Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Sandra Hoffmann (Bild: ORF)
Sandra Hoffmann
Den Himmel zu Füßen

(Romanausschnitt)
Den Himmel zu Füßen – Romanausschnitt / Sandra Hoffmann

Seine Maschinen und Figuren waren aus Schrott und bunten Federn und Fäden und es waren keine Maschinen und es waren keine Figuren, nicht Mensch, nicht Tier, es waren Tänze von Dingen, Tänze mit Gegenständen, es waren Flüge in eine Welt, die Enni aus ihrem Körper kannte, aus ihrem Kopf, aus dem Himmel über ihrem Dachfenster.
Sie strich durch die Austellung, sah Schneckenhäuser aus dünnem Blech, dachte, daß der, der diese Dinge hier baute, verstehen würde, wie sie tanzen wollte und für wen. Sie sah den Vater von weitem, bemerkte, wie er sie immer wieder zufrieden anschaute und daß er wußte, was für eine Freude er ihr gemacht hatte zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie dachte über Namen nach, und daß sein Name so klang wie seine Figuren, daß sein Name genau so klingelte wie dieser komische Vogel, wenn er sich bewegte, dieser Vogel, der einer von den Balubas war, aber weniger laut als die anderen. Ting-ue-ly sprach Enni vor sich hin, hörte Glocken, hörte die Dampfmaschine, die immer Sonntags von ihrem kleinen Bahnhof aus in die Stadt fuhr und wieder zurück, hörte sich auf der Mundharmonika spielen oder den Vater, hörte Tschaikowsky und wurde fünf Zentimeter größer. Sie sah Tinguely aus neuer Höhe, tanzte auf Zehenspitzen um die Balubas herum, Nussknackermusik im Ohr und sagte Ting-ue-ly. Ting-ue-ly, das war kein Name, das war eine ganze Landschaft aus Blech und Bewegung, in der es manchmal Höllenlärm gab und dann wieder feines Klimpern, Knarren, Kratzen und Reiben; das waren Windmühlen im Kopf, die ihre Flügel so präzise bewegten wie Enni ihre Füße und die Beine bei den Pirouetten, das war wie im DonQuixote die Rosinante, und warum es so war, wußte sie nicht, aber daß es so war, war sicher.

Auf der Parkbank vor dem Museum schmeckte der Käse besser als zu Hause und das Brot auch.
So machten wir das früher, sagte der Vater, mit Mama, sagte er, als ich noch studiert habe, unterwegs nur Tomaten und Käse und Brot und Wein, und daß der Tinguely schon ein Kerl war, daß er sich als junger Mann einfach aufmachte, um Mussolini zu töten, das war schon ein Ding, sagte der Vater.
So mach ich das auch mal, sagte Enni und meinte den Käse und den Wein, und wer Mussolini war, interessierte sie in diesem Moment nicht so sehr.
Sie war froh, daß sie nicht wieder zufällig Marlies getroffen hatten. Daß Marlies nicht zufällig auch die Ausstellung anschauen wollte, und so ein Wochenende eignet sich ja gut dafür, nicht wahr, hätte Marlies gesagt und die Augen des Vaters hätten geleuchtet und sein Arm hätte sich um Marlies Taille gelegt und vielleicht wäre auch noch mehr zu sehen gewesen. Enni wollte das alles eigentlich gar nicht sehen. Es war schön, daß sie zu zweit auf der Bank saßen und der Vater von der Mutter sprach, weil sie dann wieder glaubte, daß er die Mutter auch liebte oder noch immer liebte, oder immer noch mehr liebte als Marlies, auch wenn Marlies manchmal ganz zufällig bei ihm im Büro war, wenn Enni aus der Schule kam und die Mutter noch in der Praxis den Menschen die Arme, die Beine und den Rücken beugte und streckte. Manchmal kam Marlies dann gerade auf Strümpfen mit dem Vater vom Buddha.
Wir haben zusammen meditiert, sagte der Vater, aber Enni wußte, daß der Buddha mehr wußte, aber sie sagte nichts, sie sagte auch nichts zur Mutter.

Es war nicht schön, daß der Vater mit Enni über Jungs sprechen wollte, denn sie wollte mit dem Vater nicht über Jungs sprechen. Er redete vom Küssen und vom Kino, sagte, früher, als ich deine Mutter kennengelernt habe, sagte, sei vorsichtig, alles geht so schnell, die Jungs wollen immer nur, ja, sagte Enni, sie wollte, daß er still war.
Sie ging neben ihm her.
Hast du dich schon mal verliebt, fragte der Vater.
Enni schaute ins Wasser. Menschen schwammen darin, eigentlich lagen sie darin, ließen sich treiben und trieben schnell an ihnen vorbei, waren wie Punkte, kleine kreischende, quieckende Punkte im schnellen Wasser.
Schau, sagte sie, und blieb stehen, sie hatte auch Lust zu baden, aber wie ohne Badeanzug, und außerdem wollte sie sich nicht zeigen; nicht dem Vater, er wollte zur Zeit zuviel wissen, er sah zuviel.
Sie springen dort oben ins Wasser, lassen sich nach unten treiben und steigen dort unten wieder heraus, sagte der Vater, willst du auch, komm, sagte er, ich möchte auch.
Nein, sagte Enni. Es ist gefährlich.
Dann geh ich alleine, sagte er.
Sie liefen den Fluß entlang, bis zu der Stelle, an der alle ins Wasser stiegen.
Ist das gefährlich, fragte der Vater einen anderen Mann.
Der Mann schüttelte den Kopf, bleiben Sie ufernah, sagte er und nicht zu nah an die Brückenpfeiler herankommen beim Bachabbaden.
„Bachabbaden“ war ein schönes Wort, Bachabbaden lenkte Enni für einen Moment ab, aber dann schämte sie sich für den Vater: du hast doch gar keine Badehose dabei, sagte sie.
Der Vater lachte, Enni schaute weg, warum genierst du dich eigentlich so, fragte er.
Er verstand nichts; laß mich, sagte Enni.
Paß auf die Sachen auf, sagte er.

Enni setzte sich ans Flußufer.
Was hieß schon verliebt; alle redeten davon, alle benutzten das Wort so, als passierte das dauernd. Immerzu war jemand in jemanden verliebt. Sie wüßte gerne einmal, was das eigentlich bedeutete. Daniel gefiel ihr, der Junge aus dem Zug gefiel ihr, der neue Englischlehrer gefiel ihr und Tommi Ohrner auch, weil er so schöne Locken hatte und wegen der Stimme. Der neue Englischlehrer gefiel allen, weil er anders war. Er war traurig, immerzu traurig oder wenigstens sah er so aus, er zweifelte an der Welt. Er kam aus Berlin; Moloch, sagte er, man geht leicht unter, sagte er, trug eine abgeschabte alte Ledertasche lässig über der Schulter, spielte auf dem Plattenspieler Lieder von Simon and Garfunkel vor, Lieder von RalphMcTell und Cat Stevens, er machte ein wehmütiges Gesicht und steckte die Hände in die Taschen seiner Cordhosen. Er hieß Rosenfeld, roch besser als die anderen Lehrer, roch nach etwas, das Enni und Sarah nicht kannten, wanderte durch die sechste Schulstunde, in der gewöhnlich alle müde waren, wie ein Tier hinter Gittern oder hinterm Zaun, immer die gleiche Strecke, vom Fenster zur Tür, an der grünen Tafel vorbei und wieder zurück, zog seinen guten Duft hinter sich her und alle schauten ihm dabei zu. Er spielte der Klasse „bridge over troubled water“ auf dem Plattenspieler vor, schaute aus dem Fenster, ließ sie das Lied noch einmal hören, wenn es zu Ende war, wanderte wieder zum Fenster und zurück, um es noch ein drittes Mal hören zu lassen, und seine Hände sanken immer tiefer in seine Hosentaschen.
Wer hat etwas verstanden, fragte er nach dem dritten Mal, seine Augen wanderten durch die Reihen, waren sehr grün und sahen, daß alle etwas verstanden hatten, soviele Finger wie bei ihm gingen sonst nie in die Höhe, alle verstanden viel. Für Rosenfeld waren die Gesichter traurig und das Verständnis groß. Für Rosenfeld fanden alle, daß alles auf der Welt ungerecht verteilt war. Wegen Rosenfeld hießen die Penner an der Kirche bald Berber und bekamen etwas vom Taschengeld ab oder ein Brötchen. Der Englischlehrer hatte einen schönen Namen, verstand etwas von der Welt, hatte so schmale Hüften wie ein Vierzehnjähriger und Haare hell wie ein Schaf. Aber verliebt?
Er ist wie wir, sagte Enni einmal zu Sarah.
Wie du, sagte Sarah, so traurig wie du.
Ich bin nicht traurig, sagte Enni.

Verliebt.
Wenn sie mit Daniel am Telefon sprach, kribbelte es in ihrem Bauch und sie mußte viel lachen. Daniel lachte auch. Er wollte in den Osterferien wieder zu Besuch kommen, sein neues Fahrrad mitbringen, damit sie in noch weiter entfernte Wiesen fahren konnten, aber an Ostern waren die Gräser in den Wiesen noch nicht so hoch, daß man sie darin nicht mehr sehen konnte.
Enni verlor sich in Gedanken, verlor sich mit den Blicken im Wasser des Rheins, verlor sich in Badeanzugs- und Badehosenfarben, hörte Stimmen um sich herum und stellte die Füße auf, wippte auf den Zehen, spannte die Waden an und war wieder bei den Balubas. Sie würde einen Tanz erfinden, der genau so hieß, Baluba-Tanz. Endlich würde ihr Körper all die schönen Bewegungen machen können, die in der Ballettstunde verboten waren. Wenn es überhaupt noch gehen würde, wenn nicht doch in ihrem Bauch etwas war, wenn sie nicht schon vorher sterben mußte. Manchmal vergaß sie es, manchmal dachte sie einfach nicht mehr daran, aber dann kam es wieder.
Enni, sagte die Vaterstimme hinter ihr und als sie sich umdrehte fielen ihr Frösche ein und Heuschrecken. Der Vater war so dünn, lang und dünn, und seine Unterhosen waren naß und sehr grün. Sie mußte lachen.
Du hast etwas verpaßt, sagte der Vater, wirklich.
Nein, sagte Enni.

An der Grenze wollte der Zollbeamte in ihre Taschen schauen, in den Kofferraum des Fiats und ins Handschuhfach. Im Handschuhfach fand er die kleine Plastiktüte mit den Kräutern gegen schlechte Laune und Verspannungen.
Haben sie noch mehr davon, fragte der Grenzbeamte den Vater.
Der Vater war genervt: das ist Notfallmedizin, homöopathische Dosis, ich bin Biochemiker. Er schüttelte den Kopf.
Der Zöllner lachte.
Schließlich fand er keine weiteren Kräuter mehr im Auto.
Zwei Gramm, sagte er, wir werden das weitergeben an die Kollegen aus Deutschland.
Tun Sie, was sie tun müssen, sagte der Vater.


Die Großmutter beobachtete sie. Je mehr sie sich zurückzog, desto näher rückte sie ihr. Wenn sie von der Schule nach Hause kam, wenn sie vom Ballett zurückkam, wenn sie in der Stadt gewesen war, las die Großmutter Ennis Gesicht, ihren Körper, lagen die Blicke der Großmutter so auf ihr, daß Enni auf den Boden sah, die Schultern nach vorne zog, um sich schmaler zu machen, die Ellbogen ausstellte und sich an der Großmutter vorbeidrängte.
In ihrem Zimmer schloß sie die Tür hinter sich, drehte sogar manchmal den Schlüssel im Schloß, und an den Tagen, an denen die Mutter in der Mittagszeit Termine in der Praxis hatte, vermied sie es, nach Hause zu kommen, weil die Großmutter auf etwas wartete. Enni sollte erzählen: wie früher, aber sie wollte nicht mehr. Die Großmutter erzählte auch nichts.
Ist er denn tot, fragte Enni die Großmutter einmal.
Wer, fragte die Großmutter und Ennis sah darin ihre Chance.
Mamas Papa, sagte Enni.
Die Großmutter schloß den Mund, machte die Lippen zu schmalen Streifen, wandte sich um und ging.
In der Nacht kam sie wieder. Ihr massiger Körper schob sich langsam vorbei an Ennis Zimmertür, es raschelte der Rock, es rieb der Rock auf dem Unterrock, es rieben die Strumpfhosenschenkel bei jedem Schritt im Flur aneinander, und durch das Schlüsselloch, unter der Tür, über der Tür, durch die Tür hindurch drangen die Geräusche der Großmutter, bis ihr Geist oder ihr Schatten in Ennis Bett lag. Enni begann zu frieren, sie legte die Arme ganz dicht an ihren Körper, sie fröstelte. Sie spürte, wie die Härchen sich an den Armen aufstellten. Sie lauschte. Aus ihrem Körper verschwand die Wärme, verschwand jede Bewegung, es wurde dunkel in ihrem Körper, sie spürte nichts mehr. Sie lag steif und kalt, sie hatte die steinerne Haut einer heilig lächelnden Jungfrau. Die steinerne Haut durchdrang niemand.
Sie begann bis einhundert zu zählen, sie stellte sich Zahlen wie Waffen vor, wie Maschinen, wie Gewehre, wie Besteck, wie Folterwerkzeug. Sie stellte sich vor, wie Zahlenbilder gegen ihre Großmutter ankämpften, wie die Gabel der Drei ihre Brille durchstieß, in ihre neugierigen Augen, in die kleinen dunklen Großmutteraugen, wie die Zinken der Vier sich gegen ihren Mund wendeten, gegen die Fragen, die aus ihrem Mund drängten, wie die Fünf und die Sechs gegen ihren massigen Körper boxten, wie die Sieben zustach, die Acht wie ein Gummiball vor ihr auf und ab hüpfte, so daß es für sie kein Durchkommen mehr gab, und daß die Neun sich wie ein Stier benahm. Ab der Zehn waren die Ziffern sowieso immer zu zweit und deshalb stärker als sie. Sie ließ die Zahlen immer größer werden, die Zahlen wurden zu bunten beweglichen Riesen, die waren flink und konnten zustoßen, sie stießen nur leicht, aber es reichte aus, um die Großmutter zu verdrängen. Sie verließ Ennis Bett, sie verließ das Zimmer.
Diesen Kampf führten die Zahlen für Enni schon seit ein paar Jahren so.
Vater Unser mußte sie danach beten.



Enni trug Hut. Er stammte von der toten Tante Lore und als Enni das Band abgemacht hatte, wurde aus ihm ein dunkelblauer schlichter Wollhut, der gut zu Ennis buntgeflickter Hose paßte. Mit dem Hut war das Aufrechtgehen schöner als zuvor, und Enni fühlte sich durch ihn geschützt.
Sie ging mit dem Hut überall hin und nur in der Schule, zu Hause, oder wenn sie irgendwo zu Besuch war, setzte sie ihn ab.
Sie stieg die Treppen zur Ballettschule hinauf, als oben auf dem Treppenabsatz wieder der Ballettlehrer stand, den sie nur vom Sehen kannte, und ihr einen Umschlag in die Hand drückte: für das Mädchen mit dem Hut, stand auf dem Umschlag und Enni sah unter dem Umschlag die schwarzen Schuhe des Ballettlehrers. Der Ballettlehrer war noch nicht lange an der Schule, er war jung, aber nicht sehr, vielleicht war er dreißig und immer fröhlich. Er tanzte die Treppen hinauf, pfiff dabei vor sich hin, machte Drehungen und lachte viel. Enni hatte keinen Unterricht bei ihm, aber sie sah ihn oft, wenn sie die Treppen zur Ballettschule hochstieg, und jetzt erst fiel ihr ein, daß er sie immer grüßte, und daß er lachte, wenn er sie sah.
Sie schaute auf, blickte unter dem Hut hervor, was ist das, fragte sie, sah auf den Umschlag und dann in die blauen Ballettlehreraugen, die blitzten.
Eine Einladung, sagte der Ballettlehrer und wandte sich um.

Kommst du mit zum Brunnen, nachher, fragte Sarah in der Umkleidekabine, da sind Marc und Stephan und alle.
Wer alle, fragte Enni und gleich danach sagte sie: weiß nicht.
Naja, eben Armin und Micha und so.
Armin und Micha und so waren eine Klasse höher und wollten immer Mädchen anfassen, und Sarah gefiel das, weil sie sich gerne anfassen ließ und Enni gefiel das eigentlich auch, aber es war ihr auch langweilig dabei, es war immer das Gleiche, alle redeten durcheinander, und immer mußte man sich etwas einfallen lassen, oder man mußte kreischen.
Enni fand Kreischen sehr peinlich.
Ich glaube nicht, sagte Enni, obwohl sie ein bißchen traurig war, als sie das sagte, weil sie auch gerne so gewesen wäre wie Sarah. Sarah kreischte auch nicht, aber ihr war nicht langweilig in Gesellschaft, sie strahlte, wenn sie in Gesellschaft war, ließ sich küssen und ging Hand in Hand mit Armin.
Ich geh nicht mit dem, sagte Sarah danach, wir machen das nur so. Enni war lieber zu zweit. In Gesellschaft fühlte sie sich verloren, sie war zu langsam für die Gesellschaft, sie überlegte zu lange und war nicht witzig genug, Sarah war immer witzig, über Sarah lachten alle.
Schade, warum nicht, fragte Sarah.
Keine Lust, sagte Enni.

Alleinsein war am einfachsten und am schwersten zugleich. Wenn sie alleine war, konnte sie sein wie sie wollte, aber es kamen auch die schlimmen Gedanken und häufig begann das Zittern.


Am Abend, im Bett machte Enni den Umschlag „Für das Mädchen mit dem Hut“ bestimmt zum fünften Mal auf. Die Einladungskarte war auf geprägtem gelben Papier vom Stadttheater gedruckt und darunter stand dieser Satz: Nur Mut. Mario.
Die Ballettstange war im Dunkeln versteckt, der Schrank war im Hintergrund zu erkennen, nur über Enni leuchtete die Lampe hell und die blaue Bettwäsche färbte das Zimmer in einen kühlen Ton. Auf dem Schreibtisch glitzerte eine Stelle des Buddhas, der Glasputzerfisch war nicht zu sehen, zu grau war er, und zu viel Grün war in Ennis kleinem Aquarium.
Mario war ein schöner Name.
Ob sie das konnte?
Es gab doch sonst keine Mädchenrollen in Romeo und Julia, sie hatte die Straßenjungs in Erinnerung, vielleicht sollte sie auch einen dieser Jungs tanzen, eine Nebenrolle. Der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht.
Enni machte das Licht aus, aber sogar im Dunkeln sah sie den Lehrer lächeln, mit geschlossenen Augen sah sie sich tanzen, eine Mädchenrolle, Julia, und den Lehrer strahlend auf der Bühne stehn.
Die Gedanken sprangen wie junge Hasen durch ihren Kopf, schlugen Haken, kehrten wieder dorthin zurück, wo sie schon einmal gewesen waren, machten Luftsprünge und halbe Drehungen, konnten nicht bremsen, vergnügten sich und hielten Enni vom Schlaf ab, aber das war nicht schlimm.
Daß die Angst plötzlich wieder kam, war schlimmer und wischte die schönen Gedanken weg. Sie tastete ihren Bauch ab, den Brustkorb und ihre Brüste, aber sie fand nichts; warum nur taten sie manchmal so weh, woher kam dieses Ziehen im Bauch. Sie mußte zum Arzt gehen. Aber wenn sie zum Arzt ging, fand er vielleicht etwas heraus; nein, sie würde warten. Sie drehte sich auf die Seite und faltete die Hände. Manchmal betete sie jetzt mehr AveMaria als VaterUnser. Irgendwann schlief sie dabei ein.


Die Stufen zur Ballettschule hinauf waren nicht hoch und es war leicht, drei Stufen auf einmal zu nehmen; es war außerdem gut für die Dehnung. Als Enni oben war, sah sie ihn nirgends. Gewöhnlich war sie am Mittwoch nie hier, deshalb wußte sie auch nicht, ob er da war. Sie lief den Gang entlang, blieb am ersten Übungssaal stehen und hörte die Stimme ihrer Ballettlehrerin, lauschte am zweiten Übungssaal, vernahm Musik und eine Männerstimme: und beugen, strecken, vor, und schließ, und beugen, strecken, vor, und schließ, dann hörte sie Hände klatschen. Die Musik brach ab; die Füße schauen wie kalt das Wasser ist, sagte die Stimme.
Die Zehen schauen wie kalt das Wasser ist, dachte Enni, nur die Zehen. Sie hörte kleine Mädchen kichern. Er war da.

Was machst du denn hier, fragte die Ballettlehrerin, als sie Enni sah.
Ich will mehr üben, sagte Enni.
Ok, sagte Frau Teubner, ok.
Ok, sagte sie immer, wenn sie sonst nichts mehr zu sagen hatte, aber auch nicht ganz zufrieden war mit dem, was sie sah und hörte.
Wirklich ok, fragte Enni, sie kannte Frau Teubner nun schon sieben Jahre.
Ja, komm, sagte Frau Teubner.
Ich will die Julia tanzen, sagte Enni.
Du?
Enni drehte sich weg. Sie wußte, daß Frau Teubner ihr das nicht zutraute. Niemand traute ihr wirklich viel zu.
Mario, dachte Enni.
Innerhalb eines Tages war „Mario“ zu einem wirklich geflügelten Wort geworden. Es hob ihr den Kopf, die Arme, sie wurde fünf Zentimeter größer oder noch mehr; sie wurde leicht. In ihrem Bauch kribbelte es, das tat nicht weh.


Am Tag, als Enni die Schnecke tottrat, bekam die Großmutter Schmerzen im Bauch. Sie ließen nicht wieder nach, sondern wurden immer stärker.
Enni dachte an Joschi und den Blinddarm, eine eigenartige Angst ließ sie im Wohnzimmer auf dem Sofa verharren. Sie konnte nicht allein sein. Sie saß auf dem Sofa, blätterte in der Tageszeitung, blätterte in einer der Krankengymnastikzeitschriften der Mutter und in einer Frauenzeitschrift, sie las einen Reisebericht über Island, Island mit dem Fahrrad, las einfach alles, weil sonst die Angst kam. Ab und zu zeigte Joschi ihr Szenen aus dem Lucky Luke, lachte sich krumm über den Comics, die sie nicht lustig fand und ging wieder in sein Zimmer. Wenn die Haut nicht so sehr juckte, war das Leben für Joschi einfach.
Oma geht es schlecht, sagte Enni irgendwann.
Vielleicht hat sie Blinddarm, sagte Joschi.
Dann riefen sie die Mutter in der Praxis an.
Nach der Mutter kam der Arzt, und nach dem Arzt kam der Krankenwagen und fuhr mit Blaulicht und der Großmutter wieder ab. Die Mutter folgte ihm mit ihrem grünen Auto.

Enni hatte zuvor noch nie eine Schnecke totgetreten oder sie wußte es nicht. Den Tod konnte man nicht rückgängig machen. Der Tod lauerte überall, Enni spürte ihn täglich, er wanderte durch ihren Körper wie ein Wurm. Wenn er im Kopf saß, kam die Angst.
Die Großmutter starb nicht.


Das Gute am Psychologen war, daß er eine Stunde nur für sie Zeit hatte, wenn sie kam, und sie konnte jederzeit anrufen. Er hörte zu und tat dabei nichts anderes; er sah, was sie machte und wollte es wissen. Sie hätte ihm gerne vorgetanzt. Manchmal zeichnete sie Schneckenhäuser für ihn, ganz realistisch, nur mit dem Bleistift und er hielt sie für begabt.
Was gefällt dir denn so an den Schnecken, fragte er.
Rosenfeld hatte ihn angerufen, weil Herr Kümmer Enni loswerden wollte.
Sie ist falsch hier, hatte Herr Kümmer zu den Eltern gesagt, aber das war schon, als Enni noch täglich die Schnecken im Fahrradkeller unterbrachte.
Sie ist richtig hier, hatte Rosenfeld gesagt.
Ich glaube, du bist schon richtig dort, hatte der Psychologe schon vor dem Test gesagt. Dir ist langweilig in der Schule, oder, hatte er Enni gefragt und das stimmte.
Nachdem der Test ausgewertet worden war, sagte Herr Kümmer nichts mehr und Rosenfeld freute sich.
Ihr ist langweilig in der Schule, sagte der Psychologe zu Ennis Vater.
Da muß sie durch, sagte der Vater, ich mußte das auch. Es gibt ja nicht nur die Schule.
Bei den Schnecken sind die Knochen gleichzeitig das Haus und der Sarg, sagte Enni zum Psychologen.


Mario war verheiratet mit einer Geigerin, aber er wollte sich von Enni nicht wegschicken lassen. Die Geigerin hieß Anna und war lang und schlank wie Enni, und ihre Haut sah aus wie die einer Porzellanpuppe. Rosig und makellos glatt, und Enni war erstaunt, daß ein Mensch so wenig wie ein lebendiger Mensch aussehen konnte. Sie schaute zu, wie die Puppe Mario auf den Mund küsste, wie sie dabei ihren Mund schürzte zu einer kleinen Blume, die sehr rot war, und nach dem Kuss war der Lippenstift nicht verschmiert.
Mario lächelte, wenn er die Geigerin sah, hallo Monika, sagte er, hielt sie rechts und links an den Armen, zog sie halb an sich, aber nicht ganz, und wenn Enni in der Nähe war, bemerkte sie, wie er danach zu ihr herüberschielte.

Nach der Freitagprobe von Romeo und Julia wartete Mario auf der Treppe vor den Proberäumen auf sie, um sie nach Hause zu fahren.
Ich fahre mit der Bahn, sagte Enni.
Ich fahr dich, sagte Mario.
Nur fahren, sagte Enni.
Klar, sagte Mario.
Enni zögerte, aber Mario hielt sich daran. Er fuhr nicht mehr mit ihr in der Ente aufs Feld. Er fuhr sie direkt vor die Haustür.
Seine Hände wanderten ihren Nacken hoch, hielten ihren Kopf zwischen den Händen und Enni fühlte seine Finger um ihren Hals. Sie rührte sich nicht, hob den Kopf leicht an, so daß der Hals schmaler und länger wurde, aber auch Marios Fingergriffe wurden fester.
Du Schöne, sagte er, während ihr Hals in seinen Händen festsaß, während der Hals sich die Freiheit wünschte und Enni an Mario vorbeisah. Er beugte sich zu ihr, ihren Hals immer noch fest im Griff und fuhr schnell mit der Zunge über ihre Lippen und für einen Moment in ihr Ohr hinein.
Dann ließ er sie los.
Enni senkte den Kopf, sie lächelte kurz, weil sie nicht unhöflich sein wollte, sie spürte die aufgestellten Härchen unter ihrem Pulli und stieg aus.
Tschüß, sagte Enni. Danke, sagte sie, obwohl sie das nicht sagen wollte, weil ihr das falsch vorkam.
Danke fürs Heimfahren, sagte sie.
Mein schönster Romeo, sagte Mario mit theatralischer Stimme, ich bitte dich, sagte er.
Dann schnatterte die Ente davon.

Die Übelkeit ging vom Ohr aus oder von den Lippen, sie strich ihr über die Brust, breitete sich im Kopf aus und im Bauch und mit ihr schlich sich die Angst ein, die Enni schon kannte, aber das änderte nichts, das verminderte nicht deren Wucht und das Zittern auch nicht, das von den Zähnen in den Kiefer wanderte, in die Arme, die Hände, in den Bauch und bis in die Beine. Alles in ihrem Körper war hart und weich zugleich, sie hörte sich zittern, sie hörte ihr Zähne klappern und spürte, wie die Beine nachgaben, sie konnte nicht mehr stehen und in ihrem Kopf war ein gewaltiger Schmerz. In ihrem Zimmer begann das Weinen, das niemand hören sollte.
Durch das Ohr kann man nicht schwanger werden, dachte Enni, durch das Ohr und den Mund, das geht nicht; sie wußte, daß der Gedanke verrückt war, sie wußte, daß sie das nicht denken durfte, daß das Unsinn war, sie wußte, daß es nicht sein konnte und doch war es so, es wurde möglich und die Angst fraß sich in diesem Gedanken fest, fraß sich in der Zunge von Mario fest, die sich in ihr Ohr gedrängt hatte, wie die Maus in ein Loch, wie eine Spinne in eine Bodenritze.
Sie dachte an die Schnecken, und daß das Schneckenhaus immer besetzt war durch die Schnecke selbst, und daß dort nicht einfach jeder hereinkonnte, daß dort nichts mehr hineinpaßte, dachte sie.
Einmal, als Kind, hatte sie sich eine Perle in das Nasenloch gesteckt, ganz weit nach oben geschoben, bis es nicht mehr ging und plötzlich war die Perle weg gewesen, und weil sie Angst bekommen hatte, war sie, nach der Mutter schreiend, durchs Haus gerannt, bis die Mutter vor ihr gestanden hatte.
Mit dem alten gelben Auto waren sie zum Arzt gefahren.
Die Perle kommt schon wieder heraus, du wirst es schon sehen, hatte der Arzt gesagt.
Irgendwann war die Perle beim Niesen tatsächlich wieder aus der Nase gestoßen worden, sie war herausgeschoßen gekommen wie ein Bolzen aus einem Blasrohr, aber bis es soweit gewesen war, hatte es lange gedauert.
Nun konnte sie nicht zur Mutter gehen und nicht zum Vater und nicht zum Arzt, weil sie nicht sagen konnte: ich bin von einer naßen Zunge geschwängert worden, ich habe eine Zunge im Ohr und sie geht nicht mehr heraus, sie wird sich immer weiter hineinbohren in mein Ohr und von dort aus weiter in meinen Kopf, meinen Bauch und dort sitzenbleiben, und daß das Zittern nicht aufhörte: das konnte sie nicht erzählen, sie würden sie für verrückt halten, das ging nicht, es war sogar ganz unmöglich. Es schüttelte sie, aber sie weinte nicht mehr, sie atmete tief durch, legte sich auf den Rücken, schlug die Beine übereinander, steckte sich die Mittelfinger in die Ohren; da war nichts anderes in den Ohren als die Knorpel, und ihre Finger hatten Platz. Mit den Augen wanderte sie an die Decke entlang, an Frau Teubner denken und nicht an Mario, dachte sie, in die Füße atmen, hörte sie die Ballettlehrerin sagen und erinnerte das kleine Mädchen, das sie vor nicht allzu langer Zeit gewesen war.
Als das Zittern nachließ, spürte sie, wie die Luft in sie hineinwanderte und durch sie hindurch. Baluba fiel ihr ein und sie sah die Buchstaben vor sich und wie wenig verschiedene Buchstaben dieses Wort hatte, und daß man die hintere Silbe mit der vorderen tauschen konnte und doch äußerlich alles unverändert blieb. Aber ob wirklich alles gleich bleiben würde, wenn man das machte?
Sie atmete, und in den Füßen glaubte sie die Luft zu spüren, sie nahm das Zimmer wieder wahr und sich auf dem Bett und sah den Buddha auf dem Schreibtisch im hellen Licht, als sie den Kopf drehte. Das Klingeln im Ohr hatte aufgehört.
Seit die Großmutter fast gestorben war, stand sie zum Glück nicht mehr jedes Mal auf, wenn Enni nach Hause kam.