Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Juli Zeh (Bild: ORF - Johannes Puch)
Juli Zeh
Nichts ist schlimmer als Unversehrtheit

Mitte September folgten die Tage in Bescheidenheit und Unschuld aufeinander, als wollten sie die sintflutartigen Regenfälle und Hochwasserkatastrophen des zurückliegenden Sommers vergessen machen. Für die Jahreszeit war es weder zu warm, noch zu kalt. Das Wetter sparte sich alle Eskapaden und erfüllte die nötigsten Pflichten durch ein bisschen spätsommerliche Wärme und ein paar frühherbstliche Böen.
Die Bundestagswahl stand unmittelbar bevor. Im Lehrerzimmer des Ernst-Bloch-Gymnasiums in Bonn vertieften sich die Schützengräben, in den unteren Klassen spielten die Kinder "George Bush und Bin Laden" anstatt "Räuber und Gendarm", und auf dem Raucherhof diskutierte die als unpolitisch verschriene Jugend den Zustand der Welt.
Ada stand dabei und hörte zu. Kurz vor den Sommerferien hatte sie trotz exzellenter Schulnoten ihr altes Gymnasium verlassen müssen. Auf Ernst-Bloch hatte sich gefreut. Die Schule stand in privater Trägerschaft und gewährte auch jenen verlorenen Geschöpfen, die sich hartnäckig gegen eine Teilnahme an der Kaffeefahrt namens "glückliche Kindheit" zur Wehr setzten, eine letzte Chance auf Hochschulreife. Vorausgesetzt, ihre Eltern konnten es sich leisten. Bald darauf aber fand Ada sich in einer neuen Klasse zwischen fünfundzwanzig Leuten wieder, die sie nicht das Geringste angingen, und spürte sofort, dass alles beim Alten geblieben war.
Seit sie im Alter von zwölf Jahren auf den Gedanken verfallen war, dass Sinnsuche nichts als ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei, galt sie als hochbegabt und schwer erziehbar. Im Unterricht vertrieb sie sich die Zeit, indem sie die Haut rund um ihre Fingernägel vom Fleisch kratzte und in schmalen Streifen bis zur Mitte der Finger abzog. Wenn ein Lehrer sie etwas fragte, antwortete sie präzise und ohne den Blick zu heben.
Weil sie klein war, kräftig gebaut, mit breitem Mund und starken Handgelenken und einem Kopf, der für eine größere Person ersonnen schien, hatte man ihr den Spitznamen "Marionette" verliehen. Auf dem Raucherhof kannte kaum ein Schüler ihren richtigen Namen, aber die meisten wussten, dass sie in der Lage war, den gefürchtetsten Lehrer mit wenigen Worten in die Schranken zu weisen. Auf dem Raucherhof stand sie an immergleicher Stelle zwischen den anderen, zog mit halbgeschlossenen Augen an ihrer Zigarette und wirkte wie ein Gegenstand, der niemandem gehört.
Um sie herum stritten die Schüler um Krieg oder Frieden. Wie Mücken tanzten ihnen die Schlagworte um die Köpfe: "Massenvernichtungswaffen", "Welthandel" und "Öl". Der Eine verabscheute den Kampf der Kulturen, der Andere arabische Diktatoren, und alle zusammen wollten sie schulfrei für Demonstrationen.
Wortführerin war ein Mädchen mit großer Lockenmähne, das Ada im Unterricht schräg gegenübersaß und sie auf zudringliche Weise anzustarren pflegte. In allen Klassen gab es solche samt- und seidenweichen Mädchen, deren Geburt durch eine langsam anschwellende Orchesterouvertüre begleitet worden war wie das hochfahrende Windowssystem von seinem Begrüßungschor. Sie kamen als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste, füllenhafte Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten. Ihre Entwicklung vollzog sich routiniert und fehlerlos, als hätten sie die Aufgabe des Pubertierens schon etliche Male bewältigt. Sie hatten das gepflegte, schulterlange Haar erwachsener Frauen, trugen ihre Hüfthosen, breiten Gürtel und knappen Hemdchen mit wohltemperierter Lässigkeit und ließen glatte Kinderhaut und aufgeworfene Kindermünder zu Mädchenhaut und Mädchenmündern werden, ohne dass Pickel, Schweißausbrüche oder Wachstumslaunen zu irgendeinem Zeitpunkt die Harmonie ihrer Erscheinungen gestört hätten.
Jene Prinzessin hieß Johanna, nannte sich "Joe" und hielt eine Menge auf ihren Intelligenzquotienten. Während sie sprach, achtete sie immer darauf, Ada mit dem Rücken zu verdecken. Die Jungen standen schweigend im Kreis, schauten Joe auf Hals und Brustansatz und nickten an passenden Stellen.
Die Motivation der Amerikaner sei völlig egal, meinte Joe. Den Frauen und Kindern im Irak müsse geholfen werden, und wer dies unterlasse, sei selbst kriminell. Ein Verbrecher gegen die Menschlichkeit.
"Johanna!"
Adas Stimme hatte man selten gehört. Als Joe sich umdrehte, stand Ada allein wie eine Angeklagte vor einer Schülergruppe, die sich einen einzigen Gesichtsausdruck teilte: Verwunderung.
"Nach deiner Ansicht", sagte Ada zu Joe, "berechtigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer militärischen Intervention?"
"So ist es, Schätzchen." Joe lächelte zufrieden wie ein Jäger, der nach tagelangem Ansitzen das Wild zum ersten Mal vor die Flinte bekommt. Adas Bemerkungen, die teilnahmslos gesprochen wurden und ihre Wirkung erst entfalteten, wenn es schon zu spät zum Antworten war, kannte sie zu Genüge aus dem Unterricht. Sie hatte lange darauf gewartet, ihr in freier Wildbahn zu begegnen.
"Und weil Deutschland im Irak nicht eingreift", fragte Ada, "begeht es ein solches Verbrechen?"
Das Lächeln verschwand aus Joes Gesicht und ging auf Ada über, die während des Sprechens unter halbgeschlossenen Lidern zu Boden sah und ihre Zigarette dicht vor den Lippen hielt, ohne daran zu ziehen.
"Dann bleibt uns wohl nichts übrig", fuhr Ada fort, "als die ersten Bomben auf Berlin abzuwarten. Ich bin ganz sicher, dass du, Johanna, in erster Reihe stehen wirst, um die amerikanischen Befreier mit Seele und Leib willkommen zu heißen."
Niemand hatte sie je so lange am Stück sprechen hören. Einer der Zuhörer hob die Hände wie zum Beifallklatschen und ließ sie eine Weile hilflos in der Luft schweben. Erst als Joe den Mund öffnete und wieder schloss, breitete Gelächter sich aus. Der Junge benutzte seine erhobenen Hände, um Joe von hinten zu umfassen.
"Na, Johanna, gehen wir Bombenfangen?"
Joe wandte sich nach rechts und links, fand den Weg versperrt von Schülern, die sich, die Hände in den Taschen, herzlich auf ihre Kosten amüsierten, und musste an Ada vorbei, um dem Gelächter zu entkommen. Deren Hand griff zu wie eine Falle und hielt sie am Oberarm zurück.
"Was ich dir eigentlich sagen wollte: Wenn du genauso viele Hirnwindungen hättest wie Locken, bekäme ich seltener Schmerzen im Sehnerv. Vom Augenverdrehen."
Die Pausenklingel trieb die Gruppe auseinander wie der Wind ein Häufchen Blätter. Ada blieb als Einzige zurück, verzichtete auf pünktliches Erscheinen zum Unterricht und rauchte eine weitere Zigarette. Das Stück Asphalt, auf dem sie stand, klang hohl unter ihren Füßen wie ein Siegerpodest. Eine unsichtbare Hand schob die Schicksalswürfel zurück in den Becher und notierte das Zwischenergebnis.

Auf der anderen Gebäudeseite stand Smutek an einem Fenster in der fünften Etage, die im Schuljargon "Das Verwaltungsstockwerk" hieß. Hier war es ruhig; hierher kam Smutek, wenn er keine Pausenaufsicht hatte und darüber nachdenken wollte, warum zum Teufel er Lehrer geworden war.
Schwacher Essensgeruch zog über den Flur und verhinderte die meditative Versenkung in immergleiche Gedankengänge. Direkt über Smutek im sechsten Stock befanden sich die Räume des Internats, das von den Schülern "Die Tenne" genannt wurde, weil sich dort oben in kürzester Zeit die Spreu vom Weizen trennte. Obwohl Smutek kein Liebhaber von Leberkäse und Kartoffelbrei war, konnte er nicht verhindern, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er öffnete das Fenster, um den Essensdunst gegen eine gleichgültige Septemberluft einzutauschen. Wenn er steil nach unten guckte, wurde ihm schwindelig. Fettleibig kauerte der Altbau samt Seitenflügeln auf der dunklen Asphaltfläche und sah aus wie ein Albatross, der sich vor dem Abheben zusammengeduckt hat und dabei eingeschlafen ist. Von hier aus ließ sich der ganze angrenzende Stadtteil überblicken. Zwischen den angegilbten Kronen der Bäume im Schulpark entdeckte Smutek ein silbernes Stück Rhein.
Beim Schrillen der Pausenklingel gerieten die Menschenmuster auf dem Schulhof in Bewegung wie die Felder eines Kaleidoskops, das sich zu drehen beginnt. Die Schüler sortierten sich zu drei Strömen, die in die verschiedenen Eingänge des Gebäudes mündeten. Unter Smutek blieben vier Personen übrig, warteten darauf, dass der letzte Mitschüler im Schulhaus verschwunden war, und steckten die Köpfe zusammen. Das Zentrum der Gruppe bildete ein Mädchen mit großer Lockenmähne. Sie wurde von drei Jungen aus der Fraktion der Tausendschönen umstanden, deren Schlangenlederschuhe spitz unter den Beinen der Schlaghosen hervorsahen. Ihre pastellfarbenen Hemden hatten sie straff unter die Gürtel gesteckt. Smutek kannte keinen von ihnen mit Namen.
Das Mädchen hatte etwas Wichtiges zu erzählen, wozu sie alle vier Gliedmaßen und einen weit geöffneten Mund gebrauchte. Ungeduldig warf sie alle paar Sekunden das Haar zurück, als wäre die Lockenpracht eine Plage, die sich trotz aller Bemühungen nicht vertreiben ließ. Ihre Stimme wehte in unverständlichen Fetzen zu Smutek herauf. Die Jungen wiegten sich beim Zuhören wie Abfahrtsläufer in den Hüften, lachten und wurden wieder ernst, nickten abschließend und verbündeten sich durch eine Folge von Handschlägen, bei denen sie schnell die Finger ineinander verhakten und sich gegenseitig mit den Stirnen berührten.
Eine hübsche Choreographie. Smutek mochte solche Rituale, die jahrelang das Leben der Jugendlichen bestimmten, um dann nach dem Abitur mit einem Schlag keine Rolle mehr zu spielen. Man musste nur eine Gruppe von Menschen zusammenstecken, und sogleich erfand sie Regeln, Trachten und Traditionen und hatte im Handumdrehen einen halben Staat gegründet. Was unten besprochen worden war, interessierte ihn hingegen nur am Rande. Er glaubte, erst in dem Moment ein guter Lehrer geworden zu sein, als er etwas erfand, das er "wohlwollende Neutralität" getauft hatte.
Smutek wandte sich vom Fenster ab. Für heute würde er nicht weiter über seine Berufswahl nachdenken. Für heute fühlte er sich im Reinen mit sich selbst und mit der Welt in ihrer ewigen, formelhaften Choreographie.

In der letzten kleinen Pause vor Schulschluss saß Ada auf dem Wasserkasten in einer Kabine der Mädchentoilette, hatte die Füße auf dem geschlossenen Klodeckel abgestellt und entzündete eine der Zigaretten, die sie während der vergangenen Unterrichtsstunde auf Vorrat gerollt hatte. Eine Diskussion im Grundkurs Politik ließ sich nur ertragen, solange die Finger in Bewegung blieben.
Sie war allein. Für gewöhnlich versammelten sich in der Nachbarkabine ein paar andere Mädchen und Jungen, die, eng zusammengedrückt wie in einem steckengebliebenen Fahrstuhl, eine immense Qualmwolke erzeugten und dabei Unterhaltungen führten, deren Verlauf und Inhalt von der Tatsache bestimmt wurden, dass nebenan jemand zuhörte. Rauchen auf der Mädchentoilette im vierten Gang hatte Tradition. Bei den Jungen stank es, und in den unteren Etagen wurden die Klos von Kleinen frequentiert, die in jeder Pause pinkeln mussten.
Vor etwa zwei Jahren hatte Ada das Rauchen angefangen, um andere Menschen nach einer Zigarette fragen oder der Bitte um eine solche nachkommen zu können. Dann begann sie ihre Zigaretten zu drehen, weil es billiger und stilvoller war, und besaß seitdem ein Tabakpäckchen, von dem niemand etwas wollte. Es machte ihr nichts mehr aus. Mit dem sozialen Leben hatte sie abgeschlossen, und die Enge der Klokabine ertrug sie ohnedies nur allein.
Kaum dass sie die ersten Züge genommen hatte, klopfte es an der Tür. Ada, die noch nicht sechzehn war, hatte eine Entdeckung durch Lehrer mehr zu fürchten als jede andere. Sie hatte schon lautlos den Klodeckel geöffnet und wollte die Kippe hineinfallen lassen, als sie die flüsternde Stimme eines Schülers vernahm. Sie gehörte zu niemandem, den sie kannte.
"Nebenan ist zu. Können wir rein?"
Ada war so gut wie sicher, dass niemand die Nachbarkabine belegte, aber eine Weigerung hätte allen Gesetzen des Dschungels widersprochen. Als sie den Riegel zurückgeschoben hatte, schwang die Tür auf.
Drei Jungen standen davor, so eng beieinander, als wollten sie alle zugleich durch die schmale Öffnung hinein, und rührten sich doch nicht von der Stelle. Zu dritt starrten sie in die Kabine wie in einen geöffneten Raubtierkäfig, extra gekommen, um sich von Ada bedrohen zu lassen. Keiner von ihnen hatte eine Zigarette zwischen den Lippen oder hinter dem Ohr. Die pastellfarbenen Krepphemden flirrten wie eine optische Täuschung, drei Paar spitzer Schuhe wiesen mit nach oben gebogenen Schnäbeln auf den Wasserkasten. Unwillkürlich spannte Ada die Rückenmuskeln und spürte die Kälte der gekachelten Wand.
"Ada", sagte der Kleinste von ihnen, der sich recken musste, um über die Schultern seiner Vordermänner zu sehen, "wie geht es deinem Sehnerv?"
Auf diese alberne Frage folgte ein sekundenlanges Schweigen. Wenngleich die Auseinandersetzung mit Joe kaum drei Stunden zurücklag, fand Ada nur mühsam den Punkt, auf den sich diese Worte bezogen. Für sie war Vergangenheit gleich Vergangenheit; was soeben geschehen war, rückte in den Status des Irrealen und fiel ein paar Meter tief in ein großes Becken, für das die Bezeichnung "Gedächtnis" bei Weitem zu schmeichelhaft gewesen wäre. Aber auch als sie begriffen hatte, worauf die Anspielung sich richtete, verzichtete sie auf eine Antwort. Die Frage diente allein dazu, ein wenig Zeit zu gewinnen. Es war diese Unsicherheit ihrer drei Besucher, die Ada am meisten irritierte.
Woher der Kleine ihren Namen kannte, während sie sicher war, den seinen nie im Leben gehört zu haben, ließ sich nur vermuten. Wenn die Vermutung stimmte, hatte sie ein Problem, und es galt abzuwarten, wie groß das Problem war und von welcher Beschaffenheit. Sie hielt die Augen fest auf die Stirn des Jungen gerichtet, der am nächsten stand.
Nachdem der Kleine sich zum Wortführer aufgeschwungen hatte, musste er weitermachen. Längst war es unmöglich geworden, noch eine Weile untätig herumzustehen und sich danach wieder zu verabschieden. Mit beigedrehtem Oberkörper zwängte der Kleine sich zwischen den anderen hindurch und kam so dicht vor Ada zum Stehen, dass er die Ellenbogen auf ihre Knie hätte stützen können.
"Im Biounterricht", sagte er, "wurde uns kürzlich beigebracht, dass der Sehnerv sich in seltenen Fällen genau hier befindet."
Mit beiden Händen griff er Ada an die Brust, die groß genug war, um auch ohne einschlägige Erfahrung den relevanten Teil zu erwischen, und drückte zweimal zu. Ada spürte, wie ihm eine Brustwarze zwischen die Finger geriet, und der aufsteigende Ekel verschloss ihr für einen Moment Augen und Mund. Was widerwärtiger war, die Berührung selbst oder die Tatsache, dass der Junge eine derart abstruse Überleitung gebraucht hatte, Sehnerv und Biounterricht, um zur Tat zu schreiten, ließ sich auf die Schnelle nicht entscheiden. Die Frage wurde gleichgültig, als er losließ, einen halben Schritt zurücktaumelte und mit ebenso erschrockenem wie verzücktem Gesichtsausdruck fast gegen seine Hintermänner gefallen wäre. Er sah aus wie jemand, der gerade den größten Erfolg seines Lebens errungen hat.
"Was wollt ihr?", fragte Ada. Sie hatte keine Miene verzogen und hielt ihre Atmung so angestrengt unter Kontrolle, dass ihr schwindlig wurde vom Sauerstoffmangel im Gehirn.
"Erst mal einen Schauplatzwechsel", sagte einer der anderen, trat vor und schob den Kleinen beiseite. Der Dritte tat es ihm gleich. Sie fassten ihr links und rechts unter die Achseln, zogen und hoben sie vom Wasserkasten und stellten sie auf die Beine. Ada nutzte die Gelegenheit, um unauffällig tief Luft zu holen. Sie stemmte beide Füße in den Boden, der zu glatt war, um Widerstand zu bieten, legte ihren Angreifern die Arme um die Taillen, krallte ihnen jeweils fünf Finger ins Rippenfleisch und wandte, als alles nichts half, den Kopf, um dem Rechten ins Gesicht zu spucken. Dieser lächelte, während ihm der Speichel an der Nase hinunterrann, und wischte sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung an der eigenen Schulter ab. Der Griff in die Rippen schien keinen der beiden zu stören; vielleicht minderte Adrenalin das Schmerzempfinden, oder, was schlimmer gewesen wäre, sie mochten es, wie Adas Finger ihnen Hemd und Haut zusammenquetschten.
Sie konnte die Aufregung der Jungen riechen, sie roch auch ihre eigene Angst. Es war schwer zu glauben, dass ihr an einem gewöhnlichen Vormittag im Herzen des Schulgebäudes etwas wirklich Schlimmes zustoßen könnte. Trotzdem begann die Tatsache zu wirken, dass diese Jungen, ungeachtet Adas nicht geringer körperlicher Kräfte, ohne Weiteres in der Lage waren, sie mit sich zu schleifen. Wie eine sperrige Schaufensterpuppe hing sie zwischen ihnen, schwer, aber nicht groß, mit Beinen, die im Türrahmen festklemmten und beiseite getreten wurden, mit Armen, die sich ständig irgendwo verhakten.
Der Kleine verließ die Mädchentoilette als Erster und gab ein Victory-Zeichen hinaus auf den Gang. Ada sah Joe im Durchgang stehen, der vom Hauptflur in den Toilettenbereich abzweigte, und sah, wie Joe die Siegergeste erwiderte. Sie überlegte, ob sie schreien sollte. Sofort wären ein Lehrer oder ein paar Schüler herbeigestürzt, Ada hörte die Stimmen der Leute, die sich nicht weit entfernt vor den Klassenzimmern herumtrieben. Ihre Angreifer hätten sich Ärger eingehandelt für einen fehlgeleiteten und nicht besonders lustigen Scherz.
Ada schrie nicht. Etwas hielt sie davon ab, vielleicht der Stolz und das dringende Bedürfnis, einen Aufruhr zu vermeiden; vielleicht war es auch Joes Anwesenheit. Joe lehnte elegant und entspannt an der Ecke zum Flur, als warte sie auf eine Freundin, schüttelte die Ringellocken und sah so niedlich aus mit ihrem kleinen, selbstbewussten Kinn, dass Ada, während sie im Abstand von drei Metern vorbeigezerrt wurde, den aberwitzigen Wunsch verspürte, ihr freundlich zuzulächeln.
Sie wurde in die Jungentoilette verfrachtet. Während Ada sich eine Weile an der Türklinke festhielt, dachte sie darüber nach, ob ihre Angreifer tatsächlich damit kalkuliert haben konnten, dass ein psychologischer Affekt das Opfer am Schreien hindern würde. So viel Raffinesse war ihnen nicht zuzutrauen. Wahrscheinlicht hatten sie gar nicht darüber nachgedacht. Wahrscheinlich verteilte der Zufall mal wieder große Kartoffeln an dumme Bauern.
Es stank. Es stank auf eine Weise, die unmissverständlich klarmachte, dass Putzen nicht mehr half. Der Geruch nach Urin und Schlimmerem kam aus den Rohren, aus dem Inneren der Pissoirs und aus allen Ecken des gekachelten Raums. Erst als die Jungen Anstalten machten, Ada auf eins der Pissbecken zu setzen, fing sie an, sich richtig zu wehren. Einer ihrer Fußtritte traf den Kleinen in den Bauch, dass er Abstand hielt und eine Weile vornüber gebeugt stand, während die anderen ihr einen Arm auf den Rücken drehten und den Griff solange verstärkten, bis sie aufstöhnte und sich auf das Pissoir heben ließ. Ihre Füße erreichten den Boden nicht. Der Hintern drückte sich in das Becken, Porzellan stieß gegen die Hüften, der Duftstein presste sich durch den Stoff der Jeans. Mit einem Mal gab Ada allen Widerstand auf und saß den Jungen ruhig und in fast majestätischer Haltung auf ihrem seltsamen Hochsitz gegenüber.
"Und jetzt?", fragte sie mit unbewegter Stimme.
"Jetzt drehen wir Locken."
Der Kleine übernahm den Polizeigriff im Rücken, während die anderen Adas glatte, halblange Haare um die Finger wickelten, fest und immer fester, bis zur Kopfhaut hinunter. Die Haare gingen in Büscheln aus, Tränen rannen ihr aus den Augenwinkeln über das Gesicht. Die Arbeit bereitete ihnen Vergnügen, steht dir super, gleich siehst du aus wie Joe, Klugheit ist wirklich nur eine Frage der Frisur. Sie lachten und zischten durch die Zähne und schüttelten die ausgegangenen Haare von den Fingern. Ada wurde übel, sie wäre auch ohne Polizeigriff nicht mehr imstande gewesen, sich zu wehren. Die eigenen Tränen brannten wie Meerwasser in den Augen. Schließlich hielt ihr der Kleine nur noch mit einer Hand den verdrehten Arm auf dem Rücken, so dass er die Linke freibekam, um ungeschickt und grob ihre Brüste zu kneten. Sehnerv, kicherte er, ich sehe was, was du nicht siehst. Die anderen achteten nicht auf ihn, sie fuhren fort, sich um Adas Haare zu kümmern. Die Locken halten nicht, wir brauchen eine Brennschere, das machst du doch absichtlich.
Als der Spaß seinem Ende entgegenzugehen drohte, ließ der Kleine ihren Arm los und schob ihr die Beine auseinander. Mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand formte er einen Ring, den er auf Adas Schambein drückte und mit drei Fingern der Rechten zu durchstoßen begann. 3w2Siehst du das, siehst du das. Die beiden anderen ließen von ihr ab, schauten zu, was der Kleine dort tat und machten Mienen wie Kinder, die eine Vogelspinne im Zoo beim Verzehren ihrer Beute beobachten. Dann packten sie wie auf plötzlichen Zuruf den Kleinen an den Schultern, drehten ihn um und rannten aus dem Toilettenraum.
Ada hievte sich aus dem Becken, schlug den an der Hose klebenden Pinkelstein angewidert von sich und spähte mit tränenden Augen durch den Türspalt auf den Gang. Niemand war zu sehen. Der Flur lag ruhig, die Pausengeräusche waren verstummt, der Unterricht hatte begonnen. Sie wechselte vom Jungenklo zurück in die Mädchentoilette, lehnte sich dort neben dem Waschbecken an die Wand und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Wie nach dem Laufen, wenn man es übertrieben hat. Wenn man überlegt, ob man vornüber klappen und kotzen sollte, kotzen allein fürs anschließende Wohlbefinden. Einatmen, ausatmen. So etwas ging schnell vorbei, ein Schwächeanfall, sie kannte das von der Tartanbahn, Unterzucker und Sauerstoffmangel. Mit ruhigen Atemzügen kehrte die Kraft zurück.
Schließlich trat sie zum Waschbecken, stützte beide Hände auf den Rand und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah nicht gut aus, aber weniger schlimm als erwartet. Das Haar war zerzaust, als habe sie Wochen im Bett verbracht, und die Kopfhaut brannte wie nach einer Verätzung. Mit beiden Händen versuchte sie die Haare zu glätten, die für einen Zopf noch nicht lang genug waren. Dem Gesicht war nicht viel passiert, die roten Flecken stammten eher von der Aufregung als von einer Misshandlung. Ada schöpfte Wasser vom Hahn und verrieb es auf dem Hosenboden ihrer Jeans, wusch sich das Gesicht, befeuchtete das Haar und strich es hinters Ohr. Fast wie neu.
Solche Dinge passieren eben, dachte sie. Guck dir die Welt an. Hast du wirklich geglaubt, du kämest drum herum? Das hast du nicht geglaubt. Das Wichtigste ist, dass es vorübergeht. Es geht immer vorüber, so oder so, wie noch jeder einzelne Moment seit Menschengedenken, sei er noch so grausam oder schön, widerstandslos vergangen ist.
Einen grotesken Augenblick lang war Ada froh um das, was geschehen war. Immerhin war sie dabei. Sie lernte, wie man innerlich überlebt, sie hatte es in der Disziplin des Überlebens bereits zu einiger Meisterschaft gebracht. Die latente Angst im Frieden, die sich nachts in Alpträume und tagsüber in ein subversives Gefühl des Unbehagens übersetzte, barg den eigentlichen Schrecken in sich. Ada bildete sich ein, dass ihre Mutter sie in Kindertagen den einen Satz gelehrt habe: Kein Ereignis ist so schlimm wie die Furcht, die es vorausschickt. Und sie führte diese Worte fort: Nichts ist schlimmer als Unversehrtheit, die den Menschen allein seiner Angst überlässt.
Einen Augenblick lang fühlte Ada sich gut. Als sie den Toilettenbereich verließ, sah sie, wie Smutek am hinteren Ende des Gangs zwischen zwei Klassenräumen wechselte. Er hob eine Hand und winkte ihr zu, bevor er verschwand.