte Rudi Zitzmanns Gemälde, den falschen Chagall. So war es gut, auf dem Sofa spanischen Weinbrand zu trinken, den Regen zu beobachten, der auf den Balkon fiel, und nichts zu tun. Absolut gar nichts. Im Radio sendeten sie wieder Mozart.
     Er hörte den Anrufbeantworter ab und löschte alle Nachrichten. Volleys aufgeregte Stimme und sein schweres Keuchen und das ewige In-Eile-Sein versetzten einen immer in Hektik. Chrystian hatte nur diesen einen Satz behalten können: Ich hol aus Tanger afrikanisches Marihuana im Werte von einhunderttausend Euro. Wieder so eine Geschäftsidee, dachte er.
     Von Mona war keine Nachricht auf dem Band gespeichert gewesen, obwohl sie ihm versprochen hatte, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Und sie war jetzt schon seit zweieinhalb Tagen in Leipzig. Eine geheimnisvolle Stadt, dieses Leipzig, eine japanische Stadt mitten in Deutschland. Tokio müsste sie heißen, dachte Chrystian. Er legte sich hin und versuchte zu schlafen. Es war nicht so einfach, die Augen zu schließen und Katharinas »Leb wohl!« zu vergessen. Er schlief ein und erblickte Boreas auf einer Wiese. Weit und breit keine Bäume, nur diese Wiese dort in der Welt. Sein Sohn spielte mit einer Frisbeescheibe. Er warf sie in die Sonne, und sie schwebte wie eine Untertasse am hellblauen Himmel. Doch als sie zum Schluss, kurz vor der Landung und im großen Bogen, in seine Richtung flog, und er, der Papa, vor Angst anfing wegzulaufen, wachte Chrystian schweißnass auf – ganz plötzlich, wie nach einem kalten Fieber. Er sah auf die Uhr in der Küche und stellte verwundert fest, dass er drei Stunden mit einer glimmenden Zigarette in der Hand auf dem Sofa zugebracht und gepennt hatte. Der Teppich war aber zum Glück nicht angebrannt.
     Das Telefon läutete, als er sich ein Glas Leitungswasser holte. Draußen dämmerte es bereits. Die Dunkelheit schlich sich ein, und mit ihr die Abendbrise, die vom Hafen her in die Bremer Straßen gelangte. Er hob den Hörer ab und betete, dass es Mona Juchelka sein möge, am anderen Ende der Leitung. Er fragte »Ja?« und wurde ganz ruhig, als ihre Stimme im Lautsprecher ertönte.
     »Ich fliege nächste Woche nach Warschau. Von dort aus mit dem Zug nach Ilawa«, sagte sie schließlich. »Ich will endlich nach Stutthof. Kommst du mit? Du bist doch arbeitslos.«
     »Nein. Ich hab hier in Bremen etwas zu erledigen«, versuchte er sich herauszureden, obwohl er für ein solches abweisendes Verhalten absolut keinen Grund hatte.
     Sie schwieg und legte auf. Sie hatte nicht einmal den vollendeten Chagall gesehen, das Brautpaar, das über die Häuser seines Viertels und den Ziegenmarkt hinflog und dem Storch auf einem der Dächer zuwinkte. Und er hatte es auch nicht geschafft, Mona davon zu berichten, was er heute Mittag im Keller gesehen hatte. Vielleicht war es auch gut so. Er sollte alle Geschichten für sich behalten, auch die von den zwanzig Rotarmisten, die in Deutsch-Eylau eingefallen waren, um an Annegret Rache zu üben, mit ihren Fingerhüten.
     Er ging auf die Toilette, pinkelte, wusch sich die Hände und das Gesicht, das trotz des kalten Wassers ein wenig brannte. Er hatte nur ein Glas Veterano gekippt, aber er fühlte sich betrunken und heiß. Sein Herz schlug sehr schnell und so leicht, dass er das Gefühl hatte, er würde gleich abheben wie ein Hubschrauber. Die Brust zerrissen ein paar Stiche, die aufhörten und dann erneut zurückkehrten wie ein Komet. Er schluckte Luft, um den Schmerz zu lindern und das Rasen in der Brust zu stoppen. Das half immer. Und jetzt auch. Das Herz wurde ruhig und schlug wieder normal. Okay, Volley, dachte er. Ich ruf dich an.

* * *

Es war die Zeit der Stinte, die durch den Geserichsee zogen und sich vermehrten. 1947. Richard Schmidtke hatte den Wald von Alt-Christburg seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Draußen an den Ufern des Geserichsees lauerte die Rache auf ihn. Es gab nur zwei Menschen, die ihn nicht umbringen wollten: seine Mutter und der Koch Johann Brodd, der ihm jeden zweiten Tag etwas zu essen brachte. Aber er hatte keinen Hunger mehr. Seitdem das Flugboot auf dem See gelandet war, pisste er Blut und Rasierklingen.
     Er saß am Tisch in seiner Holzhütte, trank schwarzen Tee und wartete. Seine Nieren loderten. Johann Brodd hatte ihn gewarnt, dass sie jeden Moment bei ihm anklopfen könnten. Richard sagte daraufhin nur: »Führe sie zu mir. Oder hau ab! Renn um dein Leben!«
     Es war nichts einfacher, als zu sterben. Er hatte selbst Hunderte in den Tod geschickt und es niemals bereut. Was soll’s, hatte er sich immer gedacht, sie müssen sowieso irgendwann abkratzen, diese Menschen. Ob gestern oder heute? Ich kann ihnen dabei sogar helfen. Und deswegen hatte er an diesem Morgen kein Mitleid mit sich selbst. Er war bereit. Er würde bestimmt nicht betteln, damit sie ihm noch ein paar Sekunden schenkten oder eine Minute.
     Der Schnee hatte das Dach der Hütte in der Mitte eingedrückt, es hatte den Winter nicht überstanden, und nun schneite es immer noch, im April. Das Wasser tropfte von der Decke in die emaillierte Schüssel, und er hörte draußen Schritte, die so laut waren wie das Tropfen in der Stille seines Verstecks. Wie würden sie es tun? Mit einer Waffe? Einem Messer? Oder einem Strick? Hauptsache, dass sie ihn nicht vergasen konnten. Das Vergasen musste wehtun. Dann lieber eine Kugel in die Schläfe. Ohne Worte. Er würde sie nicht begrüßen. Er wollte schweigen. Johann Brodd, sein ehemaliger Koch, hatte erzählt, es seien drei Männer. Er fragte sich, ob er sich an sie erinnern würde. Bestimmt nicht. Und er ärgerte sich, dass sie noch am Leben waren. Was war in Stutthof passiert? Waren sie geflohen? Wie hatten sie nur ... vergessen werden können? Welcher Dummkopf hat diese drei Häftlinge entkommen lassen? Sie sollten doch schon seit mindestens zwei Jahren tot sein. Niemand würde dann mehr wissen, was aus ihren Leichen geworden war. Niemand würde sie identifizieren können.
     Er schlürfte den Tee und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte Fieber. Die Bäume waren gut. Schmidtke hatte gelernt, mit ihnen zusammen zu sein wie mit einer Frau. Wie mit eigenen Kindern. Ein Baum war stärker als alle KZler zusammen. Manche Kiefern, insbesondere die, die um seine Hütte herum standen, redeten mit ihm im Schlaf. Er hatte nie daran geglaubt, dass so etwas möglich sein könnte, aber hier in der Leere des Waldes war das möglich. Ihre Nadeln besuchten ihn des Nachts in der Wärme seines Bettes und zerkratzten seinen Rücken und seine Brust. Er hatte keine Angst. Die Nadeln drangen in seinen Mund, und er musste sie zerkauen und herunterschlucken. Er betrachtete sich morgens im Spiegel und sah jedes Mal, dass er an der Brust kleine Kratzwunden hatte.
     Träume kannte er nicht. Was sind Träume? Jeder Schlaf war wie ein Baum. Du schlägst Wurzeln und spürst den Stamm und klopfst dir auf den dicken Bauch: Ich bin ein mächtiger Stamm. So fühlte er sich, wenn er schlief.
     Früher oder später hätte ihn jemand entdeckt, und sei es nur, dass der neue Förster zufällig auf seine primitive Behausung gestoßen wäre.
     Vielleicht waren die drei gar keine Häftlinge? Vielleicht war es ja die Miliz, im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder eines Militärgerichts? Wie kam er darauf, dass es seine ehemaligen Häftlinge sein könnten? Johann Brodd hatte gesagt, sie seien auf dem Hof bei seiner Mutter gewesen und hätten sie ausgefragt. Geschlagen. Bis sie es ihnen gesagt hatte. »Ja, er versteckt sich im Wald. Tut ihm nichts. Er versteckt sich bloß ...«
     Und die Männer aus dem Flugboot hätten Deutsch gesprochen. Johann war Deutscher. Er würde doch nicht lügen.
     Richard Schmidtke kannte auch keine Lüge. Was war das, eine Lüge? Es gab nur die Wahrheit. Und der Wald bestätigte ihm, dass er sich nicht irren konnte. Überall hier wuchs die Wahrheit, in jedem Baum, in jedem Ast. Sie stand da und vermehrte sich mit jedem neuen Zapfen und Grashalm.

Die Schritte im Schnee, wie seltsam, taten seinen Ohren nicht weh, obwohl sie immer lauter wurden. Er war geduldig. Die Nieren brannten, und sein Penis, mit einem Schnupftuch bandagiert, war schlaff und kalt.
     Im Grunde genommen hatte er viel Glück gehabt. Der Wald hatte ihn beschützt und nicht verraten. Er verübelte es seiner Mutter nicht, dass sie ihn verraten hatte. Sie war eine tapfere Frau. Und sie hatte die Wahrheit gesagt. Und nie geweint. Nach keinem einzigen Brief von der Ostfront. Ihre Brüder waren dort irgendwo in den Birken gefallen. Die Birken gefielen ihm nicht. Die Birken waren Russen und hielten Totenwache. Sie waren gut, aber ihm so fremd wie Russland. Am Geserichsee gab es so gut wie keine.
     Er war zu Hause geblieben, als der Krieg anfing. Er war ja kein junger Mann mehr. Er hatte eine andere Methode gefunden, sich nützlich zu machen. Das kleine Außenlager auf seinem Hof zu errichten, war seine Idee gewesen. Stutthof platzte aus allen Nähten. »Hier, bringt sie zu mir. Ich werde meine Häftlinge füttern, bevor ihr sie holt. Wie viel zahlt ihr pro Kopf? Und für die Rübensuppe?, denn die Königsberger Klopse schmecken den Bärtigen nicht, weil sie nicht koscher sind.«
     Sein Hof war groß, o ja. Er hatte die Scheune, wo sie schliefen, bewacht wie eine Bank. Jede Nacht war er auf den Beinen gewesen, zusammen mit den Soldaten. Er bereute nur, dass er die Häftlinge nicht persönlich hatte begraben dürfen. Das hätte ihn stolz gemacht. Er wäre gern Pfarrer geworden. Jeder Häftling hätte sein eigenes Grab bekommen. Mit seinem Namen. Und Sterbedatum. Aber dafür hatte es keine Zeit gegeben. Es musste alles so schnell gehen. Sie sollten weiterfahren, mit den Zügen. Und die Felder mit Weizen und Mais waren auch keine Friedhöfe. Seine Landsleute hatten Hunger und mussten mit Brot versorgt werden. Aber trotzdem – er würde es jedem bestätigen –, es hatte alles Sinn gehabt, die ganze Arbeit, die er getan hatte. Erst im Krieg war er ganz zu sich selbst gekommen. Das stumme Sitzen und Warten, dass die Ähren gediehen und das Brot gebacken wurde, hatte endlich ein Ende genommen. Da war Stutthof, und später das Außenlager, und er Richard Schmidtke hatte einen Auftrag gehabt.
     Er hörte keine Schritte mehr. Es hatte aufgehört zu schneien. Im Fenster zeigten sich Schatten. Schwarzvermummte.
     Das Eis auf dem Geserichsee war längst abgetaut wie jeden April, und es schneite nicht mehr.
     Er hörte leises, entschiedenes Klopfen. Knöchel, die an die Tür pochten. Wie ein Herz.
     »Es muss sein, es muss sein«, flüsterte jemand hinter ihm.

Schmidtke senkte den Kopf und schloss die Augen. Das Brodeln in seinen Nieren hatte überraschend nachgelassen, und da er sich an diesen Pfahl im Fleisch schon gewöhnt hatte, vermisste er das Leiden auf einmal. Er zog unter dem Tisch seine Beine zusammen, versetzte sich selbst einen kräftigen Faustschlag auf die rechte Wange und biss sich auf die Zunge.
     Er hatte die Tür nicht gehört und nicht gemerkt, wie sie in die Hütte getreten waren. Er wollte die Fremden nicht sehen, ihre Gesichter und Lippen, die zu ihm sprachen.
     »Guck dir das an«, sagte eine Männerstimme. »Er hat sich in die Hose gepisst, das Schwein.«
     »Sitzt da«, hörte er eine andere Stimme, die wahrscheinlich dem Anführer angehörte, »sitzt da und will uns keines Blickes würdigen. Wir sollten ihm die Augen ausstechen.«
     »Lasst uns das Schwein endlich schlachten«, sagte ein Dritter. »Wie wir es besprochen haben, kurz und schmerzlos.«
     »Nein«, sagte wieder die erste Stimme. »Er soll uns wenigstens einmal angucken.«
     Schmidtkes Kopf kippte nach hinten, weil ihn einer der Eindringlinge an den Haaren gepackt und so heftig nach hinten gezerrt hatte, dass in seinem Hals etwas knackte. Er riss die Augen auf – er lebte noch – und sah die Petroleumlampe flackern, als wäre sie von einem Mückenschwarm umgeben.
     Er hatte erst jetzt richtig Angst. Die Fremden waren zu ihm hereingekommen, als gäbe es für sie keine Wände. Sonderbare Wesen, dachte er kurz, sie landen auf meinem Geserichsee, gehen durch die Wände und lesen meine Gedanken. Wer sind sie? Diese verfluchten Hurensöhne Davids, des Herren ...
     Und dann sah er sie plötzlich, drei vermummte Gesichter über seinem, wie an einem Operationstisch in einem Krankenhaus.
     Sind das Fallschirmjäger?
     Drei Paare Eulenaugen schauten auf ihn herab, und die unsichtbare Hand packte ihn wieder an den Haaren.
     Schmidtke sollte sich später daran erinnern, dass er mit seiner Nase auf den Tisch geknallt und in ein schwarzes Loch gefallen war. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, wusste er nicht, wie lange er in diesem Land des Nichts gewesen war. Sekunden? Minuten? Eine Ewigkeit? In seinen Nasenlöchern klebte geronnenes Blut, sein Kopf lag auf den harten Eichenbrettern, und vor ihm standen die drei Fremden. Der Anführer goss ihm kaltes Wasser ins Gesicht, eine Schöpfkelle voll, und sagte: »Mein Name ist Gerald Juchelka. Und du, Richard Schmidtke, bist erlöst. Wir werden uns die Hände nicht an dir dreckig machen. Wir vergeben dir.«
     »Schert euch zur Hölle!«, brüllte der alte Mann.
     »Ich hab’s euch doch gesagt«, zischte der Anführer, »nichts wie hinrichten, das Schwein ...«

* * *

Volley lehnte an der Theke und musterte den schwulen Barmann vom Radio mit einem zornigen Blick.
     »Was hast du mir da eingeschenkt? Das nennst du Bier? Diese Plörre?! Das Beck’s muss im Schaum baden.«
     Chrystian fasste seinen Freund an der rechten Schulter und sagte besänftigend: »Volley, lass uns heute angeln gehen. Mir ist danach.«
     Der Barmann lächelte dämlich und mixte für eine junge Dame am anderen Ende der Theke einen seladongrünen Drink. Hoffentlich einen Daiquiri.
     Das Wetter war umgeschlagen. Für den Monat April war es zu herbstlich, zu windig, und die Fische laichten nicht und fraßen die Weser kahl. Die Alande, die Barsche und die kleinen Maränen waren wie vor den Kopf gestoßen, ihre Navigationssysteme außer Kontrolle geraten. Sie bissen wie Haie und die Angler auf den Steinen am Fluss verstanden die Welt nicht mehr. Die einzigen Fische, die nicht aus der Reihe tanzten, waren die Stinte. Sie machten sich rar, und nach dem Ablaichen gingen sie hops und kehrten nie mehr in die Weser zurück. Sie überließen die ganze Arbeit ihren Sprösslingen, die den Fehler der Eltern wiederholten und in die Seen und Flüsse zurückschwammen, um sich zu vergnügen. Chrystian liebte die Stinte. Sie waren so schlau wie die Aale und so königlich wie die Gezeiten und das Meer und die zahllosen Flussmündungen, aus denen die Stinte stammten.
     »Von mir aus! Hauen wir ab!«, sagte Volley.
     Sie holten die Angelruten aus Chrystians Wohnung. Chrystian nahm die Dose mit den gefrorenen Regenwürmern mit, 20 Stück für 6 Euro 50, aus seinem Gefrierfach.
     »Was hast du auf dem Herzen? Warum willst du mit mir fischen?«, fragte Volley, als sie mit dem VW zum Fluss fuhren, zu ihrem Angelplatz unter der kleinen Brücke.
     »Weil ich betrogen wurde.«
     »Von wem?«
     »Von meiner Ex und Michail. Ich muss das erst verdauen.«
     Er schilderte seinem Freund, was er im Keller seines Vaters gesehen hatte.
     »Phi! O ja! Ich wurde auch betrogen! Die Ladys lachen über meinen Wanst und meine spitze Zunge und begreifen nicht, dass ich Dantes Reinkarnation bin. Ich spaziere täglich durch die Kreise der Himmel und Höllen, und keine von den Sirenen will es wahrhaben! Stell dir mal vor!«
     »Volley, du bist der König vom Steintor und ein verkappter Kommunist. Das ist unvereinbar, und du willst es nicht einsehen. Könige haben’s schwer. Sie dürfen ihr Volk nicht betrügen. Wirtschafte doch endlich in deine eigene Tasche. Widme dich gänzlich dem Kapitalismus, wie es mein Vater fordert. Warum unterstützt du Rudi?«
     »Er ist ein großer Künstler, und die haben selten was zu beißen. Du verstehst nicht, was Mäzenatentum heißt. Du schätzt das Geld nicht. Kennst du Carlos Castaneda? Don Juan war nicht nur ein großer Zauberer, er war auch ein Geschäftsmann und wusste sich zu kleiden und zu benehmen, wenn er in die Stadt kam, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Das wirst du nie kapieren, weil du im asiatischen Dschungel geboren bist. Im Allgemeinen nennt man dieses Brachland, das sich bis zum Uralgebirge erstreckt, Osteuropa. Autobahnen und Supermärkte helfen euch nicht weiter. Ihr seid ewige Untertanen. Ohne einen Diktator, den 1. Sekretär oder einen Zaren seid ihr macht- und schutzlos. Michails Theorie, dass ihr von einer harten Hand regiert werden müsst, stimmt schon, keine Bange! Dann könnt ihr wieder streiken und meutern. Es ist schon so, dass ihr nur als Aufständische zu etwas taugt. Als Dichter. Als Kosmonauten, die nach dem Goldenen Vlies suchen. Ihr glaubt noch an Vorsehung. Als schicksalsgeprüfter DDRler weiß ich, wovon ich rede. Der Honecker und das Cottbuser Kittchen waren meine Lehrmeister.«
     Chrystian parkte im Halteverbot am Osterdeich. Sie verließen die Straße und marschierten mit ihren Angeln zum Fluss hinunter, der wie der Buchstabe Y im Tal lag und zu sprechen versuchte: Ich bin eure Geliebte. So sprach die Weser mit ihnen und tauchte aus den Lichtern der Stadt auf, wie eine Barke. Hier unter der Brücke war es aber dunkel, und das Wasser ergoss sich breit und tief zu einem kleinen See.
     Chrystian ließ die Regenwürmer in einem Plastikeimer mit Wasser abtauen. Sie waren hart wie Schuhsohlen, und er musste sie lange spülen, bis sie weich und glitschig wurden. Für das nächtliche Angeln hatte er in Verden Posen mit orangenfarbenen Stielen gekauft, die in der Dunkelheit nicht zu übersehen waren.
     Sie warfen ihre Angeln aus, ähnlich kleinen Jungen, wenn sie messen wollen, wer am weitesten pinkeln kann.
     Die Strömung vertrieb die Posen nach Norden. Sie glitzerten flussabwärts wie Leuchtkäfer und oszillierten auf der Wasseroberfläche, als wären sie Rettungsbojen. Jetzt musste nur noch der Raubfisch kommen, und wenn er so beißen würde, wie es die anderen Angler zur Zeit verwunderte, hätten Chrystian und Volley einen großen Sieg errungen. Sie könnten dann Rudi ein paar Barsche oder Alande bringen, um in der bescheidenen Küche seines Cafés ein wenig Abwechslung zu schaffen.
     Sie fingen eine lange Weile nichts, und Volley begann, von seinem neusten Drogengeschäft zu erzählen, aber in einem schwärmerischen Ton: »Ich hab Urlaub. Ich fliege am Dienstag nach Tanger.«
     Die Ruten in der Hand standen sie am Ufer wie die ersten Menschen.
     »Ich fliege nach Tanger, weil ich mir etwas Gutes tun will. Ich werde mir am Steintor ein Haus kaufen. Mit Fundamenten und Mauern, die ich anfassen kann. ›Alles meins, schau!‹, so möchte ich in Zukunft mit dir sprechen. Und dafür brauch ich Zaster. Sehr viel davon. Banal gesagt, einhunderttausend Euro. In Tanger kriege ich guten Stoff, sehr guten, den die Bremer und Amsterdamer noch nie probiert haben. Ich kaufe ihn für fünfzigtausend und mach hier in unserem Klein-Brooklyn das Doppelte. Gras vom Feinsten. Du wirst ein Außerirdischer vom Aldebaran, wenn du das Zeug geraucht hast. Ich werde es auf einem Schiff nach Spanien schmuggeln. Ein Matrose wird es für mich verstecken.«
     »Schön!«
     »In meinem Haus wirst du mir stets willkommen sein, auch als Mieter – solltest du noch einsamer werden ...«
     »Volley, ich muss nach Leipzig! Zu Mona. Sie ist mein Rettungsring. Wenn ich jetzt versage, kriege ich nichts mehr auf die Reihe. Meine Mutter Danusia hat immer gesagt, dass ein Mann selten auf die Frau seines Lebens trifft. Frauen unterdessen hätten viel mehr zu ertragen, weil sie Mütter würden.«
     »Und was hast du vor? Möchtest du schwanger werden? Oder ziehst du nach Ostdeutschland um? Willst du dich von Neonazis verkloppen lassen?«
     Volleys Pose verschwand plötzlich. Er drehte an der Rolle und zog abrupt an seiner Rute, die in den schwarzen Brückenhimmel schnellte und dann für Sekunden senkrecht stehen blieb, bevor sie sich ein wenig verbog. Die Schnur hätte die Haut schneiden können.
     »Ich hab ihn, ich hab ihn!«, schrie Volley. »Meinen kleinen Moby Dick! Schau doch!«
     Er holte einen Aland an Land, gut fünfunddreißig Zentimeter lang.
     »Bleib bei uns«, sagte er. »Was willst du da bei den Skinheads? Warum bringst du deine Jüdin nicht zu uns nach Bremen? Meine Fresse! Schau mal! Ist das nicht ein Prachtexemplar? Und warum solltest du nicht mit ihr nach Stutthof fahren, und zu deinem Onkel Horst? Wenn sie es unbedingt will! Tu ihr den Gefallen. Ich kann dir sogar für diesen Ferienspaß und Liebeszündstoff Geld leihen!«
     Chrystian kurbelte seine Pose und den Wurm zurück. Er hatte heute Nacht kein Glück.
     »Sie sind keine Neonazis. Du bist nur ein typischer Wessi geworden – links und geldgierig«, sagte er. »Du weißt eben nicht, was es bedeutet, keine Vergangenheit mehr zu haben. Sie wurde denen da nach der Wende gelöscht. Vierzig Jahre, als wären sie nie gewesen, wie weggebombt. Das ist alles. Und das ist etwas Elementares, was du doch am besten begreifen müsstest.«
     »Jetzt mach mir bloß kein schlechtes Gewissen. Für welche Sünden denn? Ich hab doch nur hin und wieder an öffentlichen Plätzen ein paar Lieder gesungen.«
     Chrystian schaltete die Taschenlampe ein. Volley holte den Fisch auf die Steine, hockte sich hin, nahm den Aland vom Haken und schlug ihn hart auf die Steine, damit das Zappeln aufhörte.
     »Warum schreibst du nicht ein Buch über Süßwasserfische?«, sagte Volley. »Wenn du dich schon so gut mit Neonazis und Kommunisten auskennst. Ich danke dem Allmächtigen dafür, dass ich solch einen klugen Freund habe.«
     »Und was ist, wenn sie dich in Marokko oder Málaga schnappen?«
     »Dann wirst du als guter Katholik eine Kirche aufsuchen und für mich eine Kerze anzünden«, sagte Volley. »Jetzt lass uns einen bauen – Bum Shankar!«