Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Thomas Raab (Bild: ORF - Johannes Puch)
Thomas Raab
Einführung in die doppelte Buchhaltung

Wenn ein Unternehmer etwa dem Finanzamt gegenüber sein Vermögen [...] niedriger darstellen will, um sich der hohen Besteuerung zu entziehen, so wird er bewußt solche Buchführungsfehler begehen, die vermögens- oder gewinnschmälernde Auswirkungen haben. [...] Muß der Unternehmer hinge¬gen gegenüber einer Bank den Wert oder die Rentabilität seines Unterneh¬mens darlegen, etwa um nachzuweisen, daß er einen Kredit zu amortisieren vermag, so wird er – wenn es damit nicht aufs Beste bestellt ist – bemüht sein, [sein] Vermögen [...] höher erscheinen zu lassen, als es wirklich ist.

– A. Gnam und A. Sirch, Buchführungsschliche: Eine Systematik von Fehlern, die nicht mehr lohnen, Stuttgart: Forkel (1953), S. 30
Habenbuchungstext
Endlich kann Lucia ihren Weg auf die Bühne antreten. Energisch steht sie von ihrem Platz zwischen Lisa und Lydia auf dem Sofa im Backstageraum auf. Der Backstagekameramann versucht mit der mobilen Backstagekamera immer genau auf Lucias Gesicht zu bleiben. Ihr Körper schwingt, die lustigen – wie Lukas sagt – Augen funkeln im Lichte der Backstagescheinwerfer. Im Regieraum schaltet der Regisseur und Entwickler der Show einen computerunterstützten Bildfilter zu, sodass die Zuschauer vor den Fernsehschirmen den Eindruck einer Videoaufnahme bekommen. Der Filter funktioniert so, dass fünf Bilder pro Sekunde in regelmäßigen Zeitabständen eliminiert und nicht gesendet werden, sowie der Farbkontrast etwas verstärkt, während die Rasterpunktdichte reduziert wird. Lydia flüstert jetzt "Viel Glück!" und Lukas, der sowohl von der mobilen als auch der fixierten Backstagekamera aus gesehen drei Plätze rechts von Lucia auf dem Sofa sitzt, ruft "Jetzt geht's los!" Die fixierte Kamera war, wie immer, drauf bei diesem Rufen; der Regisseur und Entwickler wird es bei der nächstwöchigen Zusammenfassung der Ausscheidung dieser Woche zur Sendung kommen lassen können.
     Der Weg der Bildübertragung beginnt bei der Fernsehkamera. In ihr wird die mit einem Kameraobjektiv abgetastete Szene auf die lichtempfindliche Schicht der Abtaströhre projiziert, wo sie in ein elektrisches Ladungsbild umgewandelt wird. Dieses Ladungsbild muss dann verstärkt und aufbereitet werden, um schließlich die Kamera über ein Kabel zu verlassen und sich auf eine verwickelte Wanderung durch die Regie, Entwicklung und viele weitere hochkomplizierte Apparaturen bis zum Sender hin zu begeben. Vom Sender wird dann das Bild über die elektromagnetischen Wellen bis zu den oft sehr weit entfernten Fernsehzuschauern weiterbefördert.
     Verfolgt man die Live-Sendung auf einem Großbildfernseher, am besten von Sony, kann man jetzt die im Licht der Scheinwerfer funkelnden Lidschatten von Lucia sehen. Die kleinsten Lichtreflexionen blitzen in äußerst kleinen Zeitabständen mal rechts unten, mal links oben, mal in der Mitte von Lucias Lidschatten auf. Im Einklang mit ihren funkelnden Augen ergibt das einen sehr attraktiven, aber auch freundlichen Eindruck bei einer signifikanten Anzahl an Fernsehzuschauern, die sich gerade zuhause vor den Fernsehschirmen als Zielgruppe beschäftigen. In ihrem zivilen Leben studiert Lucia Volkswirtschaftslehre im dritten Semester. Sie hat den Cut-Off zum Hauptseminar "Einführung in die doppelte Buchhaltung" ohne Mühe geschafft, wie der Assistent aus dem Hauptseminar ihr auf Anfrage berichtet hat, denn am Institut für Volkswirtschaftslehre ist man zur Methode übergegangen, alle Prüfungsergebnisse nur noch nach den Kriterien "bestanden" oder "nicht bestanden" auf dem Aushang neben dem Institutseingang aufzulisten. Die Drop-Out-Rate ist im Fach Volkswirtschaftlehre seither um 6,7 Prozent gesunken.
     Lucia winkt im Vorübergehen genau dann in die mobile Backstagekamera, wenn das ausgehende Bildsignal im Regieraum auf die erste der beiden mobilen Bühnenkameras geschaltet wird. Dieser Vorgang wurde, wie Lukas in einer Pausenzuspielung berichtet haben wird, in den zehn Tagen vor der Aufzeichnung der Sendung diszipliniert geübt. Schon Lisa, die vor Lucia dran war, hat im Vorübergehen genau dann in die mobile Backstagekamera gewinkt, als das ausgehende Bildsignal im Regieraum auf die erste der beiden mobilen Bühnenkameras geschaltet wurde, und auch Lydia, die nach Lucia an der Reihe sein wird, wird dasselbe tun. Der Regisseur und Entwickler der Sendung, die vom Publikum ebenfalls "Casting-Show" genannt wird, hat – so Lukas – die ganze disziplinierte Probezeit hindurch betont, dass das Wichtigste fürs Gewinnen einer solchen Show die Betonung der eigenen Individualität sei. Lucia studiert, und das unterscheidet sie insbesondere von den Zielgruppen unter 18 und über 35, wobei letztere allerdings gerade mehrheitlich Sendungen auf anderen Kanälen verfolgt. Außerdem funkelten Lucias Augen immer so lustig, meinte der Regisseur und Entwickler Max Mustermann mehrmals in den letzten Tagen, was sie von den anderen Teilnehmerinnen unterscheide. Eben schaltet der Regisseur im Regieraum das Bildsignal auf die erste fixierte Bühnenzugangskamera.
     Das Fernsehsignal wird dem Sender vom Studio entweder über ein Kabel oder – sogar noch häufiger – über Relaisstrecken mit Hilfe der Zentimeterwellen zugeführt. Im Sender wird das Signal der Trägerwelle aufmoduliert. Die mit besonderen Hochleistungsröhren bestückte Endstufe des Senders liefert die erforderliche Hochfrequenzleistung, die über Koaxialkabel oder Wellenleiter den Antennen übermittelt wird. Die Antennen strahlen dann die ganze Leistung in den Raum aus.
     Lucias Glockenhosen sind aus dunkelbraunem Samt geschneidert, dessen Faltenspiel an der Kniepartie wunderbar mit dem Licht der eingesetzten Bühnenscheinwerfer harmoniert. Die länglichen Lichtreflexionen an den wenige Zentimeter langen Faltenscheiteln machen bei jedem Schritt Lucias Rotationsbewegungen um etwa zehn Grad, bevor sie augenblicklich verschwinden. Diese Lichtreflexionen sind groß genug, um in der Rasterpunktdichte von Großbildfernsehern für Normalsichtige, Brillen- und Linsenträgerinnen und -träger auf dem Schirm erkennbar zu bleiben oder, sollten diese nicht auf die Rotationsbewegungen achten, doch unterhalb der so genannten Bewusstseinsschwelle durch eine schwache Nervenerregung im Bereich des oberen Zweihügels sowie des angrenzenden zentralen Höhlengraus im Hirnstamm das globale Erregungsniveau aller Zuseherinnen und Zuseher leicht anzuheben, was der Regisseur und Entwickler der Show in einer kleineren, ans neurophysiologische Institut der hiesigen Universität vergebenen Pilotstudie testen ließ. In gewöhnlicher Redeweise des Unterhaltungsgeschäfts wird dieses beim so genannten Standardviewer erzeugte globale Erregungsniveau "Interesse" genannt, so die Studie.
     Auch in Lucias Leib ereignen sich nun einige Vorgänge, was die Mitarbeiter des neurophysiologischen Instituts der hiesigen Universität an der Steigerung der Herz- und Atemfrequenz sowie des elektrischen Hautwiderstands messen könnten. Die Lucias Schließmuskel steuernden Motoneurone wurden, schon lange bevor Lucia ihren Weg vom Backstageraum auf die Bühne angetreten hat, vom Hirnstamm her gehemmt. Lucias Leib befindet sich biologisch betrachtet in einer Notsituation, wirkt aber für die entfernten Fernsehzuschauer enthemmt. Sie lächelt von Innen heraus, wie Lukas immer sagt. Lucia ist eine sehr begabte Künstlerin, meint jetzt der Regisseur und Entwickler an seinem Schnittplatz.
     Die fünf im Abstand von 72 Grad zueinander montierten Decken-Powerscheinwerfer bringen zusammen 25 kW Leistung. Sie befinden sich in etwa 15 Metern Höhe, man befindet sich im Großen Sendesaal der öffentlich rechtlichen Fernsehanstalt. Die Bühne hat die Form eines fünfzackigen Sterns. Als Lucia im Hintergrund der Bühne auftaucht, braust im Großen Sendesaal Jubel auf. Sie hat einen wippenden Gang, wie Lukas sagt, und lacht über das ganze Gesicht. Ihr Busen ist wohlgeformt und schwingt. Lucia ist ein schönes Mädchen und studiert Volkswirtschaftslehre im dritten Semester, sagt die Moderatorin, die selbst ein schönes Mädchen ist und ihrerseits acht Semester Volkswirtschaftslehre studiert hat, bevor sie als Drop-Out die Arbeit beim Sender aufnahm.
     Die Magnetaufzeichnung von Lucias Porträt läuft ab. In dem vom Regisseur und Entwickler höchst selbst gestalteten Beitrag wird die Individualität Lucias in den Vordergrund gestellt. Lucia ist Studentin der Volkswirtschaftslehre. Ein Sender muss ein Signal ausstrahlen, das genau dem entspricht, auf das der Empfänger abgestimmt wurde. So muss jeder Empfänger, der beispielsweise in Japan hergestellt wurde, Fernsehsendungen im heißen Afrika genauso verlässlich empfangen wie etwa an der Küste des Nördlichen Eismeers, allerdings unter der Vorraussetzung, dass der Empfänger nach der entsprechenden Norm arbeitet. Jetzt blitzen im magnetaufgezeichneten Porträt Lucias Augen auf, was vom Bildbearbeiter allerdings zuvor bearbeitet worden ist.
     Alle Scheinwerfer gehen an. Sie erzeugen Lichtkegel im Raum über der Bühne, die durch die Luftfeuchtigkeit im Sendesaal bedingt sind, welche thermostatisch auf einen geeigneten Normwert reguliert wird. Lucia blickt kurz in den für das Publikum verdeckten Bühnenmonitor und sieht dort wohl ihre Augen und Hosen funkeln. Der Regisseur und Entwickler drückt eine Taste und das Playback beginnt zu laufen.
    
    
     Sollbuchungstext
    
     Werde ich siegen? Werd ich es schaffen? Wir suchen Menschen, die weiter wachsen wollen, hat der Mustermann, der hier Regie und Entwicklung macht, am Anfang gesagt. Und ich will weiter wachsen! Um jeden Preis. Die Ökonomie ist eine defensive Differenzierung des äußeren Drucks auf die ökologische Nische Mensch, der durch die von anderen Spezies ausgehenden Gefährdung und Naturgewalten aller Art entsteht. Jetzt muss ich los, die MAZ mit meinem Porträt läuft, wie ich auf dem kleinen Monitor neben der fixierten Backstagekamera sehe.
     Was kaum jemand weiß (Lukas zum Beispiel sicher nicht), ist, dass sowohl Dieter Bohlen als auch Arnold Schwarzenegger Wirtschaft studiert haben. Habe beider Biografien eindringlich studiert und bin, natürlich über das, was zwischen den Zeilen steht, und nicht über das, was dort drinnen zu lesen ist, zur Einsicht gelangt, dass sie ihre Karriere minutiös geplant haben. Ich finde sowohl Dieter Bohlen als auch Arnold Schwarzenegger ziemlich bescheuert, aber sie haben es zumindest geschafft. Habe den Eindruck, die meisten hier glauben, sie könnten durch Talent oder Einsatz und Disziplin zum Ziel gelangen oder indem sie mit irgendeinem dieser Westentaschenmanager schlafen, die hier in Scharen dauernd um uns herumschwänzeln. Studium der Schwanzanatomie im mittleren Management sozusagen. Es ist mir ganz klar, dass ich mit meinem Studium einen Selektionsvorteil habe. Die planvolle Ökonomie im modern–demokratischen Sinn soll innerhalb einer beobachteten Gesellschaftsformation Freiräume erwirtschaften, in denen technisch umsetzbares Wissen generiert werden kann, das wiederum zur weiteren Absicherung der ökologischen Nische dienen soll. Wäre nur meine neue Haarfarbe besser gelungen!
     Habe zuviel getrunken in den letzten Tagen. Zwar nur Whisky-Sour, die der Mustermann, der hier Regie und Entwicklung macht, immer springen lässt und die Red-Bull-Wodkas, auf die mich Lukas so gerne einlädt, wenn wir nach den Proben bis zwei Uhr früh die Stadt unsicher machen. Aber trotzdem merke ich, dass ich im Unterhaltungsgeschäft verdammt aufpassen muss. Ich, die Aktiengesellschaft. Deshalb wird bei meiner Interessenslage das Motiv, meine Vorzüge größer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind, immer mit der Abwägung verbunden sein, ob der jeweilige Vorteil, den ich durch eine übertriebene Darstellung meiner Vorzüge erziele, den Nachteil einer höheren steuerlichen Belastung überwiegt. Bin körperlich einfach nicht so gut beisammen, wie sonst, wenn ich jeden Tag im Fitnesscenter "hopse", wie Lukas sich ausdrückt. Mein rechter Schuh drückt im Bereich kleiner Zeh. Ich werd's schaffen, ganz klar.
     Körperlich bin ich die Beste der Kandidatinnen. Lisa hat einen zu kleinen Busen und einen zu großen Arsch, Lucky einen zu großen Busen und einen zu kleinen Arsch, und Lydia hat überhaupt keinen Busen und gar keinen Arsch. Dafür hat sie einen besseren Teint. Lisas Vorteil ist diese irre blonde Mähne, die sie durch die Windmaschine links neben der Bühne voll zur Geltung bringen kann. Lucky hat, soweit ich sehen kann, keinen Vorteil, außer dass sie wirklich singen kann. Ist auf dem Konservatorium, diese Angeberin. Wusste gar nicht, was ein Konservatorium ist, aber Tina, die Visagistin, hat es mir erklärt. Sie muss es ja wissen, weil sie selber dort studiert hat früher – allerdings Komposition, wenn ich mich recht erinnere. Soll und Haben müssen immer und unter allen Umständen Null ergeben. Ich glaube, Lisa, Lydia und Lucky haben keinen Sex.
     Es ist wichtig, mehrere Standbeine im Leben zu haben. Hier allerdings haben alle Kandidaten mehrere Standbeine, schließlich sind wir alle durch eine aufwändige Vorausscheidung gegangen und stellen daher die Elite dar. Meine Handflächen sind nass. Verdammt noch mal, hier geht es um Pop, und ich bin Pop! Warum muss ich nur so aufgeregt sein? Ich bin doch schon Pop und werde es schaffen, so oder so. Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. Der Kapitalist passt auf, dass die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel zweckgemäß verwandt werden, also kein Rohmaterial vergeudet und das Arbeitsinstrument geschont, d.h. nur so weit zerstört wird, als sein Gebrauch in der Arbeit ernötigt. Hoffentlich bricht meine Stimme nicht wieder beim hohen F, so wie bei der Generalprobe. Ich bin Pop, Rohmaterial, das durch die Kultur erst zu einem für die Gesellschaft unerlässlichen Wert geformt wird. Sitzt mein schwarzer Ärmel von Yves Saint Laurent noch richtig?
     Lukas ist ein hinterhältiges Schwein. Habe das gestern ganz klar gesehen, als ich versuchte herauszufinden, ob er es ernst meint mit seinem Auftritt, und er nur doofe Stehsätze rausbrachte. Der ökonomische Außendruck auf die ökologische Nische Mensch setzt sich insofern innerhalb der Nische fort, als er dort vormenschliche Hirnstrukturen anspricht, derer wir als Emotionen gewahr werden. Lukas hat recht kokett gelacht trotzdem. Ich glaube, er will mit mir schlafen.
     Erhasche einen kurzen Blick auf den Monitor, der etwa auf dem halben Weg zur Bühne rechts neben dem Bühnenzugang montiert ist. Gott, schau ich gut aus! Danke, Tina! Die Reduktion des Außendrucks auf die ökologische Nische Mensch durch Technik macht also Emotionen mittelfristig zwecklos; die Unterhaltungsindustrie mit ihrem Rekurs auf spontane Gefühle verkörpert demnach ein sentimental antimodernes Spektakel. Meine Hose klemmt ein bisschen im Schritt, wie ich merke. Diese Scheißkostümleute sind die einzigen Unprofessionellen hier. Herz, Seele und Professionalität – das sind die drei Faktoren zum Sieg, hat der Mustermann gesagt, und ich glaube, er hat recht. Diese ganzen Volkswirtschaftler, inklusive dem Assistenten aus dem Hauptseminar, wissen nicht halb soviel wie er über Erfolg. Man darf nicht zu spontan sein, hat er zum Beispiel gesagt, und das stimmt, kein Zweifel. Ich werde rocken!
     Ich muss besser da stehen. Das Make-up habe ich natürlich dank Tina, der Visagistin, stark verbessern können. Trage auf einem Auge blauen, auf dem andern leicht ins grünliche gehenden Lidschatten. Außerdem haben die im Sender nur die teuersten Kajals, das macht an sich schon einiges aus. Kunst und Wissenschaft nehmen im Rahmen der heutigen Makroökonomie einen durch die Gesellschaft finanzierten Freiraum ein, in dem durch die im Staatsgrundgesetz festgeschriebene Freiheit der Kunst und Wissenschaft untergeordnete Gesetze wie die des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht mit aller Strenge exekutiert werden. Yves Saint Laurent: Wenn Tina diesen Namen ausspricht, zittert ihre Oberlippe immer ein bisschen. Ich glaube, sie will mit mir schlafen.
     Meine Schritte wanken, kommt mir vor. Dieser Gang, der zur Bühne führt, kam mir bei der Generalprobe viel kürzer vor. Gott, es ist, als müsste ich sterben. Lampenfieber. Der Weg an die Spitze ist hart, aber man kann ihn schaffen, wenn man einen eisernen Willen hat. Naja, das Studium werd ich ohnehin schmeißen. Volkswirtschaftslehre, was für ein altmodischer Quatsch! Hier geht's um alles. Hier und jetzt. Es geht darum, ein Star zu sein und dem Publikum etwas zu schenken, damit sie besser schlafen können. Miteinander schlafen. Meine Gedanken sind flüchtig. Lieber an den Event und sein Umfeld denken ...
     Am besten finde ich in diesem Scheißhaufen eigentlich noch den Max Mustermann. Lässt zwar dauernd sexistische Sprüche vom Stapel und sitzt mit seinem fetten Arsch auf den Milliarden der Bertelsmanngruppe, aber immerhin ist er nicht so verlogen wie Lukas. Er nennt es eine demokratische Errungenschaft, dass zum ersten Mal in der Naturgeschichte des Menschen ein wohlgeformter Hintern – ja, so sagt er – ausreicht, um die Berufsbezeichnung "Künstler" für sich zu beanspruchen. Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei; so steht es im Gesetz. Jetzt bin ich gleich auf der Bühne. Mein Gott, werde ich es schaffen? Sitzt meine Frisur noch? Gerade war alles noch paletti, wie ich in dem kleinen Schminkspiegel feststellen konnte, der im Yves Saint Laurent-Lippenstift genialer Weise an einem Ende kaschiert eingebaut ist. Ich will mit Max schlafen, ich mag seine tiefe Stimme.
     Im Grunde sieht Leon ja besser aus als Lukas. Aber er ist einfach ziemlich arrogant. Hat schon mal irgendeine Wurstrolle in irgend einem Musical gespielt, und das scheint ihn wirklich überheblich gemacht zu haben. Gut, mit dreizehn ist das schon etwas. Sieht wirklich fantastisch aus. So natürlich. Echte schwarze Locken bis zu den Schultern. Schwarz! Das muss man sich mal vorstellen. Ich hingegen mit diesen dünnen brünetten Federn, die noch dazu einen Graustich haben. Soll und Haben müssen in der doppelten Buchhaltung inklusive Saldo immer Null ergeben. Zum Glück hat mir Tina empfohlen, die Haare rot zu färben. Ich hab richtiggehend bemerkt, dass ich durch dieses Färben mehr Selbstbewusstsein bekommen habe, auch wenn die Farbe noch nicht optimal wirkt. Gehe jetzt auch viel aufrechter, und die Handbewegungen in der Solochoreografie, die mir immer soviel Schwierigkeiten gemacht haben, funktionieren plötzlich wie von selbst. Die Choreografie unsres gemeinsamen Auftritts ist auch Spitze, weil ich da immer den direkten Ausblick auf Leons süßen dreizehnjährigen Hintern habe. Eigentlich glaub ich ja, dass ich lesbisch bin.
     Tina glaubt das, glaube ich, auch. Sie streichelt mit ihrem Handrücken immer auffälligst über meine Wange, wenn sie mir meine neue rote Locke über dem rechten Auge vor einer wichtigen Probe oder dem Auftritt zurechtbiegt. Ihr Handrücken ist meistens ziemlich kalt; das mag ich nicht besonders. Leon zum Beispiel hat immer warme Hände. Der Mann, na ja, der Junge ist schon ein echter Profi. Die Steuerung sexueller Impulse ist im Börsenkapitalismus durch unmittelbar in Geld oder Erkenntnispotential umrechenbare gesellschaftliche Rollen bestimmt. Ich mag nicht mit Tina schlafen, weil ich keine Zeit habe. Obwohl – nett ist sie schon. Um Himmels Willen, jetzt steh ich gleich vorne. Ich sehe die Leute aus dem Hauptseminar in der zweiten Reihe rechts sitzen. Jetzt reißen sie ein Transparent hoch. Ich kann nichts mehr sehen, weil mich die Scheinwerfer blenden. Habe seit drei Monaten keinen Sex mehr, weil ich erst singen lernen muss.
     Ich kann gar nicht singen. Jetzt, ausgerechnet jetzt muss mir das einfallen. Der Applaus brandet auf. Irgendein Irrer in der ersten Reihe links hat sich sein Hemd vom Oberkörper gerissen. Ich fasse es nicht, dass ist doch dieser Assistent aus dem Buchhaltungshauptseminar! Nein, doch nicht, das ist mein Bruder. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Ich bin besser als die anderen, ich bin großartig, ich ... Scheiße, wo ist denn überhaupt das Mikro? Jetzt aber ... O Gott, das Playback ist an ...
    
    
    
     Habensaldo (Übertrag)
    
     6,7 Publikumswertung; die Juroren auf der Bank (zwei Männer, eine Frau) recht gutmütig in ihrer mündlichen Bewertung. Solides Mittelfeld. Lucia wird es wohl nicht ins Finale schaffen. Dabei sein war einmal alles. Man harrt der Dinge im Backstageraum. Lukas sitzt wieder drei Plätze rechts von Lucia, die zwischen Lisa und Lydia sitzt. Lucky wird den Ton getroffen haben und sitzt jetzt rechts der Moderatorin. Diese ist gut ausgestattet und verdient 6.767 Euro plus Urlaubs- und Weihnachtsgeld und hat eine private Rentenvorsorge, die ihr ein Leben weit weg ermöglichen soll. Das wird natürlich nicht möglich sein, da zwischen dem heißen Afrika und dem Nördlichen Eismeer alles derselben Norm entspricht. Die Schönheit der Norm resultiert daraus, dass ihr in ihrer Entwicklung keine moralischen Grenzen gesetzt sind.
     Lucky weint schon mal. Für sie steht am meisten auf dem Spiel, hat sie doch einen Ruf zu verlieren. Lucky hat nur ein Standbein im Leben, und das nennt man Singen. Singen wurde in alten Bilanzen unter Kunst verbucht; heute hat man dieses Konto im Konto Unterhaltung aufgehen lassen. Innerhalb moderner Volkswirtschaften scheint Kunst obsolet, da sie keine oder kaum mehr Hilfe bei der Generierung von anwendbarem Wissen leistet. Fernsehen bietet großen Firmen, die große Abschreibungen brauchen, jede Menge wirksame Werbefläche, sagt der Regisseur und Entwickler der Sendung gerade zu einem Schnittassistenten. Die Avantgarde von heute findet in den Naturwissenschaften statt. Von ihr bekommt das Publikum im Fernsehen gottlob nichts zu sehen.
     Die Entscheidung naht. Die Publikumswertung erfolgt per Telefon oder SMS über bezahlte Dienste der Telekom, die ein Hauptsponsor der Show ist. Die anderen Sponsoren, ohne die ein solches Ereignis gar nicht möglich wäre, kommen aus den Branchen Bekleidung, Fernsehtechnik, Printmedien und Elektronik. Des weiteren wird den Großeltern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Entwicklern, Regisseuren sowie dem Publikum zu danken sein, das durch seine zahlreichen Anrufe und SMS nicht nur eine objektivierte Entscheidung gefällt, sondern auch einen Impuls für die Volkswirtschaft gegeben hat. Das Publikum repräsentiert den demokratischen Aspekt der Veranstaltung und ist an sich vollkommen bedeutungslos.