Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Roswitha Haring (Bild: ORF - Johannes Puch)
Roswitha Haring
Das halbe Leben

Morgens die Kühle, das ist am schönsten. Es ist ganz still, und es riecht gut. Es riecht aus dem Wald und aus der Luft, es riecht nach Wassertropfen auf Gras, es riecht nach Ausruhen, Anlehnen, aber auch nach Losgehen irgendwie, etwas tun, anfangen. Morgens in der Kühle und Stille ist der Platz schöner als am Tag. Ich stehe und sehe ein paar Vögel über dem Tal. Der Kirchturm spießt sie auf, wenn sie nicht achtgeben, oder der Wald verschluckt sie. Hinter mir, hinter der Mauer mit den gekreuzten dunklen Balken, schlafen die anderen Kinder und die Erwachsenen, die Gruppenleiterinnen und der Lagerleiter. Sie schlafen, während ich hier stehe und Ferien habe. Im Sommer haben Kinder Ferien, Schulferien, zwei Monate. Erwachsene haben drei Wochen Urlaub. Wäre ich zu Hause, würde ich allein in der Wohnung sein. Du fährst ins Ferienlager, hat irgend jemand zu mir gesagt, und alle sagten, toll. Das Ferienlager dauert zwei Wochen, dann gibt es einen Tag Pause, und es kommen die nächsten Kinder. Siebzig Kinder. Sie fahren im Bus hierher, frühstücken, gehen raus, essen Mittag, ruhen, gehen wieder raus, Abendbrot, unterhalten, ab ins Bett. Schlafen. Selbst Schlafen ist hier anders. Ich habe mir am ersten Abend mit dem Kissen die Ohren zugehalten, aber der Lärm drang trotzdem durch die Bettwäsche und die Federn. Am Morgen sagte die Gruppenleiterin, nachdem sie uns geweckt hatte, irgend jemand hat in der Nacht sein Kissen um den Kopf gewickelt, ich weiß jetzt nicht, wer das war. Ich habe mich nicht gemeldet, es hat auch niemand weiter danach gefragt. Nach dem Wecken gehen wir in den Waschraum. Vier Waschbecken auf jeder Seite, zehn Mädchen in der Gruppe. Ich stelle die Waschtasche auf den Boden, im Ferienlager braucht man eine Waschtasche mit Waschlappen, Seife, Zahnbürste und Zahnpasta, und dort wird sie naß. Ich klemme die Schlafanzugjacke zwischen meine Knie und drücke das weiße Zeug auf die Borsten. Ein Wurm, dem die Stacheln nichts ausmachen. Ich zerquetsche ihn in meinem Mund. Ein Mädchen kreischt. Ein nasser Lappen ist an ihren Rücken geflogen, sie hebt ihn auf und wirft ihn ziellos zurück. Ich hätte ein brennendes Mal auf meiner Haut, ein Loch im Rücken. Ich hätte in die Zahnpasta genuschelt. Ich wasche mein Gesicht. Andere Mädchen warten auf ein freies Waschbecken. Sie warten nicht an der Tür, sie stehen hinter einem. Ich trockne mich ab, reibe mit dem Handtuch, und ein zweites Gesicht ist im Spiegel. Mein Gesicht wird heiß, aber im Waschraum ist es kühl. Es riecht nach feuchten Scheuerlappen. Die Fliesen sind glatt und gelb. Ich spüle den Waschlappen aus. Das Becken ist sofort wieder besetzt. Ich gehe in eines der Zimmer mit fünf Doppelstockbetten. Auf dem Weg wische ich die Waschtasche ab, dann stelle ich sie in das Fach, das mir gehört. Sie knickt ganz langsam um. So langsam, wie ich mich manchmal am Nachmittag fallen lassen möchte, wenn es wieder so heiß ist wie am Vortag. Hitze gehört zum Sommer dazu, hat der Lagerleiter gesagt. Das war beim Appell gestern. Nach dem Frühstück in dem großen Raum im Erdgeschoß, wo auch eine Abschlußfeier stattfinden soll, ist immer Appell. Wir essen etwas, und dann formieren wir uns in Zweierreihen. Formieren, hat die Gruppenleiterin gesagt. Das Frühstück in den Vitrinen ist auch formiert. In einer Reihe die Marmeladengläschen, Tassenstapel, Tellertürme, Butter, Käse, Wurst. Nur das Brot fällt aus dem Rahmen, es krümelt, und jede Scheibe ist doch ein bißchen kleiner als die vorige. Aber das sieht man nicht immer, das ist das Glück des Brotes. Frühstück. Wir sitzen an langen Tischen, essen, trinken braunen durchsichtigen Tee, und die Mädchen und Jungs und die Erwachsenen reden. Manche waren voriges Jahr schon hier, kennen eine Stelle im Wald, eine Gruppenleiterin, den Vater der anderen, weil er ein Kollege der Mutter ist. Ich sage, in welchem Stadtteil ich wohne und wo ich zur Schule gehe. Das Mädchen sagt ihrerseits, wo sie wohnt, und beginnt von ihrem Badeanzug zu erzählen, den ihr ihre Mutter extra für das Ferienlager gekauft hat. Baden. Hinter dem Haus, ganz neu, ist ein Swimmingpool. Das hatte mir mein Vater schon zu Hause erzählt und Schwimmingpool gesagt. Wir bringen das Geschirr, die Wurstschalenkringel, das zusammengeknüllte Käsepapier und die ausgekratzten Marmeladengläschen an die Theke. Wir wischen die Tische ab und schieben die Stühle bis an die Kante. Knallt ein Teller auf den anderen, eine Tasse auf die vorige, klingt es wie ein hoher abgerissener Ton. Wir stehen noch ein bißchen herum, und dann gehen wir auf den Platz zum Appell. Jeden Morgen ist Appell. Jeden Morgen meldet einer aus der Gruppe, daß sie vollzählig anwesend ist. Der Lagerleiter steht in der Mitte des Platzes, nimmt die Information entgegen und sagt dann, heißt Flagge. Die Mädchen haben gekichert an den ersten Tagen, während die Fahne an einer Leine am Mast emporgezogen wurde. Dabei ist mir eingefallen, daß die Fahne höher als die Kirchturmspitze ist und vom Tal aus zu sehen sein muß. Wie sieht es wohl aus, wenn in der Mitte eines freien Stückes im Wald eine Fahne flattert? Heißt das, hallo, hier sind wir, oder, Achtung, wir sind hier, vergeßt uns nicht? Wenn die Fahne am Ende des Mastes angekommen ist, spricht der Lagerleiter. Ich weiß nicht, was er sagt. Er spricht manchmal davon, was wir unternehmen könnten, daß die Wälder ringsum zum Erkunden da wären und auch das Dorf und daß er uns einen schönen Ferientag wünscht. Aber zu allem, sagt er, gehört auch Ordnung. Ordnung in den Zimmern, in den Schränken und auf den Betten. Und daß er jeden Morgen, während wir durch den Wald streifen, die Ordnung kontrolliere. Er hat Punkte dafür, und die schreibt er in eine Liste. Die Liste hängt neben der Tür zum Frühstücksraum. Wir haben auch eine Ordnung zu Hause. In dem Wäscheschrank meiner Mutter liegen Bettwäschestapel, Pullover, Unterhemden, Handtücher. Alles ist gestapelt, große schwere Pakete. Aber hinter den losen Paketen finde ich manchmal etwas Unordentliches. Strümpfe, zu einem Knäuel zusammengewickelt, ausgeleierte BHs, einen alten Hut. Im Schrank mit den Hemden und Kleidern meiner Eltern lehnen große, auf harte Pappe aufgeklebte Fotos an der Rückwand. Man kriecht in den Schrank hinein und zieht sie unter den Säumen hervor. Auch in den Küchenschränken ist Ordnung. Tassen in dem einen Fach, Teller, Schüsseln in den anderen. Unter dem Tablett in der Mitte des Küchenschrankes liegen Zettel, Postkarten vom letzten Urlaub, Krümel, Knöpfe, Briefmarken, auf denen kein Leim mehr ist. In einem Schubkasten sind Kerzen, Kämme, Kochbücher, Scheren. Ich habe meine Bücher nach der Größe sortiert. Man könnte wie auf einer Treppe schnell auf ihnen herunterlaufen und müßte aufpassen, daß man nicht stürzt. Eine Dose habe ich auch auf das Schränkchen gestellt, sie ist oval und steht immer genau in der Mitte. Das ist meine Ordnung, obwohl meine Mutter sagt, ich hätte keine. Sie kommt manchmal ins Zimmer, reißt die Schranktür auf und alle Sachen die darinnen sind heraus. Ich will nicht hören, was sie sagt. Ich sehe nur, wie die Sachen fliegen. Als ob sie tanzten, total verrückt geworden. Nach einer ganzen Weile, wenn meine Mutter schon lange wieder in der Küche hantiert, nehme ich die Sachen auf und lege sie ganz vorsichtig, ganz langsam wieder zusammen und gehe danach ins Bett. Ich denke an die Stapel in dem Wäscheschrank meiner Mutter und frage mich, wann sie wohl ihren ersten Wäschestapel in den Schrank räumte und was sie dabei dachte, und ich frage mich auch, was sie heute denkt, wenn sie die schmutzige Wäsche wäscht und bügelt und im Schlafzimmer die Schränke mit den frischen Stapeln füllt. Seit einiger Zeit kauft meine Mutter Weichspüler. Die Wäsche hat einen Duft. Man kann das Wäschestück falten und es dann vor das Gesicht halten. Man kann das Gesicht darin verbergen und so lange atmen, bis man glaubt, den Duft aufgesogen zu haben. Mit einem Weichspülerduft herumlaufen, vielleicht fiele dann jede Ordnung leichter, vielleicht flöge dann nichts mehr, weil man selber schon fliegt. Die Fahne kann auch nicht fliegen, sie flattert nur, wird abends mit Appell eingeholt, nachts gefaltet hingelegt, und morgens geht es wieder von vorn los. Jeden Morgen rennen siebzig Kinder über die Korridore, zehn in jedem Zimmer hin und her, als ob sie das bezahlt kriegten. Ich sitze auf meinem Bett und bin schon fertig. Die anderen Kinder gähnen, ziehen sich langsam an, zeigen ihren Pulli oder erzählen ihren Traum. Dann kommt die Gruppenleiterin und mahnt. Sie mahnt auch mich, weil sie ihr, euch, euer sagt. Aber mein Fach ist ordentlich, meine Bettdecke liegt ordentlich, und wenn ich aufstehe, ziehe ich sie noch mal glatt. Ich stehe also auf, aber die Gruppenleiterin sieht mich nicht, weil sie sich über die anderen noch ärgern muß. Manchmal wird sie sogar in ein Gespräch verwickelt und sagt, ja, so was habe ich auch mal geträumt, ja, zieh ein Kleid an. Ich stehe an der Tür, die Gruppenleiterin redet, die anderen Mädchen reden, und ich warte. Sie kommen aus dem Zimmer und hören bis zu diesem, heißt Flagge, nicht mehr mit Reden auf. Ich warte auf dieses, heißt Flagge, weil dann endlich Ruhe ist, weil dann eine Ordnung ist, die mir auch einmal gefällt. Der Platz ist übersichtlich, alle sind still wie ich, und es ist nicht so heiß. Wer die beste Ordnung hat, sagt der Lagerleiter, darf in den Swimmingpool. Das hat er am ersten Tag, beim ersten Appell gesagt. Mein Vater hat das nicht gewußt, sonst hätte er es mir zu Hause erzählt, aber mein Vater kennt keine Ordnung, wie meine Mutter sagt. Schwimmen, baden hat etwas mit Ordnung zu tun. Wer die Bettdecke straff über das Laken zieht, darf ins Wasser, wer Stapel im Schrank baut, die nicht herausfallen, wenn man die Tür öffnet, darf ins Wasser, und wer seine Zahnpastatube nicht im Waschraum liegenläßt auch. Ins Wasser darf nicht jeder, ein Swimmingpool ist nicht für jeden gebaut, er war teuer genug. Alles ist teuer, sagt meine Mutter, jedes unserer Kinder kostet uns ein Auto. Ein Auto, ich bin so teuer wie ein Auto. Ein Auto können sich meine Eltern nicht leisten. Meine Geschwister sind aus dem Haus, das Auto wäre schon alt. Mein Auto wäre noch gar nicht da, ich bin noch nicht alt genug für ein ganzes Auto, ich bin vielleicht nur die Räder und die Türen. Eltern, die ein ganzes Auto haben, können sich auch Kinder leisten. Sie können es sich leisten, mit ihren Kindern zusammen zu sein, denn sie haben das Geld für das ganze Auto schon zusammen und auch schon bezahlt. Sie können zahlen, sie verdienen, sie haben es gut. Die haben’s ja, sagt meine Mutter über diese Leute. Deswegen soll ich meiner Mutter immer helfen, weil sie schon genug arbeitet. Einmal hat es ihr gereicht. Jetzt reicht’s, sagte sie. Es war der Moment, an dem es ihr völlig gereicht hat. Ich sollte Kartoffeln aus dem Keller holen. Sie kam kurz danach auch herunter, ging in den Keller der Nachbarin am anderen Ende des Ganges, stieg dann die Treppe wieder hinauf und schloß die Tür von außen ab. Ich hatte kein Geräusch gemacht, ich hatte Kartoffeln aufgesammelt, und das hört man nicht. Ich lehnte über der Kartoffelkiste und hörte in meinem Kopf das Schloß zweimal herumdrehen. Schnapp, schnapp. Ich war im Keller. Wie die Wäschestücke aus dem Schrank herausgeflogen waren, war ich aus der Wohnung geflogen. Sie hatte mich geschickt, und ich war gegangen. Ich hatte mich nicht wie ein ordentlich zusammengefaltetes Wäschestück benommen, dauernd mußte ich meinen Willen durchsetzen, und jetzt bekam ich die Rechnung. Es wurde etwas heimgezahlt. Keine Ausgaben mehr. Zwei Wochen Ferienlager sind billiger, als wenn meine Mutter die ganze Zeit für mich kochen müßte. Zwei Wochen Ferien. Nicht jeder Tag ist ein Ferientag. Das Lager muß bewacht werden, hat der Lagerleiter gesagt, man kann nicht heraus, ohne sich abzumelden, und wieder herein, ohne sich wieder eingetragen zu haben. Deshalb steht am Tor ein Tisch, und daran sitzen zwei aus einer Gruppe. Vierzehn Tage, sieben Gruppen, jede ist zweimal dran. Zwei Stunden in der Sonne sitzen, Uhrzeiten und Orte eintragen, Striche ziehen, auf die Ablösung warten. Zwei Kinder sitzen an einem Frühstückstisch, Papier liegt vor ihnen, und sie bewachen das Lager. Die Gruppen sind vollzählig, das haben sie beim Appell gesagt, und in den Listen steht, wohin sie gehen wollen. Ich saß auf der Kante der Kartoffelkiste. Im Keller riecht es nicht schlecht, es ist eine andere Frische als morgens auf dem Ferienlagerplatz. Es riecht nach Stein und Feuchtigkeit und Kohlen, es riecht nach tief in der Erde, nach Aufbewahren. Die Luft ist ein bißchen leichter, und im Sommer ist es angenehm kühl. Ich gehe eigentlich gern in den Keller, es ist still und frisch und riecht gut. Nur muß ich aufpassen, ob jemand kommt und wieder geht und die Tür abschließt, ohne mich gesehen und gehört zu haben. Ich saß auf der Kante der Kartoffelkiste und hörte wieder das Schloß. Meine Mutter kam die Treppe herunter und fragte, wieso hast du nicht gerufen, woher soll ich wissen, daß du noch hier unten bist? Durch die Listen weiß man immer, wer wo ist. Neunuhrvierzehn, Gruppe drei, große Lichtung, Spaziergang, neunuhrfünfundzwanzig, Gruppe fünf, Bachverlauf, und so weiter. Ich habe sehr genau die Uhrzeit aufgeschrieben und nicht soviel Platz für die Zeilen gebraucht. Ich habe mit dem Lineal einen Strich unter die Gruppe gemacht, während das Mädchen neben mir sagte, vielleicht können wir heute in den Swimmingpool. Wir haben nicht genügend Punkte, sagte ich. Wir können doch fragen, sagte sie. Schwimmen, baden, obwohl wir nicht ordentlich genug sind. In dem blauen Wasser sein, das in dem Bassin jeden Tag unbeweglich daliegt. Von einem Treppenfenster im obersten Stock aus sieht man das blaue Rechteck hinter dem Haus, alles ringsum ist bewegungslos. Der breite Rand aus Stein, der Rasen bis zum Zaun, der Wald wie dunkler Filz. Es ist heiß, die Haut brennt, wenn man etwas berührt. Das Wasser eines Swimmingpools ist bestimmt kühl wie Leitungswasser, das eine Weile aus dem Hahn läuft, frisch wie Erdbeertorte aus dem Kühlschrank. Vielleicht ist es danach, als ob man in einem Kellerraum gewesen wäre, mit einer Luke zum Tageslicht. Im Wasser kann man sich treiben lassen, und man kann tauchen. Im Wald dagegen muß man laufen und achtgeben, daß man nicht in einen Ameisenhaufen tritt. Im Wald ist es heiß wie in einem Pullover. Im Wald weht kein Lüftchen, deswegen sind die Bäume alt und hoch. Im Wald knackt es dauernd, und man weiß nicht, was es war, ein Tier, ein großes, ein kleines, ein Fremder, fällt ein Baum um? Im Wald ist es dunkel, und man kann sich verlaufen. Wenn man nicht aufpaßt, findet man nicht mehr zurück, da hilft auch keine Gruppe. Auf einem Platz dagegen kann man alles übersehen, wenn man allein ist, und in einem Swimmingpool ist es nur schön, wenn man ihn allein hat. Der Lagerleiter und die Gruppenleiterinnen schwimmen abends darin. Sie versuchen, leise zu sein, sie flüstern und kichern, aber wir hören sie trotzdem von unserem Zimmer aus. Die gehen da rein, und wir dürfen nicht, sagte eines der Mädchen in einem oberen Bett. Ich wollte sagen, dann räum doch endlich mal auf. Das sollen Ferien sein, sagte ein anderes, meine Mutter wird sich im Betrieb beschweren, sagte ein nächstes, und ich dachte dabei, wieso seid ihr denn verdammt noch mal nicht ordentlich, wenn ihr etwas haben wollt, wieso haltet ihr euch nicht an die Regeln, nur wenn man sie befolgt, kann man etwas bekommen, nur dann gibt es eine Chance. Wenn jede macht, was sie will, dann, dann, dann wäre doch der Swimmingpool sofort voll, siebzig Kinder passen nicht auf einmal hinein, siebzig Kinder können nicht ohne Appell vom Frühstück einfach in die Umgebung verschwinden, ohne daß man weiß, wo sie sind, ohne sie gezählt zu haben, ohne auf sie aufgepaßt zu haben. Siebzig Kinder, und jedes will machen, was ihm in den Sinn kommt, so geht Ferienlager nicht. Aber ich schwieg. Die Mädchen schimpften noch eine Weile, schliefen ein, und ich war noch lange wach. Ich stellte mir vor, wie ich vom Rand des Swimmingpools kopfüber in das Wasser springe. Man zerstört die Oberfläche dabei, das weiß ich, ich war einmal morgens die erste beim Schwimmunterricht. Schwimmen. Es gibt Kinder, die haben Angst, ins Wasser zu springen. Die Schwimmlehrerin hat einmal einen schreienden Jungen, der nicht ins Tiefe springen wollte, am Armgelenk gepackt und ihn wie die fliegenden Sachen aus meinem Schrank in das Wasser geschleudert. Er schrie und mußte trotzdem fliegen und springen. Er konnte schwimmen, aber er wollte nicht springen. Ich hatte überlegt, ob er einer von denen ist, die zu Hause nichts tun müssen, ob er da machen kann, was er will. Dann war da plötzlich die Schwimmlehrerin, die etwas von ihm wollte, und er schrie. Der Lagerleiter will, daß wir die Zimmer ordentlich verlassen. Wir sind den ganzen Tag nicht in den Zimmern, wir dürfen uns tagsüber, außer zur Mittagsruhe, nicht in den Zimmern aufhalten. Die Ordnung ist für die Abwesenheit da. Wir sollen Ordnung hinterlassen. Mir gefällt Ordnung. Ich will immer ordentlich sein. Ich will immer nur Ordnung hinterlassen, damit niemand noch mehr Arbeit hat. Ich will eigentlich gar nichts hinterlassen, ich bin still, ich bin im Ferienlager, ich mache keinen Dreck zu Hause, und meine Mutter kann sich einmal ausruhen. Sie hat jetzt auch ein bißchen Urlaub. Ich bin nicht in der Wohnung, mein Zimmer ist leer. Sie kann mich nicht im Keller einschließen, und wenn sie meine Sachen aus dem Schrank reißt, bleiben sie liegen, bis ich wieder zurück bin. Ich komme zurück. Nach zwei Wochen bin ich wieder zu Hause. Dann laufe ich herum und wirble Staub auf, das sagt sie manchmal zu mir. Es müßte in der Nähe unserer Wohnung auch einen solchen schönen Platz geben wie diesen hier im Ferienlager. Ich wache seit ein paar Tagen früh auf und höre ringsum nichts. Ich nehme meine Sachen und verlasse leise das Zimmer. Ich wasche mich, ziehe mich an und gehe auf den Platz. Es riecht so gut. Ich atme und rieche die schöne Luft. Ich hätte einmal Lust, tagsüber irgendwohin zu gehen, wo es so gut riecht und wo es so schön still ist. Aber am Tag ist es heiß. Am Tag sind sehr viele Kinder unterwegs und die Erwachsenen und der Lagerleiter und meine Eltern auch. Jeder macht etwas, jeder sagt etwas, jeder läuft herum, die Plätze sind belegt, die Wege voll. Die Kinder, die herumlaufen, sind abbezahlt, sie sind jetzt frei, wie ihre Eltern auch. Sie können tun und lassen, was ihnen beliebt. Sie können fragen, ob man trotz fehlender Punkte in den Swimmingpool darf. Sie können sagen, ich möchte gern in den Swimmingpool, und sie dürfen auf eine Antwort warten. Sie können kichern und erzählen, daß im vorigen Jahr dieses und jenes geschah, und hoffen, daß es wieder passiert. Ich mag Wiederholungen nicht. Ich bin immer froh, wenn etwas vorbei ist. Außer frische Luft, danach sehne ich mich. Aber das will ich zu Hause nicht sagen, daß ich frische Luft mag. Dann geh doch raus, würde meine Mutter sagen, und nimm den Abfall mit runter. So ungefähr wäre der Satz. Ich will einmal ohne Abfalleimer herumlaufen, ohne etwas, aber das ist vielleicht zuviel verlangt. Wenn alle ringsum arbeiten, kann ich nicht spazierengehen. Wenn alles so teuer ist, kann ich nicht einen neuen Pullover haben wollen. Das ist alles schon vorbei, das ging, bevor ich kam. Meine Eltern hätten das Geld zum Sparen für das Auto verwendet, jetzt brauchen sie es für mich. Ich nehme ihnen etwas weg, und mir fällt nichts ein, wie ich es ihnen wiedergeben könnte. Ordnung ist auch etwas zum Sparen. Alles verschwindet im Schrank, gestapelt liegt es bereit und braucht nicht soviel Platz, als läge es auf einem Haufen herum. Ich bin bereit für einen neuen Ferienlagertag. Ich bin schon gewaschen, angezogen und munter. Ich bin pünktlich zum Essen im Saal. Abends unterhalte ich mich nicht mit den anderen Kindern, damit bald Ruhe ist. Dann schlafe ich ein, und es kommt wieder ein neuer kühler Morgen.

Das Ferienlager war nicht meine Idee.