Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Uwe Tellkamp (Bild: ORF - Johannes Puch)
Uwe Tellkamp
Der Schlaf in den Uhren

Manchmal hör ich sie fließen unaufhaltsam. Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht, und laß die Uhren alle stehen.
Rosenkavalier: Monolog der Marschallin, mir ist, als ob ich sie hörte, die Stimmen, die Musik, Erinnerung
    – aber die Uhren schlugen, Muriel, ich sehe dich, eingekapselt von Apparaten, die dich und deine Träume retten sollten, Träume, um die es im Grunde immer geht, erinnerst du dich, wie die Straßenbahn in den Schienen schlenkerte und Funken stoben, wenn sie, von der Haltestelle Leipziger Straße kommend, vor dem Bahnhof Neustadt um die Ecke bog, die rotweiß gestrichene tschechische »Tatra«-Bahn mit den Haltestellenschildern aus Pappe, wie sie gegen die Fenster schlugen, und die Heimkehrenden darunter waren in ihre Zeitungen oder Bücher oder Gedanken versunken, während vorn, in der Fahrerkanzel, das Mikrofon knackte und die horizontal angebrachten Zeiger der Volt- und Ampèremeter auf- und niederschaukelten, der Geschwindigkeitszeiger (Formelzeichen v) funktionierte meist nicht, wenn der Fahrer, die Hände auf einen Querbügel gelegt, das blankpolierte Pedal trat, mit dem er Strom, nicht Gas, gab, und das breit wie ein Biberschwanz war; hin und wieder drehte er am gelb eingekreisten schwarzen Hebel, stellte auf »Fahrgastbedienung«, so daß die Aussteigenden den Knopf an der Haltestange vor den Stufen zur Klapptür drücken und sich selbst hinauslassen konnten, am Platz der Einheit, der wie eine riesige Karieshöhle lag; die Menschen schlugen ihre Kragen auf gegen den wehenden Schnee und verschwanden in der Alaunstraße oder Richtung Otto-Buchwitz-Straße, ein Sog von aschdunklen Mänteln, reifbedeckten Hüten, das einzige Licht noch im Geschäft für Papier und Füllfederhalter Maetzig? Maetzke? ich weiß nicht mehr genau, ob es wirklich so hieß, nur daran, daß es mit M begann und wohl den Umlaut ae hatte, glaube ich mich erinnern zu können; manchmal der Geruch vom VEB Elbe-Chemie, vielleicht kippten sie dann einen schmauchenden Bottich voller Reinigungslauge in Abfüllbehälter oder hatten einen Hebel an einem vom Flugrost befallenen Zylinder gedrückt, aus dem die Zahnpastaration eines ganzen Monats in die roten »Putzi«-Tuben quoll, ein rohrdicker Strang Kinderzahncreme, der in Makkaronihaare auffächerte, genug für ganz Vineta, als das mir Dresden, die Stadt, in der ich Kind war, vorkommt unter den Sturzbächen und dem Dünenschutt der Stunden; die Bahntüren schlossen sich mit einem von Gummis gedämpften Heuschreckenbeinstrecken, und ich nahm Bilder mit und Stimmen: Alaun, würde Vater uns erklären, meiner Schwester Muriel und mir, Chromalaun, Kalialaun, Ammoniakalaun, würde von Papiermühlen erzählen, wo Alaun zum Leimen des Papiers verwendet wurde, vom Salmiakgeist, der die Häuser in der Neustadt mit Harnsalzschorf überzog; die Bahn gewann an Fahrt, aber nur, um nach hundert Metern bereits wieder abzubremsen: Rothenburger Straße; Mädchen mit Geigenkästen steigen ein, Angestellte mit abgewetzten Aktentaschen, noch den Dunst der Chemischen Reinigung, Zweigbetrieb des VEB Purotex, den Zigarettenrauch des Cafés in den Mänteln, Umsteiger aus der Linie Sechs, und werden sie ebenso wie die Mädchen mit den Geigenkästen die Nase rümpfen über das »Duchi«-Parfum der russischen Offiziersfrauen, an das sich der Geruchssinn der Fahrgäste bis zum Waldschlößchen, wo fast alle Russen aussteigen werden, nicht gewöhnt haben wird; er ist süß und schwer, dieser Geruch, Moschus und Patchouli, lastend, wie der der »Chokolade- und Cichorienfabrik« zwischen Alaun- und Königsbrücker Straße gewesen sein muß,
     »Tell«-Schokolade, Hartwig & Vogel, sagte Lucie Krausewitz, ich sehe sie lachen, die Hand heben und abwinken, Lucie Krausewitz, die mit ihrem Mann Arno, dem ehemaligen Flugzeugbauer, in der Hochparterrewohnung des Hauses meiner Kindheit wohnte, sie lacht und hebt die Kaffeetasse, nippt und sagt: Diese riesigen Schokoladewannen, Fabian, Kakaomasse, Zucker und Butter verknetet, dann erwärmt und umgerührt von forkengroßen Edelstahlbügeln, und nach dem Krieg, als es wieder losging, dann VEB Elbflorenz hieß, füllten wir heimlich etwas ab in mitgebrachte Soldateneßgeschirre, um es gegen Kohle und Stoff zu tauschen, damit wir uns was schneidern konnten, Arno, deine Fliegeruniform war nur noch ein Bündel verlauster Lumpen, wir taumelten nach Hause, so benommen waren wir von dem schweren Geruch aus den Schokoladewannen, der aber den Vorteil hatte, unsere Mägen zu füllen; wir mußten mittags etwas essen, das war Vorschrift vom Werkmeister, da wir die Erschöpfung sonst erst dann bemerkt hätten, wenn es zu spät gewesen wäre, der Körper braucht Nahrung, aber das Hungergefühl ist weg, und ich erinnere mich, Fabian
    dann ruckte die Straßenbahn wieder an, ließ das Haus mit dem Ochsenauge links liegen, das Antiquariat mit seinen nelkengelb erleuchteten Fenstern, seinen mißtrauischen, geschulten und einsamen älteren Fräulein, die nur von Hermann Hesse und Goethe und Klaus Mann etwas hielten, weniger dagegen von Thomas Mann, die Schierlingsmienen aufsetzten, wenn jemand die hellgrün gebundene Friedrich-Wolf-Ausgabe in fünf Bänden zur Kasse schleppte, die an den Brillen rückten und die Säbel in ihren Augen blankzogen, wenn einer der baskenbemützten Herren oder pickelgeplagten Oberschüler, die schweigend und mit andächtig die Schräglage wechselnden Köpfen – je nach Leserichtung des Buchrückens – vor den Regalen standen, einen der finster drohenden Bände der Pflicht-MEGA, Marx-Engels-Gesamtausgabe, aus ihrem unter dem Staub der Jahre festgekrusteten Verbund brach und tatsächlich die mit Zitterbleistift eingetragene Eins zu bezahlen gedachte – Eins Emm! rief die Verkäuferin der anderen an der Kasse zu, schrie es nachgerade vor Pein, so daß das ganze Geschäft sich nach diesem Übertretling ungeschriebener Gesetze umwandte, Eins Emm der De-De-Err der Herr! worauf die zweite Antiquarin pikiert an der Kassenkurbel drehte, plingend sprang der Preis ins Sichtfenster, und die Lade aufrasseln ließ, um das Geldstück zu entfernen; die erste Antiquarin hatte das in blaues – Leder? – eingebundene Werk mit Eisfingern in einen Bogen entschieden abgeratschtes Packpapier plumpsen lassen und mit den geübten Griffen von Kammerjägern eingesargt; die Bahn gewann an Fahrt,
     erinnere mich, Fabian, wie die Bleuger Liese mir zuflüsterte: Wirst sehen, ich tu’s; an den fetten, an diesem Tag besonders intensiven Schokoladegeruch, denn der Vorarbeiter hatte allen Kakao in die Wannen geschüttet, der noch übrig war, wir haben bis zum Schluß Schokolade produziert, wir waren ja kriegswichtig, die Flieger hatten Sonderrationen, die Nachtjäger der Messerschmitt 262 auf dem Flugplatz Klotzsche, nicht wahr, Arno; alles hatte er hineinkippen lassen: Die Russen bringen Hunde mit, Mädchen, wenn die Scho-klade, er sagte immer Scho-klade, euren Geruch übertüncht, finden sie euch nicht, und immer die Sirenen von den Tieffliegern, wir versteckten uns unter den Wannen, ich hörte über mir die Schokolade Blasen werfen, das Geräusch des Atmens und das Keuchen des Vorarbeiters, dessen Holzbein gegen den Wannenrand stieß, wenn er sich bewegte, und er bewegte sich zu oft
    »Duchi«-Parfum, die Bahn nahm Anlauf hinter der Nordstraße, schien die nächste Haltestelle so schnell wie möglich erreichen zu wollen, Waldschlößchenstraße: Ein Teil der Offiziere in den erbsbreigrünen Uniformen mit den radgroßen, fast immer in den Nacken zurückgeschobenen Schirmmützen stieg aus, ihre vom Kasernenstumpfsinn und Alkohol finnig gewordenen Gesichter wandten sich ab; sie vermieden den Blickkontakt mit uns, den »Freunden« – Arno Krausewitz lachte trocken, stieß einen Rauchpuff aus seiner »Mundlos«-Zigarre an die Decke: Klar, UddSR, Unjon der deutschsprachischen Sof-jettrepu-bliggen –, und während die Elf wieder anzog, sah ich sie in Richtung Dr.-Kurt-Fischer-Allee verschwinden, vielleicht unter dem Kommando eines rotblonden, glattgescheitelten Offiziers namens Putin, ich sah ihnen nach, sie warfen einen Blick auf ihre Uhren und schwenkten ihre billigen Aktentaschen, die es für sie in ihren Läden und »Magasins« zu kaufen gab, wo dicke sowjetische Frauen, die sich für das sprachunkundige Ohr in einer Art von Schwalben-Zwitschersprache unterhielten, an den Kassen in Form eines Holzkugel-Abakus’ warteten und verstummten, wenn jemand eintrat, der nicht dorthin gehörte; dann taten sie mir leid, all die Offiziere, aber noch mehr die blutjungen, milchbärtigen Soldaten unter der Aufsicht bärbeißig dreinblickender Kasachen, Turkmenen oder Georgier mit pechschwarzem Haar, niedriger Stirn und blauschwarz schimmerndem Bartwuchs, was mochten sie denken von diesem Land, in dem sie, die vielleicht in ihrem bisherigen Leben noch nie die Grenzen ihres Dorfes überschritten hatten, stationiert waren, tausende Kilometer von zuhaus entfernt, zum Stummsein verurteilt gegenüber diesen Menschen, die vor Jahrzehnten einen Krieg gegen ihre Väter und Großväter verloren hatten, aber sich darum wenig zu kümmern schienen, da sie die Soldaten aus dem Reich des Eises und der Finsternis mit feindseligen Blicken bedachten,
     zu oft, und draußen die Stimmen und das Geräusch von mit den Füßen beiseitegestoßenen Blecheimern, übriggeblieben von Löscharbeiten nach den Angriffen, das Gelächter und die jaulenden Hunde, Stimmen auf dem hallenden Gang und die Hunde, die sich auf die Schokolade in den Wannen stürzten, das Geräusch ihrer schlappenden Lefzen, ich konnte nichts sehen, denn es gab kein Licht, und die hohen Fenster waren rußverschmiert, die Stimmen, plötzlich laut, dann zerrten sie uns unter den Wannen vor gutte Frau Frau gutt Frau kommen mit, und leuchteten uns mit ihren Feuerzeugen ab, der Vorarbeiter trat dazwischen, als einer der Soldaten die Hand nach mir ausstreckte, ein anderer Soldat hielt ihm die Pistole an die Schläfe, drückte ab und zischte Faschist schlechte Faschist, wieder die Hand, dann hörte ich das metallische Geräusch, die Bleuger Liese hatte den Ring aus der Handgranate gezogen und flüsterte Haut ab haut ab, wir waren zu fünft, sie zu acht oder neun; wie derselbe Soldat, der den Vorarbeiter erschossen hatte, zum zweitenmal die Pistole hob und die Bleuger Liese erschoß, auf die wegrollende Handgranate mit dem Stiefel trat, sie aufhob und aus dem Fenster warf und die anderen etwas brüllten, das Runter! oder Deckung! heißen mußte, wir warfen uns hin, bevor die Druckwelle aus Fenstersplittern, Schokolade, Mauerstücken uns traf, dann, nachdem es wieder still geworden war, standen die Soldaten auf, wollten sich den Staub von den Uniformen klopfen, hielten inne, als sie sahen, daß sie von oben bis unten mit Schokolade bespritzt waren, streckten die Zeigefinger aus, schleckten sie ab, stürzten sich auf die umgekippten Wannen, vor denen zwei ihrer Hunde getötet lagen und der Vorarbeiter und die Bleuger Liese, schoben sich die Käppis zurück, grinsten: Deutsche Frau gutt hat Mutt, dann boten sie uns Papirossy an, schöpften Schokolade und kauten sie aus der hohlen Hand, dann zogen sie ab
    »Duchi«-Parfum, und sie, die Towarischtschi, wie sie genannt wurden, spürten es wohl, dachte ich, wenn ich sie beobachtete; aber ob es die Frauen spürten, wußte ich nicht zu entscheiden, Frauen sind im allgemeinen sensibler als Männer, aber vielleicht traf das auf die Offiziersfrauen nicht zu, auf die meisten von ihnen, will ich einschränkend sagen; ich mag Verallgemeinerungen nicht. Vielleicht überspielten sie Scham und Schüchternheit mit ihren lauten, schrillstimmig geführten Unterhaltungen mit den weinerlichen Verschleifungen der russischen Worte im Diskant, dem ruckenden Gestikulieren und den kehligen Glucksern, die sie wie fette Hennen ausstießen, ein Gebaren, das nicht zu wissen oder sich nicht darum zu scheren schien, daß der junge Mann in der militärgrünen Parka, der sie beobachtete und zu ergründen versuchte, womöglich verstehen konnte, was sie sagten, immerhin war er Mitglied der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« und besaß ein Mitgliedsbuch mit en bloc gekauften Beitragsmarken, immerhin lernte er seit der fünften Klasse Russisch in der Schule, Nina Nina tam Kartina eto Traktor i Motor und weitere im Alltagsgespräch sehr nützliche Vokabeln wie Raketa und Sjelskoe Chosjaistwenno Kooperativ und Kiew jestch otschen seljonnaja Goroda – Kiew ist eine sehr grüne Stadt –; aber es gab die Wachtposten vor dem Lazarett der Roten Armee oben im Turm, mit denen Muriel und ich Unterhaltungen angeknüpft hatten im Tausch gegen eine alte asthmatisch tickende Uhr aus Ruhla; Gespräche, die uns für die Russischprüfungen in der POS sehr geholfen hatten, und das Wort »Swinja Sabaka«, Schweinehund, kannte ich aus den Flüchen der Wachtposten. Es war merkwürdig für mich, es aus den knallig orangerot oder pinkfarben bepinselten Lippen der russischen Offiziersfrauen zu hören, dann haßte ich sie, weil ich das Wort auf uns, auf mich bezog, haßte die teigigen, grellgeschminkten, grobporigen und gedunsenen Gesichter, die kloßigen Augen mit pfauenblauen Lidschatten, die korallenroten Fingernägel, die ganze Aufgedonnertheit und Penetranz dieser Frauen, die sich mit dem Putz von Mandarinenenten zu heraldischen Archetypen des Phänomens »Weibchen« auftakelten: farbkastenbunte, dralle und prahlerische Herausforderung in der von Grau und Feindseligkeiten durchwucherten Welt; haßte ihre dick mit Talmi beringten Kapaunenfinger, das Marketenderinnenkeifen, die Speckwülste ihrer weißgepuderten Nacken, die Kürbisbusen, die Stentorstimmen, den »Duchi«-Geruch, den sie sich hohlhandweise überschütten mußten, der Fruchtzucker-Wolke nach zu urteilen, die den Bereich umgab, in dem sie saßen, dieser Geruch, vermischt mit dem nach Schweiß und Knoblauch; aber je länger ich sie beobachtete, desto bröckeliger wurde mein Haß, ich sah die Risse in dem wie Verputz aufgetragenen Makeup, die über den vertuschten Tränensäcken irrlichternden Augen, die Angst, und sie, die mir nichts getan und die vielleicht nicht einmal genug Geld hatten, sich geschmackvoller zu kleiden, was verbargen sie unter »Duchi«-Wolken und Pfingstrosenschminke
  
    Die Zeit im Grund, Quin-quin, die Zeit,
    die ändert doch nichts an den Sachen.
    Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
    Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
    Aber dann auf einmal,
    da spürt man nichts als sie:

    
    – meergrüne Schallplatte in der Nacht, schwappende Systole des auf dem Plattenteller schwimmenden Lichts, »Monarch Record«, kreppig klingende Kaiserzeit-Aufnahme, auf dem Etikett die lange Röhre des Grammophons mit dem weißen Hund davor, der sich rasend drehte
     Die Zeit im Grund, Quin-quin, die Zeit,
    sang die Marschallin mit der Stimme von Margarethe Siems
    – rote und graue Schalensitze in der Straßenbahn, das Brummen der Elektroheizungen unter den Sitzen der Fensterreihe in unregelmäßigen Abständen vom Knacken des anfahrenden oder abbremsenden Wagens unterbrochen; Wilhelminenstraße, wo es eine Blindenschule gab und die Bahn vor einem Zebrastreifenübergang wartete, bis die Blinden, geführt von einer Erzieherin, sich mit ihren langen weißen Stäben über die Straße getastet hatten, was in meiner Erinnerung stets zuerst lautlos geschieht, dann, je mehr die ohnehin gedämpft geführten Gespräche in der Bahn verstummen, allmählich lauter wird, das Tacktack der einen Sektor vor den Füßen absuchenden Stäbe, dieses Geräusch der Heimgesuchten, die mit weißen Gesichtern und leicht schräggeneigten, wie nach innen lauschenden Köpfen die Straße überquerten, die verschlossenen Mienen, seltsam unzugehörig zu den Händen, die mit den Stöcken den Weg freitasteten und also, so empfand ich damals, etwas mit der Gegenwart zu tun haben mußten, während die Gesichter oder besser: die Masken, zu denen die Gesichter geworden waren, in einem anderen Raum lebten, Tacktack in der Stille der stehenden Bahn, dieses Geräusch nicht nur der Heimgesuchten, sondern auch der Heimsuchenden; aber die Uhren, Muriel
    – eins, zwei … Ich hörte die Uhr der Marschallin schlagen
    – »Pionierpalast«, die gepflasterte Auffahrt, der Springbrunnen im geisterhaften Licht der wenigen Laternen, die dort zu dieser Stunde brannten, selten stieg hier jemand ein oder aus, das alte Schloß mit seinem drachenhaft gezackten Umriß lag schwarz und leer
     die Abordnung der Schokoladenmädchen bewegte sich langsam vorwärts, mißtrauisch beäugt von der Abordnung der Volkskammer, vielleicht sahen wir verdächtig aus mit unseren gestärkten Hauben, den Schürzen und Biedermeierkleidern: Die Genossinnen lassen den Sinn für die gesetzmäßig-historische Entwicklung der Zeitläufte vermissen; vielleicht dachten sie, die uns beobachteten, an einen Hinterhalt, in den der Genosse Vorsitzende sie gelockt hatte, womöglich steckte der Löffel in der kleinen Tasse auf dem Silbertablett nicht in Schokolade, sondern in Schierlingsmilch; sie rückten an ihren Brillen, kratzten sich die Hände, es war seltsam, daß wir ihnen kaum näherkamen, obwohl wir unsere Schritte, immer noch angepaßt an den vorgegebenen langsamen Takt der Musik, schon vergrößert hatten, eine sich ängstlich aneinanderdrängende Traube dunkelblauer verdienter Genossen mit dunklen Brillen in den Horst-Sindermann-Gesichtern, sie wichen tatsächlich vor uns zurück, bis eine Lücke zwischen ihnen und dem Genossen Vorsitzenden klaffte und sie sich in ihr Schicksal fügen mußten, sie senkten ein wenig die Köpfe, aber nur für einen kurzen Moment, dann sahen sie der sich nähernden Schokolade mit spanienkämpferisch erhobenen Häuptern entgegen, und ich weiß noch, Fabian, wie der Stoff meines Kleids kratzte, umgeschneidert aus einigen Kostümen aus dem »Theater des Volkes«, wie das Alberttheater unter den Nazis geheißen hatte,
     abgebrannt abgebrannt Pommernland ist abgebrannt, Lucie
    ach was, Arno, das Theater hat der Engländer zerkloppt danach beim Angriff; wie der Stoff, brüchig gewordene Kretonne, nach Naphthalin und immer noch, aber das bildete ich mir wohl ein, Brandgeruch stinkend, gekratzt hat, und wir, die Abordnung Verdienter Aktivistinnen aus dem VEB Elbflorenz, schritten nun auf den Genossen Vorsitzenden zu, der zur Neutaufe des Albrechtsschlosses gekommen war, »Pionierpalast ›Walter Ulbricht‹« sollte es nun heißen, die Auffahrt nun nicht mehr voller Kutschen, sondern voller Staatskarossen, diese schweren schwarzen Särge,
     Tschaikas! Daß du dir das nie merken kannst!
    sei still, Arno, und paß lieber auf, daß die Asche von deinem Stumpen nicht runterfällt, wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst den Ascher drunterhalten, aber man redet ja gegen Wände, und überhaupt, guck dir die Gardinen an, völlig vergilbt durch diese ekelhaften Jä-ger-stolz
     ne! Mundlos
    also Tschaikas, und daneben die Genossen Chauffeure, die in regelmäßigen Abständen einknickten, als hätten sie was mit dem Magen und müßten dringend mal aufs Örtchen, und dabei sah man die Telefone – oder was immer diese klobigen Kästen mit Kringelschnur waren neben dem Fahrersitz – schon von weitem, ebenso die Ausbuchtungen unter den Achseln ihrer schwarzen, viel zu eng geschnittenen Anzüge, und natürlich war alles abgesperrt, Volkspolizei stand, Hände vor dem Gemächt, an den Kordons; Jung- und Thälmannpioniere schwenkten rote Wimpel und brachen, befördert vom Genossen Bürgermeister auf der Tribüne, in Jubelrufe aus, die uns, den Schokoladenmädchen, die Konzentration auf das später vielgesungene Arbeiterlied »Wann wir schreiten Seit an Seit« erschwerten, dessen Takt wir bei der langsamen Annäherung an den Genossen Vorsitzenden zu folgen hatten, vorbei an dem noch frisch gestrichenen Gras, eine leuchtend saphirblaue sozialistische Wiese dank einem einfallsreichen, jetzt sehr zurückgezogenen und stark schwitzenden Produktionsvorsitzenden des VEB Lacke und Farben »Lacufa«; schwitzend, weil der Genosse Vorsitzende wohlwollend nickend seinen Blick über die von Aprikosenbäumen gesäumte Auffahrt wandern ließ, hierhin und dorthin wies mit zukunftssichtiger, zukunftsempfindlicher Hand: Nu, Genossen, da habbder awwer scheene Frischde hier, was? mit heiserer Eselsstimme ausstieß; schwitzend, er könnte eine der von der Patenbrigade »PGH Sozialistisches Glaserhandwerk« und vom Kollektiv für Jugenderziehung an feinen Drahtstielen in die Bäume gehängten Aprikosen pflücken wollen in einem Anflug von jugendfrischem Übermut – Mao durchschwimmt den Jangtsekiang –, könnte die Staatsratsvorsitzendenhosen schürzen und durch das hellblaue Gras zu waten beabsichtigen, dem der Produktionsvorsitzende des VEB Lacke und Farben »Lacufa« zusammen mit einem Kollektiv von Initiativbewerbern und bewährten Genossen in der Nacht, beim Schein von Grubenstirnlampen, mit der Farbe »Grasgrün« aus Sprüh-Tornistern zur gewünschten weltanschaulichen Bestimmtheit hatte verhelfen wollen
     nu, awwer die Sche-mie! Ir-schendeene schemische Re-ak-zschjon, und aus Ju-chend-schdiel wurde Egg-schbress-jonismus! Gwasi iewer Nacht!
    ruhig, Arno, ein schwitzender Vorsitzender, der Genosse Vorsitzende könnte seine dunkel getönte Brille abnehmen, um Schloß, singenden Pionierchor, die Abordnungen der verschiedenen sozialistischen Kollektive, Aktivisten und Veteranen im hellen Licht des Sommertags betrachten zu können
    – drei, vier … Ich hörte die Uhr der Marschallin schlagen
    – die Bahn beschleunigte vor der letzten Steigung des Bergs, der links jäh in den buchenbestandenen Mordgrund abfiel und rechts, die Straße war in die Bergflanke geschnitten, ebenso jäh anstieg zu den ersten Ausläufern des Turms, schnörkelig verbauten, mit Erkern, Dachreitern und Balustraden verzierten Schwalbennestern; Lahmanns Sanatorium kam in Sicht, roter Sowjetstern am Tor, im Regen frierende Posten in durchnäßten Wettermänteln, der von Bogengängen gerahmte Garten mit seinen Hermen und dem mit silberner Silikoneinbrennfarbe gestrichenen Lenin-Kopf in der Mitte, links der luftig verglaste ehemalige Gesellschaftssaal, Kur- und Wandelhalle, die bei Lahmann »Wanderhalle« geheißen hatte; weit hinten, von der Bahn aus nur kurz zu sehen, das Herrenbad; jetzt liefen Soldaten und Offiziere mit verbundenen Armen und Köpfen, an Krücken, in Bademänteln unter den mit Delphinen und griechischen Mäandern verzierten Gebäuden, deren zerbrochene Scheiben und schiefhängende Fensterläden den Eindruck starrer Traurigkeit erweckten
    – fünf, sechs … Ich hörte die Uhr der Marschallin schlagen
    – Schallplatte, ist es Niklas Buchmeister, der mit Glacé-Handschuhen die Platte wendet, so daß sie beim Adventskerzenlicht für einen Moment wie Kupfer schimmert: Das ist der Schlaf, hörte ich flüstern, das ist die Spindel in der Zeit, der tiefe Schlaf; es war nicht Niklas, dessen Grandseigneursgesicht mit der vom Punsch glühenden Adlernase sich über den furnierholzverkleideten Plattenspieler beugt, so daß sich in den Brillengläsern das anhebende Kreisen widerspiegelt, der in Zeitlupe sinkende Abtastarm und die ineinanderwandernden Lichtreflexe der unruhig dünenden »Eterna«-Schallplatte, die sich mit den Schattenflügeln der Pyramide an der Decke mischten; die weißen Glacé-Handschuhe wirkten wie selbständige Lebewesen im rotdurchspielten Dämmer, der im Zimmer herrschte; nicht Niklas, sondern Vater ging in die Hocke
     seine Wintergestalt, höre ich dich erzählen, Muriel, ist präsenter, körperlicher für mich als seine Sommergestalt, die, wenn unsere Erscheinung für andere von dem bestimmt wird, was wir tun, seine wirklichere sein müßte; die Vipern im Serumwerk, mit denen er donnerstags und freitags arbeitete, brauchten tropische Temperaturen, und überheizt habe ich auch das Labor für Pflanzentoxikologie in Erinnerung, das in der Nähe des Botanischen Gartens lag, und in dem er von montags bis mittwochs arbeitete. Dennoch, trotzdem er wie ein Tennisspieler – mit nackten, sommersprossenübersäten Armen – zwischen den Schlangenvitrinen und den Giftpflanzenreihen umherging, dennoch Vaters Wintergestalt, dennoch seine bleichen Züge unter dem japanisch schwarzen Haar, in das er links einen strengen, linealgeraden Scheitel gezogen hatte, die Energie verratende, im Profil klassisch geformte Nase über dem feingeschnittenen Mund, den ich Rauchwölkchen ausstoßen sehe, während Vater die Frontscheibe unseres »Trabant 601« mit einem Plastikkratzer von der Eisschicht befreit, die über Nacht gewachsen ist; den ich Es wird ein kalter Winter werden, feststellen höre, wobei Vater die Hand sinken läßt, mit der er kurz an das Barometer geklopft hat, was die Position der Nadel aber nicht ändern wird. Wenn er nach Hause kam, ging Mutter ihm öffnen, er beugte sich zu ihr: Tag, Iris – Tag, Hans, in der Rechten seinen Hebammenkoffer, den er seit dem Medizinstudium besaß und benutzte, in der Linken meist einen Beutel mit etwas durch Beziehungen Ergattertem, erinnerst du dich, Fabian: eine runde weiße Plastikdose mit orangefarbenem Deckel etwa, die ihm eine Fleischermeistersgattin, die seltene Orchideenschößlinge über das Toxikologische Labor am Botanischen Garten bezog, gefüllt hatte – »für Herrn Dozent Blau Hoffmann mit bestem Gruß an die Frau Gemahlin und die Kinder«; ein Buch: Kunstbände von »E. A. Seemann«, Leipzig; eines der reichbebilderten Naturwerke aus dem Prager »Artia«-Verlag; Schallplatten aus dem »Kunstsalon am Altmarkt«: der »Don Giovanni« unter Elmendorff, mit Mathieu Ahlersmeyer und Margarete Teschemacher, Staatskapelle Dresden, 1943; das Streichquartett von Debussy, gespielt vom Vlach-Quartett; eine Aufnahme des »Rosenkavalier«
    – sieben, acht … Ich hörte die Uhr der Marschallin schlagen
    – nicht Niklas Buchmeister, sondern Vater legte den Kopf schräg und beäugte, das gelbe Staubtuch noch in der Hand, mit dem er die schwarze Scheibe blankgewischt hatte, so daß sie schon beim Auflegen knisterte und Funken zu schlagen schien, ein letztes Mal die Feineinstellung des Balancegewichts am anderen Ende des Abtastbügels, die Geschwindigkeitsregulierung, die auf »33« stehen mußte bei den Langspielplatten, und nicht auf »45«, was die Stimmen und das Spiel der Instrumente zu einem quäkenden, irrsinnigen Parforceritt beschleunigt hätte, erst recht bei »78«, der Einstellung für die Schellackplatten, bei denen auch der Saphir gegen einen Stahlstift auszuwechseln war; »33«, sonst würde die Oper zerspringen wie eine gebrochene Uhrenfeder; die weißen Hände blieben in Wartestellung in der Nähe des Bügels, bereit, ihn sofort hochzunehmen, falls der Saphir nicht punktgenau den Beginn der Rille treffen, sondern in die Musik gerissen werden würde, ein gleißender Schnitt tief in Feenfleisch, den Vater ebenso fürchtete wie wir, die wir mit angehaltenem Atem saßen und warteten
     der tiefe Schlaf
    pulsten die Schallplatten, ich sah die frierenden Posten vor dem Sanatoriumstor mit dem roten Sowjetstern, das unablässige Brummen und Mahlen vom Heizhaus, wo Förderbänder Asche in die Schlucht schütteten
     Winter, Mantelschwung, der tiefe Schlaf
    und plötzlich, als die Bahn die Bergkuppe erreichte, waren die langgestreckten Gebäude nicht mehr ein Militärlazarett der Roten Armee, sondern wieder Lahmanns Sanatorium, eine Kuranstalt für Magen- und Darmkranke, Refugium für nervlich Überreizte und comme-il-faut-Gäste aus ganz Europa, die weniger Lahmanns Kartoffeldiät und Grahambrot, seine Massage- und Sturzbäder suchten als Ruhe von den Geschäften, der großen Politik
     der Erzherzog ist ermordet worden
     ermordet?
     in Sarajevo, Monsieur
    sie wandelten noch in den verglasten Gängen, im Wintergarten, machten Liegekur in den Hallen am Konzertplatz, die Damen mit Diademen, blitzenden Colliers und Reiherfederagraffen, Pelzboas trotz der Sommerwärme, die Fräuleins der jeunesse dorée mit jettschwarzen, fieberglänzenden, belladonnageweiteten Augen, deren Blicke über Gruppen eleganter Herren mit Pomadehaar, Rittmeisterscheitel und kreideweißen Westen zu schwarzem Frack und Zylinder schweiften, tadellos manikürte, nach Veilchenwasser duftende Kavaliere, aufschwimmende Walzertakte im viellüstrigen, hellerleuchteten Saal; wie die Eisblumen
     der tiefe Schlaf, kommt, ihr Blumen, Schnee, vergeh
    über das Parkett krochen, das Geräusch der Förderbänder des am Rand der Schlucht gelegenen Heizhauses, und wenn Wind aufkam in der Nacht, wehte die Asche herüber zu den Jahrhundertwendevillen mit graubraunem, schadhaftem Putz und roten Pfannen- oder grauen Schieferdächern, die der Regen blankwusch, der Regen, wenn sie auf etwas warteten, diese Häuser, ein geheimes Signal; ich hörte die Stimme der Marschallin:
     Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding …
     Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht
     und laß die Uhren alle stehen
    – die Bahn hielt.