Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Rolf Schönlau (Bild: ORRF)
Rolf Schönlau
Nummer 9

Bei Einbruch der Dämmerung verließ Nölting noch einmal das Haus, die Aktentasche unter den Arm geklemmt, als ginge er ins Amt oder in die Bibliothek. Durch das dünne Leder zeichneten sich die Konturen einer Flasche ab. Wahrscheinlich die Weinflasche, mit der er vom Abendessen zurückkam, dachte Frau Arendt, und da ihr Nachbar sich schon den ganzen Tag über ausgesprochen seltsam benommen hatte, lief sie ihm kurz entschlossen hinterher.
    Was den Inhalt der Tasche betraf, sah sie sich in ihrer Vermutung bestätigt, denn Nölting steuerte auf den Marktplatz zu, verlangsamte dort seine Schritte, blieb kurz stehen, neigte die Aktentasche, aus der der Hals der Weinflasche hervorlugte, schräg nach vorne und besprenkelte das Pflaster mit dem Wein. Eine Handlung, die er alle paar Meter wiederholte, ganz als vollzöge er ein geheimes Ritual, bei dem es einen bestimmten Ort zu finden galt, denn seine mit Wein markierten Wege führten immer wieder ins Zentrum des Platzes zurück, zu einer Stelle etwa auf Höhe der Rathaustreppe, wo das Pflaster alsbald nass zu glänzen anfing.
    Um nicht ertappt zu werden, schlich Frau Arendt auf Umwegen zurück in die Meierstraße, denn es kam ihr anstößig vor, Zeuge einer Handlung geworden zu sein, die Zweifel aufwarf, ob ihr Nachbar noch seine fünf Sinne beisammenhatte. Doch selbst wenn sie Heinrich-August Nölting nach dem Grund seines Tuns gefragt und er ihr ehrliche Auskunft erteilt hätte, dürfte ihr Urteil über seinen Geisteszustand kaum gnädiger ausgefallen sein.
    Nölting, der sonst Biertrinker war, hatte am Abend eine Flasche Wein zum Essen bestellt und sie mehr als halbvoll zum Feiern mit nach Hause genommen, weil die Findkunst eine glückliche Wendung genommen habe, wie er dem Kellner gegenüber erklärt hatte. Selbstverständlich ohne ihm im einzelnen auseinanderzusetzen, dass der Wein den Quellnymphen zugedacht war, denen er ein Dankopfer schuldete. Dass nun gerade der Marktplatz sich als Opferstätte eignete, verdankte sich den besonderen Umständen, unter denen Nölting fündig geworden war.
    Die Quelle seiner Inspiration, ein Buch über musikalische Inventionen, stammte nämlich, wie er dem Exlibris entnommen hatte, aus der Privatbibliothek der 1883 verstorbenen Frau Hofjägermeister Auguste von Donop, die ihre Sammlung der Landesbibliothek vermacht hatte. Diese Dame hatte mit ihrem Vermögen eine großzügige Stiftung ausgesetzt, die unter anderem zum Bau einer Wasserleitung verwendet werden sollte - die Zeitungen hatten darüber berichtet - einer Wasserleitung, die die Stadt mit dem Quellwasser der Berlebecke versorgen und, hier schloss sich der Kreis, die notwendige Voraussetzung für einen Brunnen schaffen würde, der laut Testament ebenfalls zu errichten war, und zwar auf dem Marktplatz.
    Nach dem Dankopfer, denn dass die Nymphen diesen Ort vielfacher Quellen einstmals schätzen würden, daran bestand kein Zweifel, nach dem erfolgreichen Dankopfer also kehrte Nölting derart beseligt nach Hause zurück, dass er selbst Frau Arendt, die ihn mit unverhohlenem Spott musterte, eine gute Nacht wünschte.
    Am nächsten Morgen verließ Nölting zur gewohnten Uhrzeit das Haus. Statt jedoch wie üblich den Weg zur Bibliothek einzuschlagen, ging er auf der Langen Straße Richtung Neustadt und betrat wenige Minuten später das Schreibwarengeschäft am Hornschen Tor, um sich eine große Rolle Pergamentpapier und zwei Schachteln Reißzwecken zu besorgen.
    Wieder zu Hause angekommen, begann er die beiden Fenster seines Arbeitszimmers mit dem weißlichtrüben Papier zu bespannen, sehr zum Verdruss von Frau Arendts, der nun der Einblick in das Zimmer verwehrt war. Ein Affront, der sie so erzürnte, dass sie, wie zur Vergeltung, der ganzen Nachbarschaft erzählte, was Herr Nölting am Vorabend auf dem Marktplatz gemacht hatte. Dabei war die Fensterbespannung nicht einmal gegen Frau Arendt persönlich gerichtet, denn der Sichtschutz war nur unbeabsichtigter Nebeneffekt einer Maßnahme, deren eigentlicher Zweck darin bestand, das Arbeitszimmer vor der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen, die ungünstige Bedingungen für die Ausübung der Findkunst schuf.
    Kamen nämlich die Erfindungen, wie Nölting erkannt zu haben glaubte, von ungefähr, dann mussten sich Dämmerung und Zwielicht, Bewölkung und Nebel, also diffuses Licht positiv im Sinne einer Steigerung der Empfangsbereitschaft auswirken. Um diese Hypothese im Selbstversuch zu überprüfen, baute Nölting sein Arbeitszimmer zum Laboratorium um, zu seiner „Erfindungskammer“ - ein Begriff, der ihm so gut gefiel, dass er gleich ein Schild malte und es draußen an die Zimmertür heftete.
    Die Beeinflussung der Lichtverhältnisse war nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Gestaltung der idealen „Umstände und Bedingungen zur Herstellung eines neuen Verfahrens zur Herstellung von etwas Unbekanntem“, wie Nölting sein Vorhaben, so genau wie umständlich, in seinem ersten Bericht an das Ministerium umschrieben hatte. Zu den äußeren Umständen, dem Ausschluss des direkten Sonnenlichtes, mussten sich entsprechende innere Bedingungen gesellen, die es ihm erlaubten, seine Konzentration konstant zu halten und zwar auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau, um jederzeit offen zu sein für Erfindungen, die, seiner Arbeitshypothese entsprechend, auf einmal und von ungefähr kamen.
    Die Kunst bestand darin, nicht auf vorschnelle Lösungen zu verfallen, so dass sich das Unvorhergesehene einstellen konnte. Als Modell für die schwebende Aufmerksamkeit mochte der Ammenschlaf dienen, der bis auf wenige ausgewählte Signale durchlässig war für alle Arten von Störungen. Doch die Arbeit auf vermindertem Aufmerksamkeitsniveau erforderte allerhöchste Konzentration. In einem Zustand quälender Lustlosigkeit und Langeweile auszuharren und der süßen Verführung des Abschweifens zu widerstehen, war ein auf Dauer aussichtsloses Unterfangen.
    So saß Nölting, abgesehen von der kurzen Mittagspause, den ganzen Tag an seinem Schreibtisch und blickte ins Trübe, was für einen ahnungslosen Beobachter wie ein Beamtenschlaf aussehen mochte, in Wahrheit aber eine Übung in der Kunst des empfangsbereiten Dösens war. Zwar erwies sich der Erfindungsschlaf als durchlässig für vielerlei Geräusche, leider jedoch nicht für das nachmittägliche Klopfen des Pedells, eine Störung, die Nölting als so lästig empfand, dass er diesen gleich unten an der Haustür abfertigte, indem er ihm wortlos den vorbereiteten Bericht für Ministerialinspektor Brüning in die Hand drückte.
    Nun war Kanne eine solche Behandlung von Seiten anderer Regierungsbeamter durchaus gewohnt, aber eben nicht von Herrn Nölting, so dass er noch einmal zu dessen Arbeitszimmer hochsah, bevor er seine Tour fortsetzte, und spätestens da mussten ihm die blinden Fenstergläser aufgefallen sein, wenn er sie nicht schon vorher wahrgenommen hatte, ohne der Beobachtung Bedeutung beizumessen. Frau Arendt, die nie versäumte aus dem Fenster zu schauen, wenn der Pedell kam, rief zu ihm hinunter, man müsse sich langsam Gedanken machen über Herrn Nölting.
    Der Pedell nickte, sah noch einmal zu den blinden Fenstern hoch und wiegte bedenklich den Kopf. Er schien Frau Arendts Sorge um den Zustand des ehemaligen Registrators zu teilen, aber auch ihre Enttäuschung darüber, dass sie auf einmal so völlig ausgeschlossen war von dem, was im Haus gegenüber geschah. Als sie ihm dann, immer noch aus dem Fenster gebeugt, von Nöltings nächtlichem Treiben erzählte, berührte das den Pedell so persönlich, dass er einen Moment lang seine dienstliche Haltung verlor, was Frau Arendt ermunterte, ihn, eine Amtsperson, zu fragen, an wen denn der Brief gerichtet sei, den er die ganze Zeit über wie verloren in der Hand hielt.
    Der Pedell zuckte zusammen, wurde wieder ganz stramm, verstaute den Brief in der Aktenkarre, nahm sein Vehikel auf und schob es mit festem Schritt zum Ausgang der Meierstraße, als wollte er die Abschweifung unverzüglich wieder gutmachen.
    Sooft Frau Arendt in den folgenden Tagen auch zu Nöltings Haus hinüberschaute, an den weißlichtrüben Scheiben der linken beiden Fenster im ersten Stock prallte ihr Blick ab. Auch blieb es dabei, dass der Pedell unten an der Haustür abgefertigt wurde. Nölting selbst ging nur einmal am Tag aus dem Haus, abends kurz vor sieben, um in der Arminius-Halle sein Abendessen einzunehmen, was nicht mehr als eine halbe Stunde dauerte, so dass er schon gegen halb acht Uhr zurückkehrte und sich sofort wieder an die Arbeit machte. Das vermutete jedenfalls Frau Arendt, denn noch bevor es ganz dunkel wurde, ging drinnen Licht an, und seine Silhouette zeichnete sich schemenhaft im Fensterkreuz ab, dazu mehrfach gegeneinander verschoben, denn er stellte wohl nicht nur eine Lichtquelle auf.
    Frau Arendt versäumte dieses Schattenspiel keinen Abend, bot es doch die einzige Gelegenheit, eine Ahnung davon zu bekommen, was Heinrich-August Nölting in seiner Erfindungskammer trieb. Von dem Schild an der Tür wusste sie durch Ostmanns Minna, der einzigen Person, die noch Zutritt hatte zum Haus. Minna kam ein- bis zweimal wöchentlich vorbei, um im Haushalt nach dem Rechten zu sehen, ein bisschen aufzuräumen, Wasser von der Standpumpe zu holen und das Wenige einzukaufen, das der alte Herr zum Frühstück und Mittagessen benötigte.
    Sie machte das aus freien Stücken, von Bezahlung wollte sie nichts wissen, denn sie war eines der ersten Kinder gewesen, die Nöltings verstorbene Frau Pauline auf die Welt geholt hatte. Eine schwere Geburt, die Mutter war nach der Entbindung gestorben, und die Kleine war stumm, und als dann später auch noch der Vater starb, hatte sich Pauline ihrer angenommen und dafür gesorgt, dass Minna als Zimmermädchen im Hotel Odeon in der Hornschen Straße in Stellung gekommen war. Als Dank dafür ließ es sich die inzwischen fast 40jährige Jungfer nicht nehmen, ein wenig für den Witwer zu sorgen, der sich das auch gern gefallen ließ, allein schon, um Paulines Andenken in Ehren zu halten.
    Minna hatte bei ihrem letzten Besuch wie gewöhnlich auch im Arbeitszimmer saubermachen wollen, als ihr Herr Nölting, ganz gegen seine sonstige Art, den Eintritt verwehrt und mit gewichtiger Miene, als verberge sich ein Staatsgeheimnis hinter der Tür, auf das Schild gedeutet hatte, das ihr zuvor noch gar nicht aufgefallen war. Diese Begebenheit hatte Minna nicht für sich behalten können und einem befreundeten Zimmermädchen im Hotel davon berichtet, halb schriftlich und halb in Gebärdensprache, und da dieses Mädchen am unteren Ende der Meierstraße wohnte, kurz vor der Stadtmauer, war es nicht weiter verwunderlich, dass Frau Arendt noch am selben Tag Kenntnis erhalten hatte von Herrn Nöltings Erfindungskammer.
    Wer gesehen hätte, wie dieser an seinem Arbeitstisch saß, statuarisch, den Blick unverwandt auf das opake Fenster gerichtet, einen frisch gespitzten Bleistift in der Linken, den er auf eine Art hielt, die weniger zum Schreiben als zum Verzeichnen geeignet war, zum Festhalten der flüchtigen Einfälle, die von ungefähr kommen sollten, der hätte unwillkürlich an eine Apparatur gedacht, vielleicht an einen Seismographen, denn wie jenes Instrument war auch Nölting bestrebt, Erschütterungen und Erregungen zu registrieren, Vorgänge, die sich im Verborgenen vorbereiteten, um plötzlich und vollständig, eben auf einmal durchzuschlagen. Berufsbezeichnung: Seismograph. Nölting musste laut lachen. Wie Photograph, würde er hinzufügen müssen, um seinen verdutzten Gesprächspartnern auf die Sprünge zu helfen.
     Von entscheidender Bedeutung war die Haltung des Bleistiftes, seiner Nadel, die mit gespannter Leichtigkeit - mit links - auf dem Papier aufzuliegen hatte. So absolvierte Nölting stundenlange Sitzungen im empfangsbereiten Dösen, eine Übung, die nur unterbrochen wurde, wenn er den Bleistift anleckte, was häufiger als nötig geschah, denn zum Dämmerschlaf hin verlief nur ein schmaler Grat, den er auch immer wieder hinabzustürzen drohte, wobei ihm der Bleistift entglitt und krakelige Zeichen auf dem Papier hinterließ.
    Er hatte bereits sechs dieser täglichen Laborberichte, wie er sie bei sich nannte, an der Wand hängen, da klopfte es lauter als gewöhnlich, denn Kanne hatte die Nachricht zu überbringen, Registrator Nölting möge am nächsten Morgen bei Herrn Ministerialsekretär von Kaven im Ministerium vorsprechen.
    
    „Worauf sitzen Sie an?“
    Nölting verstand nicht recht, was Herr von Kaven mit der Frage meinte.
    Worauf er ansitze?
    Ja, erläuterte der Ministerialsekretär, was Herr Nölting über seine Sitzungen in der Erfindungskammer berichtet habe, erinnere ihn, von Kaven, sehr an sein Hobby. Er sei passionierter Jäger, und in der Jägerei sitze man auf der Kanzel an, auf die man sich frühmorgens im Schutze der letzten Dunkelheit geschlichen habe, und warte auf Wild, exakt in jenem halbwachen Zustand, den Nölting so vortrefflich mit dem Ammenschlaf verglichen habe. Worauf der Herr Registrator also ansitze?
    „Na, auf Erfindungen“, antwortete der Gefragte postwendend. Er sitze auf Erfindungen an.
     „Also doch!“
    Als wäre damit alles gesagt, lehnte sich von Kaven in seinem Arbeitssessel zurück und faltete die Hände, wobei er die gestreckten Zeigefinger gegeneinander drückte und an die leicht geschürzten Lippen führte. Eine Pose, die ihre Wirkung nicht verfehlte, denn der Registrator wagte nicht, von sich aus das Wort zu ergreifen.
    Demnach, fuhr der Ministerialsekretär fort, und bevor er seine Schlussfolgerung zog, senkte er die Hände und lehnte die immer noch gestreckten Zeigefinger an die Tischkante - demnach glaube Nölting wohl doch nicht, dass es jetzt, nach der Erfindung des Automobils, nichts mehr zu erfinden gebe?
    Die Erfindungen, auf die er ansitze, antwortete Nölting sichtlich erregt, die bezögen sich lediglich auf das Verfahren, es gehe nur mehr um die Methode - das Wie der Findkunst. Wenn die Umstände und Bedingungen zur Herstellung eines neuen Verfahrens zur Herstellung von etwas Unbekanntem erst im einzelnen bestimmt seien, wenn also, mit anderen Worten, seine Erfindungskammer fertig gestellt sei, habe das Zeitalter der Erfindungen sein natürliches Ende gefunden.
    Von Kaven nickte, er verstehe schon, wovon Nölting träume: Von einer absoluten Erfindung, von einer endgültigen Erfindung der Erfindungen, denn, wenn er ihn recht verstehe, gehe es um die Erschaffung einer Maschine, die den ganzen Akt des Erfindens noch einmal im Modell nachbaue. Damit erfahre der in seinem Kern dunkle Vorgang eine Aufklärung. Wenn man so wolle, werde das Erfinden sich in der Nöltingschen Erfindungskammer, wenn er den Versuchsaufbau einmal so nennen dürfe, seiner selbst bewusst. Der Ministerialsekretär war viel zu sehr vom Schwung seiner eigenen Rede ergriffen, als dass er bemerkt hätte, wie verständnislos der Registrator ihn anschaute.
    Ein unerhörter Versuch sei so etwas, fuhr von Kaven in philosophischem Überschwang fort, ein Vorhaben, das selbstverständlich nur scheitern könne, aber nichtsdestoweniger den allergrößten Respekt verdiene, zumal das Bewusstsein vom notwendigen Scheitern dem Vorhaben von Beginn an eingeschrieben sei. Wie heiße es doch gleich in den ersten Aufzeichnungen? Von Kaven öffnete die Akte, die auf seinem Schreibtisch bereitlag, holte ein Blatt hervor und las voller Pathos: „Was zu tun bleibt, ist, etwas zu versuchen, das von vornherein unmöglich ist: Eine Theorie der Erfindungen.“
     Nölting wusste nichts zu erwidern und rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Wieder war es der Ministerialsekretär, der das Wort ergriff, diesmal jedoch mit betont nüchterner Stimme: Wie sein Vergleich mit der Jägerei schon ausgedrückt habe, handele es sich doch recht eigentlich um ein Hobby, das Nölting betreibe. Ein Hobby, das weit in die Kunst hinüberreiche, was er ja in seiner ersten Stellungnahme mit dem Begriff Findkunst habe zum Ausdruck bringen wollen. Dann räusperte sich von Kaven, richtete sich in seinem Sessel auf und war wieder ganz hoher Beamter seines Fürsten. Kurz und gut, die Sache sei die, er könne Nöltings Freistellung vom normalen Dienst beim besten Willen nicht länger vor dem Minister vertreten, und seine Durchlaucht, Fürst Woldemar verfolge ja, wie man wisse, einen äh, sehr ökonomischen Kurs, was die Ausgaben für die Künste angehe. Man möge nur an das Theater und die Hofkapelle denken, die schon seit Jahren keine finanzielle Unterstützung mehr erhielten. Es stelle sich also die Frage, hier hüstelte Herr von Kaven erneut, ob der Herr Registrator die Führung des Erfindungsregisters wieder übernehmen wolle?
    Nölting brachte kein Wort heraus; nie und nimmer hatte er damit gerechnet, dass das Gespräch eine derartige Wendung nehmen sollte. Nun, wenn das nicht in Frage komme, interpretierte der Ministerialsekretär Nöltings Schweigen, dann gebe es noch die Möglichkeit, dass der Herr Registrator in den verdienten Ruhestand trete. Die Pension, die er zu erwarten habe, erlaube ihm sicherlich, sein Vorhaben weiterzuführen, das seine, und das wolle er, von Kaven, hier noch einmal betonen, volle ideelle Unterstützung besitze.
    „Ja, lieber Nölting“, verabschiedete sich der Ministerialsekretär, während er dessen Personalakte zur Seite schob, jetzt gelte es nur noch, die nötigen Papiere zu unterzeichnen. Ministerialinspektor Brüning sei entsprechend angewiesen.
    
    Nichts sprach sich in einer kleinen Residenzstadt wie Detmold schneller herum als personelle Veränderungen in der Beamtenschaft. Daran mochten die Pedelle ihren Anteil haben, schoben sie doch mit den Aktenbergen auch halbamtliche Meldungen und Gerüchte hin und her. So schnappte Heinrich-August Nölting noch am selben Abend beim Eintritt in die Arminius-Halle den Satz auf, da habe jemand ja wohl einen kapitalen Bock geschossen. Eine Bemerkung, die er sofort auf sich bezog, zumal ein kurzes Auflachen durch den Raum ging und mehrere Gäste den Kopf abwandten, als er an den Tischen vorbei zu seinem Stammplatz im hinteren Teil des Restaurants ging. Auch dass der Wirt ihm dann persönlich das Essen brachte, dazu noch Hirschragout, konnte nur bedeuten, dass die morgendliche Unterredung mit von Kaven bis ins kleinste Detail in der Stadt bekannt war.
    Um weiterem Spott zu entgehen, schlang Nölting das Essen herunter und winkte sogar ab, als der Wirt ihm wie gewöhnlich, zum Nachspülen, ein zweites Glas Bier bringen wollte. Kaum hatte er jedoch das Lokal verlassen, kam ihm von der anderen Straßenseite Dr. Mengedoth entgegen, sein Cicerone, der ihm den Weg zu den Erfindungsquellen gewiesen hatte. Offenbar hatte dieser im Flur von Carl Meiers Restaurant den Moment abgepasst, um seinen abtrünnigen Adepten, wie er Nölting bei der Begrüßung scherzhaft nannte, auf ein Glas an den Stammtisch des Flurvereins einzuladen. In der Hoffnung in Dr. Mengedoth einen verständigen Gesprächspartner zu finden, nahm er die Einladung an.
    Schon auf dem Flur bei Carl Meier, wo sich zu dieser Tageszeit der eigentliche Ausschankbetrieb abspielte, wurde der geschasste Registrator mit großem Hallo begrüßt. Dr. Mengedoth lotste ihn weiter zum Stammtisch, wo ein illustrer Kreis von Beamten, Geschäftsleuten, Musikern und Schauspielern versammelt war und den Gast willkommen hieß. Anstatt sich namentlich vorzustellen, nannte ein jeder einfach eine bestimmte Nummer, denn die Vereinsmitglieder pflegten sich beim Umtrunk nur mit ihrer Mitgliedsnummer anzureden. So absonderlich der gegenseitige Verzicht auf Titel und Namen auf den ersten Blick erscheinen mochte, der zwanglose Umgangston, der am Tisch herrschte, sprach für diese Regelung.
    Nur eines ließ die namenlosen Stammtischbrüder verstummen, die Frage, wie sie den Gast des Abends anzureden hätten, denn darüber stand nichts in den Statuten und es gab auch keinen Präzedenzfall in der bisherigen Vereinsgeschichte. Schließlich brachte N° 236 den Vorschlag ein, dem Gast für den Abend kurzerhand die N° 9 zu verleihen, die Mitgliedsnummer eines der Gründer des Vereins, der unlängst verstorben war.
    Dem Einwand von N° 115, so etwas sei pietätlos, wurde von Dr. Mengedoth, der N° 22 und damit dem dienstältesten Vereinsmitglied am Tisch, energisch widersprochen. Man handele gewiss im Sinne des Verstorbenen, versicherte er den jüngeren Mitgliedern, wenn man dessen Nummer für Gäste reserviere, zumal es mit der 9 eine besondere Bewandtnis habe. Ob die Herren denn wüssten, dass das Zahlwort ‚neun‘ ursprünglich ‚neu‘ bedeutet habe? N° 22 begann mit den Fingern zu zählen: „Eins, zwei, drei, vier.“ Früher habe man ohne Daumen gezählt, und wenn bei acht beide Hände aufgebraucht gewesen seien, habe man bei neun von Neuem begonnen.
     „Erheben wir das Glas auf die glückliche Fügung, dass ausgerechnet ein Vertreter der Findkunst unsere neue Gästenummer einweiht“, schloss N° 22 seine philologischen Ausführungen, und sein Stuhlnachbar N° 86 ergänzte „Auf die Neun“, womit die Losung des Abends gefunden war.
    Derart freundlich aufgenommen, begann N° 9 von sich und seiner Arbeit zu erzählen, der Erfindung der Erfindungen, die das Zeitalter der Erfindungen beende, weil sie jede weitere Erfindung überflüssig mache. Hier blickte N° 9 bedeutungsvoll in die Runde, was auch nicht seinen Effekt verfehlte. Er konnte sich der ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein, als er fortfuhr: Die philosophischen Zusammenhänge habe er Ministerialsekretär von Kaven zu verdanken, seinem Gönner, der gewiss nicht dafür verantwortlich zu machen sei, dass sich das Ministerium jetzt von seinem Vorhaben distanziere, allein Seine Durchlaucht zeige nicht die geringste Bereitschaft, die Findkunst, wie überhaupt die Künste, zu fördern.
    Es tat ihm, N° 9, sichtlich wohl, als er auf diese Bemerkung hin lebhaften Zuspruch erhielt von einigen Herren, die die rücksichtslosen Einsparungen des Fürsten auf kulturellem Gebiet am eigenen Leibe erfahren hatten. Mit einem Federstrich habe Fürst Woldemar 1875 die Hofkapelle aufgelöst, sagte N° 47, und man spürte noch heute, elf Jahre später, die Verbitterung des ehemaligen Hofoboisten.
    Und warum das Ganze? Nicht etwa um die Hofstaatsausgaben zu senken, nein, das eingesparte Geld sei für den Etatposten Repräsentation und Ordensdekoration verwendet worden, ergänzte N° 321, offenbar ein Schauspieler. Aber für das Theater stelle Seine Durchlaucht nur das nackte Gebäude zur Verfügung: ohne Heizung, ohne Reinigung, ohne Logenschließer, ohne Garderobenpersonal und ohne Musik!
     „Kunst ist hier so wenig wie in Sibirien!“ wusste N° 190 beizusteuern, wohl ein Geschäftsmann, nur war ihm entfallen, von wem der Ausspruch stammte. Doch bevor sich eine Diskussion darüber entspann, ob es Brahms oder nicht doch Bandel gewesen war, stieß man miteinander an, denn der Wirt hatte die Gläser aufs neue gefüllt.
    Auch N° 47, der entlassene Hofmusiker, eine unumstrittene Autorität, wenn es darum ging, die kleine Residenz im Spiegel großer Künstler zu zeigen, konnte in der Frage nicht für letzte Klarheit sorgen, doch wusste er mit großer Bestimmtheit zu sagen, dass Lortzing das hiesige Publikum noch schärfer abgekanzelt und als niederträchtiges Pack tituliert hatte.
    Was Clara Schumann, fügte N° 60 hinzu, zwar etwas charmanter, aber deswegen nicht weniger deutlich ausgedrückt habe, als sie den Detmoldern attestierte, ihr kritischer Kunstverstand beschränke sich auf die Vokabeln: famos, fabelhaft und miserabel.
    Und wie nicht anders zu erwarten, kam man auch auf Grabbe zu sprechen, dem man es in seiner Heimatstadt wohl nie verzeihen würde, dass er als Sohn eines Zuchtmeisters geboren wurde, da mochten seine Stücke noch so häufig an den großen deutschen Bühnen gespielt werden.
    N° 9 fühlte sich aufgehoben in der illustren Gesellschaft und auf unbestimmte Weise verstanden, auch wenn er das Tischgespräch, bei dem sich naturgemäß die Theaterleute in der Schlagfertigkeit hervortaten, eher bewundernd verfolgte, als dass er sich aktiv daran hätte beteiligen können.
     Als das Gespräch einen Moment ins Stocken geriet - man hatte gerade zum wiederholten Male auf die Findkunst angestoßen - wandte sich N° 417, der einzige, der bisher geschwiegen hatte, mit der Bitte an N° 9, ihnen doch zu verraten, wozu er neulich abends auf dem Marktplatz den Wein verschüttet habe. Es seien an diesem Tisch schon allerlei Vermutungen angestellt worden, und deshalb, er blickte in die Runde und fuhr fort, als er von allen Seiten Zustimmung erhielt, ja, um den wahren Grund zu erfahren, habe man ihn gebeten, heute Abend ihr Gast zu sein.
    N° 9 bedankte sich artig und begann von den Najaden zu erzählen.
    „Oh, là, là!“ sagte N° 170 und hatte die Lacher auf seiner Seite, woraufhin sich N° 9 beeilte, die Sache richtigzustellen.
    Die Najaden, auch Quellnymphen genannt, seien mythischen Wesen, die sich, wie ihr Name schon sage, an Quellen aufhielten, aber auch Brunnen und Wasserleitungen zählten zu ihren bevorzugten Aufenthaltsorten.
    Da habe er also gar nicht so falsch gelegen, unterbrach ihn N° 236, mit seiner Vermutung, es handele sich um einen Art Wünschelrutengang.
    Ja, in der Tat habe er etwas gesucht, bestätigte N° 9, den die vielfachen Kommentare und Unterbrechungen irritierten. Einen geeigneten Ort habe er finden wollen, denn die Najaden seien ihm bei der Quellensuche in der Bibliothek glücklich zur Hand gegangen, weswegen er ihnen auf Anregung von Dr. äh, von N° 22 ein Dankopfer habe abstatten wollen.
    Dass man den Quellnymphen mit Wein danke, könne er sich sehr wohl vorstellen, warf N° 321 ein, doch warum gerade auf dem Marktplatz?
    N° 9 zögerte mit seiner Antwort, denn er ahnte, dass er im Begriff stand, sich vollends zum Gespött der Stadt zu machen, und wandte sich mit einem Hilfe suchenden Seitenblick an N° 22, woraufhin ihm dieser jovial auf die Schulter klopfte und ihn ermunterte, nur frei von der Leber weg zu reden.
    Es lag nicht unbedingt daran, dass N° 9 zu betrunken gewesen wäre, um den Zusammenhang von Erfindungsquellen, Wasserleitungen, Bibliotheken, Quellnymphen, Frau von Donops Testament und seiner Erfindungskammer mit ihm selbst als Seismographen des Neuen verständlich darzustellen, doch jeder Erklärungsversuch bot nur Stoff für weitere pikante Kommentare, was wiederum Richtigstellungen nach sich zog, die sich noch abstruser anhörten, so dass N° 9 schließlich in einen Zustand höchster Trunkenheit geriet, der nicht allein auf den erheblichen Bierkonsum zurückzuführen war.