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FR | 11.02 | 15:50
Björn Kern (Foto: Suskia)
Björn Kern
EINE HALBE STUNDE NOCH
Erzählung
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Björn Kern

EINE HALBE STUNDE NOCH

Erzählung

Elsa Lindström lauschte seit Stunden der Stille, diesem leise surrenden Nichts, das sich ungeniert breitmachte, auf Kommodendecken und Kleiderzipfeln, auf Bücherbergen und Trockenblumensträußen, als sei nicht Elsa, als sei die Stille die rechtmäßige Bewohnerin der Sonntagstraße 11. Elsa öffnete ihren Mund, die Lippen brachen auseinander, ein Luftzug kühlte ihren Gaumen, und mit der Zunge strich sie über die wunden Striemen, die sich in ihrem Mund bildeten, wenn sie ihr Wangenfleisch unbewusst und über Stunden am Gebiss festsog.

Roch da nicht etwas?

Sie stemmte sich aus dem Stuhl, ihr Gebiss klapperte. Elsa hasste dieses Geräusch. Sie hasste alle Geräusche, die ihr Körper verursachte, das Knirschen der Nackenwirbel, wenn sie ihren Kopf bewegte, das Knacken der Gelenkkapseln in den Knien, das Schmirgeln der trockenen Haut, wenn sie an ihre Stirn fasste, das stundenlange Rumoren im Bauch.

Jetzt roch es deutlich!

Elsa ängstigte sich in der Stille, gegen die auch das Tönen ihres Körpers nicht ankam, in der Zeitung hatte sie von einem Dementen gelesen, den man tagelang im Krankenhauskeller vergessen hatte, und sie fühlte sich, als sei sie bereits seit Jahren vergessen, nicht im Keller, aber in ihrer Wohnung, in ihrer Stadt, in ihrem Leben, das schon lang keines mehr war.

Verbrannt...

Elsa Lindström lebte seit einem Vierteljahrhundert allein. Die Mieter über ihr und unter ihr waren ausgezogen aus der Sonntagstraße, manchmal im Halbschlaf hatte sie noch das Geräusch von Stiefelabsätzen im Ohr, die über ihr auf den Dielen klackten, oder das Rauschen einer Abwasserleitung, das Schluchzen eines Kindes vielleicht, aber sobald sie endgültig erwachte, wusste Elsa, dass sie nur in ihrer Erinnerung noch etwas hörte und nicht mit dem Ohr.

In der Küche qualmte es bereits stark. Elsa eilte zum Fenster, versuchte es vielmehr, der Gehbock stellte sich quer, verkantete sich in einer Bodenrille, Elsa verlor das Gleichgewicht und fasste an den glühenden Herd. Ihr Schrei klang wenig menschlich, quengelnd klang der, gequält, ein süßlicher Geruch stieg auf, wie gegrilltes Huhn, dachte Elsa, die seit Jahren kein gegrilltes Huhn mehr gegessen hatte, die glaubte, ihr würden Hautlappen von den Handknochen schmelzen, es hatte richtig gezischt.

Endlich schaltete Elsa den Herd aus, mit der unverletzten Hand, endlich öffnete sie das Fenster, ein feuchtwarmer Wind ging, brachte das Kläffen der Hunde ins Zimmer und vereinzelt Sirenen, dann ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen, wusste nicht mehr, was sie gekocht hatte, fragte sich, was sie essen sollte, wusste nicht, ob sie Hunger hatte, fragte sich, wo sie war, wusste nicht, ob sie schon lange wartete, fragte sich, auf wen.

Stunden später klingelte es an der Tür, erschrocken stürzte Elsa vom Stuhl. Jemand hantierte am Schloss, trat in den Flur, stand mit einer Plastiktüte in der Küche. Elsa kannte den Mann. Er hob Elsa auf wie ein Kind, legte sie ins Bett, ihre Hand sehe verfärbt und verformt aus, ob Elsa eine Salbe wünsche oder einen Verband? Und obwohl der Mann der einzige war, der sich um sie kümmerte, zog Elsa die Hand fort. Er sagte immer, es rieche verdorben bei ihr, sie versuchte rechtzeitig zu lüften vor seinen Besuchen, diesmal aber war etwas dazwischengekommen, nur was?

Ob sie wieder eine Anekdote für ihn habe?, fragte der Mann aus der Küche, wo er mit Töpfen hantierte und Spülmittelduft verbreitete, der zu Elsa ins Schlafzimmer drang. Elsa liebte ihre Zeitung und die Anekdoten darin, die Zeitung sprach mit ihr, wenn sonst alle schwiegen, die Zeitung zeigte ihr, worauf sonst keiner sie hinwies, solange die Zeitung noch da war, fühlte sich Elsa nicht ganz tot. Liegt ja noch unter dem Wurfschlitz!, wunderte sich der Mann, brachte das Blatt seiner Patientin und verabschiedete sich.

Ob der junge Mann noch einen Saft trinken wolle?

Der Mann war nicht jung, und Saft wollte er nicht.

Als Elsa Lindström erwachte, war alles schwarz. Für einen Moment glaubte sie, es endlich geschafft zu haben, so schmerzlos, dachte sie, so angstfrei, dann aber hatte sie einen sehr irdischen Geruch in der Nase, fast enttäuscht schon befreite sich Elsa von den Zeitungsseiten, die auf ihrem Gesicht lagen, Staub mischte sich in den Geruch der Druckerschwärze, dazu der eigene heiße Atem, noch immer stach nichts aus dem Dunkel hervor.

Wo war sie?

Elsa versuchte sich zu orientieren, in Raum und Zeit, ihren Körper im Zimmer zu verorten, sie suchte das Fenster, sie suchte die Tür, Blaulicht huschte über die Wände, immerhin, dachte sie, noch gaben die Retter nicht auf, vereinzelt gingen Sirenen, dann aber war alles wieder schwarz, still. Elsa strich mit den Fingerkuppen der unversehrten Hand über ihren Körper, über ihr Bett, sie spürte das seidene Hauskleid, die Nähte der Steppdecke, den klebrigen Film auf Wangen und Stirn, dann ertastete sie eine Plastiktüte, sie griff hinein, ihre Hand stieß auf eine kühle Metallschale.

Elsa verstand nicht.

Sie hörte ein schleifendes Geräusch unter dem Bett, endlich gaben die Wolken den Mond frei, sie erkannte das matt beleuchtete Fensterkreuz und auf dem Boden einen Schatten, der sich bewegte, ein anderes Geräusch fiel mit ein, schaben, dachte Elsa, nagen, sie wohne allein, liebe Schaben, stammelte Elsa, die seit langem mit Tieren und Dingen sprach, ade! Ein letztes Schleifen erreichte ihre Ohren, ein Chitinpanzer, der auf den Fliesen kratzte oder zwei kollidierende Schaben vielleicht, dann war es ruhig. Elsa zog sich aus, kroch unter das leichte Laken. Sie lauschte ihrem fiebrigen Atem. Der Mond schien nun kräftiger, das Fensterkreuz warf einen Schatten auf die Fliesen. Das Schleifen setzte wieder ein.

Elsa Lindström beugte sich über den Bettrand, die Schaben scherten sich nicht um ihre Mitbewohnerin, sie kratzten und nagten, als säßen sie direkt in Elsas Ohren, in ihrem Hirn. Elsa streckte die Arme aus, um nach den Tieren zu greifen, sie einzeln aus dem Fenster zu werfen, dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel aus dem Bett. Sie hatte dreizehn Kilo verloren im letzten Jahr, ihr Aufprall auf die Fliesen klang nicht dumpf, ihr Aufprall klang knöchern, etwas knirschte, etwas knackte, sie hatte die Tüte mit sich heruntergerissen, die Metallschale war aufgeplatzt auf den Fliesen, und in Elsas Haaren schimmerte püriertes Huhn, gelblich im Mondlicht, wie eine giftige Substanz.

Direkt vor ihr leuchteten Augen aus dem Dunkeln, eine zitternde Schnauze ragte ins Mondlicht, spitz und behaart, Elsa sah sich in einen Taucherkäfig gesperrt, unter Wasser, vor ihr die Zähne der Haie, sie sah sich an einen Raubtierwagen gekettet, im Zoo, niemand kam sie zu füttern, sie sah sich im Tunnel verunglücken, nachts und allein, kaum sichtbar das Licht am anderen Ende.

Elsa spürte die nasse Rattenschnauze an ihren Wangen und den kalten Atem des Tieres, mit letzter Kraft schlug sie nach der Ratte, die endlich von Elsas Gesicht abließ und sich der Tüte näherte und die Schnauze in pürierter Fertignahrung vergrub. Elsa Lindström hatte seit Tagen nicht mehr gegessen, ihr war übel vor Hunger, vor Scham, sie lag halb nackt auf den Fliesen, mit Huhn im Haar, wie sah das denn aus!

Sie döste ein wenig, sah sich im Wald liegen, auf einer Lichtung, über ihr ein Berg voller Insekten, die rasselten, Elsas Hand und ihr Knie waren im trockenen Waldboden vergraben, sie atmete Sand, und als die Lunge bis an die Ränder damit gefüllt war, schmerzte ihr Brustkorb, platzten die Adern im Hirn, wachte sie von Sirenengeheul auf. Es war erneut wärmer geworden.

Seine Tour endete in der Sonntagstraße 11. Abend für Abend bog Bruno Bunter in die kleinen Straßen von Friedrichshain, wo sich kaum mehr ein Mensch zeigte, wo aus den Gullydeckeln das Unkraut spross, Abend für Abend passierte er Häuserschluchten, von denen der Putz auf die Gehwege bröckelte, von denen selbst im Sommer eine morbide Feuchtigkeit auf das Pflaster strahlte, und nur selten noch blinkten die Reflektoren eines Rollstuhls in der Abendsonne auf.

In Brunos Autoradio lief ein altes Lied, das er noch aus der Kindheit kannte, das schon in seiner Kindheit ein Oldie gewesen war, Bruno regelte die Lautstärke, stellte das Radio versehentlich ganz aus, klopfte dennoch auf dem Lenkrad den Takt weiter, ALWAYS LOOK ON THE BRIGHT SIDE OF LIFE, und so wenig er allabendlich wahrnahm, dass noch mehr Putz von den Mauern bröckelte, dass noch weniger Autos die Straßen durchquerten, dass die Rudel noch überheblicher kläfften, so sehr schockierte ihn mit einem Mal die Erinnerung an ein Café in der Simon-Dach-Straße, in dem er diesen Song das erste Mal gehört hatte, zu einer Zeit, als der Kiez noch überquoll und die Häuser frisch renoviert waren, das schien noch gar nicht so lange her.

Bruno Bunter ließ nicht zu, dass seine Gedanken ihm die gute Laune trübten, er hatte nur noch eine Patientin abzufertigen, dann hätte er Feierabend, in seinem Kühlschrank warteten sechs Flaschen Bier. In einer halben Stunde würde er vor dem Fernseher liegen und die Wohnungen voll Ratten und Kakerlaken wegzappen, die Betten voll Urin und voll Kot und das stinkende Wundsekret, die Greise würde er wegzappen, mit offenen Rücken und offenen Hintern, die Greise, die mit sich selbst oder überhaupt nicht mehr sprachen, die entstellt auf dem Pflaster lagen, die blau angelaufen am Seil hingen oder mit Schaum vor dem Mund in der Ecke darbten, Bruno dachte: diese ganzen einsam am Leben gehaltenen Toten. Nur eine halbe Stunde noch!

Fast schon überschwänglich fragte er sich, was seine letzte Patientin sich wohl diesmal ausgedacht habe, ob sie wieder am Herd stehe und koche, für die ganze Familie, Bruno schmunzelte, die Frau lebte seit Jahrzehnten allein, ob sie wieder auf dem Klo eingeschlafen sei und ihr Nachthemd in den Kühlschrank gesperrt habe, ob sie die Fenster wieder mit ihrem gebrauchten Schlüpfer putze oder ihre Lesebrille auf der Herdplatte schmelze, ob sie ihr Bettgestell mit Tomatenmark lasiere oder ihren Mantel zu Konfetti gelocht habe, Bruno wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln, die Frau war wirklich gut!

Er bog von der Gryphiusstraße in die Sonntagstraße und parkte den gelben Kombi vor der Hausnummer 11. Der Teer strahlte Hitze ab, war weich geworden an einigen Stellen, am Straßenrand wehten im Abendwind kleine Farne. Bruno schlug die Fahrertür zu, das satte Schmatzen kam als Echo von der Hauswand zurück. Von weitem jaulten schwachsinnig die Hunde.

Das Fenster der Alten war geschlossen, seltsam, dachte Bruno, sonst lüftete die Frau immer, bevor er kam, er hatte oft genug darum gebeten, vor allem im Sommer war sein Job eine Zumutung. Bruno stieg das Treppenhaus hinauf, durch immer wärmere Schichten von Luft, die Türen zu den leeren Wohnungen standen offen oder waren ganz aus den Angeln gekippt, in den Eingangsbereichen wehten Spinnweben, Bruno stolperte über den Treppenabsatz im vierten Stock und klingelte bei ELSA LINDSTRÖM.

Die machte nicht auf. Genervt und ergeben probierte ihr Pfleger Chipkarte um Chipkarte, fand endlich die richtige, ein organischer Verwesungsgeruch überwältigte ihn, sobald die Tür auch nur einen Spalt geöffnet war, Urin?, Buttersäure?, Speck?, Bruno wollte die Tür am liebsten sofort wieder schließen, er steckte sich ein Kaugummi in den Mund, schmeckte die chemische Frische, eine halbe Stunde noch!, sagte er sich dann, hielt sich das Hemd vor den Mund und rief seine Patientin, die er aus dem Schlafzimmer jammern hörte, wimmern vielmehr, heiser und hell.

Elsa lag noch immer auf den Fliesen, auf die sie vor Stunden gestürzt war, unbekleidet bis auf den Schlüpfer, sie zitterte, in ihren Haaren und um sie herum klebte eine gelbbraune Substanz. Ihr rechtes Bein stand eigenartig vom Becken ab, am Kniegelenk knickte es noch einmal nach außen, Bruno spürte den Schmerz geradezu selbst. Was für einen Schleim sie da in den Haaren trage, fragte er, ihre Familie sei tot, da gebe es nichts mehr zu kochen! Dann setzte er eine Spritze, nach der Elsa keinen Schmerz und auch sonst nichts mehr spürte, und hievte Elsa ins Bett, deutlich ächzten ihre Gelenke.

Bruno Bunter rieb sich die Stirn trocken und atmete durch, er stützte sich auf den Knien ab, entdeckte die aufgeplatzte Alupackung auf den Fliesen und stutzte. Die Frau hatte ja gar nichts gegessen! Was von der Mahlzeit fehlte, war über die Fliesen verteilt. Bruno bückte sich nach der Packung und warf dabei einen Blick unter das Bett. Er glitt auf die Knie, fand weitere Alupackungen, ordentlich gestapelt wie Barren aus Edelmetall, allesamt eingeschweißt, allesamt unberührt.

Frau Lindström!, sagte Bruno viel zu laut, weil er seine Patienten sicherheitshalber auch dann anschrie, wenn sie, wie Elsa, noch tadellos hörten, ich nehm Sie besser mal mit! Seine Chefin hatte vor Monaten schon die Unterschrift besorgt, die Elsa Lindström all ihrer Rechte beraubte, es war einfach geworden, an diese Unterschrift zu gelangen, einen Juristen zu finden dafür, die Fälle häuften sich, und die Nutznießer formierten sich schnell.

Wie zum Abschied musterte Bruno die weiß lohenden Haare seiner Patientin und die slawisch breiten Wangen darunter, er betrachtete Elsas graue Gesichtsfarbe, ihre halbgeschlossenen Augen, die kleinen Adern auf ihren schmutzigen Lidern. Die Greisin krümmte sich auf dem Bett wie ein Säugling, Bruno deckte sie zu, formte ihre Haare zu einem Dutt und wog das Haarbüschel eine Sekunde lang in seiner Rechten, roch schließlich daran und schüttelte sich, als müsse er den Geruch wieder loswerden, als habe er den Geruch nur geträumt.

Dann stellte er Elsas Rollstuhl neben das Bett, griff seiner Patientin unter die Arme und zerrte sie über die Bettkante. Elsa riss die Augen auf. Als ihr Oberkörper bereits den Rollstuhl berührte, ihr Gesäß aber noch auf dem Bett ruhte und die Beine wie abgeknickt von der Matratze baumelten, fiel Bruno ein, dass er Elsa zunächst anziehen sollte, er legte sie zurück ins Bett und zog ihr ein Nachthemd über, das am Rücken geschlitzt war, so konnte er Elsa bekleiden wie eine Papierpuppe, die Frau war ebenso dünn.

Ihr rechtes Knie schimmerte gelb und grün, Bruno versteckte die Blessur unter einem Tuch, dann zerrte er die Frau abermals in den Rollstuhl, und als die Lehne Elsas Gesäßhälften trennte, entfuhr ihrem Körper Luft, Bruno wischte sich Schweiß von der Oberlippe und rumpelte rückwärts mit Rollstuhl und Elsa das Treppenhaus hinab.

Elsa Lindström erwachte in einem Zimmer, das mit sechseinhalb Quadratmetern gerade noch der gesetzlichen Mindestgröße für Heimzellen entsprach. An der Decke surrte ein Ventilator, das Zimmer war winzig, aber sauber und hell, rundum gekachelt wie ein Schlachthaus, so ließe sich all das problemlos abspritzen, was bis zu Elsas endgültigem Auszug von ihrem Körper noch an die Wände fand.

Schweigend strich Elsa über das Metallgitter ihres Krankenhausbettes, ihre Irrfahrt hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht, wie sie intuitiv erfasste, nicht sie selbst hatte ihre missliche Lage verursacht, dieser junge Mann und seine Chefin waren schuld, die Elsa fütterten und spritzten, die Elsa verluden und vergaßen, was sie nicht ganz durchschaute, wovor sie sich umso mehr fürchtete, Elsa wollte hier raus.

Sie wollte raus aus dem Bett mit diesem eisigen Gitter und raus aus dem Zimmer mit diesen eisigen Kacheln, sie wollte raus aus dem Gebäude mit diesen eisigen Menschen, sie wollte einfach nur raus. Wie so oft fühlte sich Elsa, als trenne sie ein Filmriss von der Vergangenheit, von der Außenwelt, wo kam sie her?, wo ging sie hin?, wie so oft sagte sie sich, was sie zweifelsfrei wusste: Elsa Lindström, sagte Elsa Lindström, siebenundneunzig Jahre, geboren in Hohen-Kremmen, im Ruppiner Land, sie verstellte ihre Stimme, sagte: nicht immer klar, aber friedlich.

Elsa lächelte. Bruno hatte das gesagt, in sein Handy, als er in der Sonntagstraße war, vor einigen Tagen. Oder Jahren? Sie hatte jedes Wort verstanden, nicht immer klar, aber friedlich, Bruno hatte geschrieen, Bruno dachte, sie höre ihn nicht. Bruno! Natürlich, so hieß der junge Mann! Solange sie nicht zwanghaft nach Namen und Erinnerungen suchte, war ihr Gedächtnis gar nicht so schlecht.

Elsa wusste, dass sie schon in einem Monat nicht mehr wüsste, was sie jetzt noch wusste, sie hatte den ganzen Tag nichts zu tun, aber die Zeit drängte, hier drin würde Elsa im Zeitraffer zu Staub verfallen, man hörte schon jetzt nicht auf sie, obwohl sie vollkommen klar war, scharfsinnig fast, Elsa Lindström, sagte Elsa Lindström, siebenundneunzig Jahre, sagte sie, was kann ich für Sie tun?

Die Zeit, in der Elsa etwas für andere tun konnte und niemand etwas für sie zu tun hatte, schien ihr einem anderen Leben zugehörig, sie war seit dreißig Jahren in Rente, sie hatte Papierwaren verkauft und Briefmarken, Buntstifte und Radiergummis und ihre geliebten Zeitungen, an Ostern auch Sträuße, an Sylvester Raketen und Blei, Elsa war all das unendlich fern und unendlich nah. Sie sah ihre Mutter blass auf der Bahre liegen, inmitten von Trümmern, sie sah ihren Vater auf dem Hof in Brandenburg, Keltern als Hobby, das Geld kam seit langem vom Amt, sie sah ihren eigenen Laden in Friedrichshain, gehalten im alten Stil, mit Auslage und Kasse und echten Kunden.

Die Zimmertür wurde aufgerissen und Bruno Bunter preschte ins Zimmer. Seine Patientin schüttelte unmerklich den Kopf. Ob man nicht klopfen könne, ihr Zimmer sei zwar klein wie ein Sarg, aber sie selbst noch lange nicht tot, und auch nach ihrem Tod wünsche sie, dass angeklopft werde, was es zu stören gebe, und wo sie hier überhaupt sei?

Frau Lindström!

Seit ihrer Einlieferung hatte Elsa keinen einzigen Satz gesprochen, kein einziges klares Wort, hatte sie allenfalls Wimmern und Jammern von sich gegeben, und so fühlte sich Bruno, als habe er eine Tote in der Leichenhalle bei der Reinkarnation erwischt. Frau Lindström, ist Ihnen nicht wohl?

Elsa spitzte ihre Lippen. Ich bin nicht, sagte sie, bin ich nicht, ich bin nicht, bin nicht ich – ich bin nicht, nicht bin ich nicht... Sie spürte die Angst. Mit Angst konnte Elsa nicht sprechen, mit Angst konnte Elsa nicht denken, mit Angst wurde Elsa so hilflos, wie der Mann vor ihr das glaubte, mit Angst kam neue Angst, und die fraß Elsas Hirn, und sie wurde wütend und boxte gegen das Metallgitter, und ihre Knöchel krachten, und Elsa krächzte sehr hilflos, und dann sagte Bruno Bunter, er habe da was für seine Patientin, und das Pieksen spürte sie fast nicht.

Elsa Lindström erwachte am Abend, es war noch immer heiß draußen, sie nahm einen Schluck Wasser, fühlte sich frisch. Sie klingelte nach der Schwester, wenig später betrat Bruno ihr Zimmer, das sei aber eine Überraschung!, sagte sie ehrlich erfreut, ob er auch eingeliefert worden sei, man habe es nicht schlecht hier, nur fehle die Zeitung, sie wolle ja nicht wie die anderen –, und hier blickte Elsa schelmisch zu Boden und tippte sich an die Schläfen, er wisse schon, die Zeitung halte sie fit.

Bruno Bunter nahm den Schlüpfer von der Nachttischlampe, mit dem Elsa sich vor dem allzu grellen Licht hatte schützen wollen, der Schlüpfer war angeschmort, wo er die Birne berührt hatte, Bruno drehte den Lichtkegel zur Seite, wobei er beinahe das Wasserglas vom Nachttisch fegte, eine richtige Zeitung, sagte er, die führe man auf der Station leider nicht.

Wenn sie aber –

Elsa war empört. Sie sei doch hier nicht in einem Heim für arbeitslose Seefahrer, Bruno solle ihr jetzt nicht mit einem Magazin kommen, einem lausigen Blatt für senile Alte, oder was sonst man hier lese, sie, Elsa Lindström, sei siebenundneunzig Jahre alt, geboren in Hohen-Kremmen, im Ruppiner Land, sie lese seit siebzig Jahren Tag für Tag Zeitung, und ein Magazin oder gar etwas Buntes, das lese sie nicht.

Bruno, der in seinem Leben noch nie eine richtige Zeitung aufgeschlagen hatte, konnte nicht glauben, dass seine Patientin die unbehauenen Textblöcke darin wirklich verstand, aber darum ging es auch gar nicht, wie Bruno erahnte, als er den angeschmorten Schlüpfer in den Mülleimer warf und Elsa unter Tränen auf das Metallgitter ihres Krankenhausbettes einschlug, oh nein, darum ging es nun wirklich nicht.

Ich hol Ihnen eine!

Ach Bruno!

Wenige Minuten später saß Elsa aufgerichtet in ihrem Bett, vor sich die Zeitung, ihre Finger färbten sich von der Druckerschwärze, Elsa las und vergaß einen Artikel über die neue Jahrtausenddürre, sie las und vergaß einen Artikel über die neue Jahrtausendflut, und als sie gerade die Zeitungsseiten auf die Bettdecke gleiten ließ, sagte Bruno, der Elsas Leseversuche in aller Stille beobachtet hatte, wenn Elsa Hilfe benötige, dann sei er für sie da.

Elsa zuckte zusammen, und ohne auch nur im Ansatz etwas zu verstehen, wurde sie ruhig. Sie las noch eine Todesanzeige, dann legte sie die Zeitung beiseite, betrachtete die Dämmerung draußen, und schon kam wieder die Angst. Die Angst war zu Elsas ständigem Begleiter geworden, nachts, wenn sie aufwachte, tags, wenn sie einschlief, immer spürte sie eine Leere in ihrem Hinterkopf, die Hören und Sehen und Fühlen durcheinander wirbelte, eine Leere, gegen die Elsa ankämpfte, an guten Tagen, und vor der sie kapitulierte, an nicht so guten Tagen, immer war da die Angst, noch versuchte Elsa, Land zurückzuerobern, und in klaren Momenten wusste sie, dass sie den Kampf längst verloren hatte, dass ihr Gedankenfluss unaufhörlich stockender wurde und irgendwann, nach einem letzten Feuersturm, unter Lagen von schwarzem Sand dann verschwand.

Bruno war fort. Hatte er gesagt, was sie gehört, hatte er gemeint, was sie verstanden hatte? Hatte sie überhaupt etwas verstanden? Das Denken ermüdete Elsa wie eine physische Anstrengung, gerade noch hatte sie den Zipfel einer Erinnerung erwischt, ein Einfallstor gefunden, in die Abgründe ihres Zustands, und schon spürte sie die Leere wieder, erstarb alles Klare und Fassbare, zerfiel Elsas Hoffnung zu Staub. Sie sah den Gehbock vor sich, die glühende Herdplatte, dann roch es nach Huhn, Nagerzähne klapperten, ein Mann kam, der Mann, für den es zu stark roch in der Wohnung, wie hieß der noch?, man war Auto gefahren, und dann, dachte Elsa, und die Angst, den Gedanken nicht zuende zu bekommen, bewirkte ebendas: der Gedanke brach ab, verendete in den Weiten des Raums, in denen der Patient aus der Zeitung aufblitzte, seit Tagen vergessen im Krankenhauskeller, leben, dachte Elsa, oder sterben, aber bitte nicht so, und stumpf starrte sie vor sich hin.

In derselben Woche noch spürte Elsa die Spritze, ganz, wie sie jede Spritze gespürt hatte, das war nicht kalt, das war nicht warm, das tat nicht weh, das tat nicht gut, sie spürte, wie die Flüssigkeit austrat unter der Haut, wie die Venen dicker wurden, sie konnte nicht atmen, ihr Brustkorb drückte auf die Lunge, Elsa wollte nicht fort.

Frau Lindström?

Elsa rief um Hilfe, kein Laut verließ ihre Kehle, die trocken war und kratzte, Elsa tastete nach dem Glas auf ihrem Nachttisch, die Lampe blendete, das Glas kippte herab auf die Kacheln, Klirren, Schreck, Scherben, und vor Elsas Mund bildete sich Schaum, den sie auf ihrem Gesicht verrieb, Schwindel befiel ihr Hirn und dann ihren Körper, der nie einen Mann gekannt hatte, der von der Zunge abwärts gelähmt war, und als Elsa zu schreien versuchte, erbrach sie sich, worauf die Fledermäuse nur gewartet hatten.

Können Sie mich hören?

Elsa wollte ihren Namen durchstreichen, wie es ihre Kunden getan hatten auf den Testblöcken im Laden, Elsa wollte die Fledermäuse nicht haben, sie wollte den Abend nicht haben, sie wollte ihr Leben nicht haben, sie wollte den Tod nicht haben, Bruno hatte gesagt, er helfe, und jetzt war es schon elf oder halb vier, in der Nacht, und die Stille legte sich wie ein Sarkophag über Elsa, die auf den Morgen wartete und sich vor der Morgenröte fürchtete oder vor einem Jahrhundertsturm, der meterhohe Verwehungen blasen würde, bis unter das Fenster, aus märkischem Sand, die Wölfe jaulten bereits, und die Temperaturen stiegen, es waren fünfunddreißig Grad, wer hatte die Zeitung zugeschlagen, Elsa fand die Seite nicht mehr, mit dem Krieg und der Dürre, Elsa musste raus aus dem Bett, aus dem Zimmer, aus dem Haus und am Kiosk die Zeitung holen, solange der Ventilator noch rauschte und Rufe hallten, von fern aus den Straßen.

Frau Lindström!

Bruno sollte den Angriff abwehren, das Rudel formierte sich direkt vor dem Haus, die Nachttischlampe war viel zu grell, Elsa wollte das Kabel herausreißen aus der Wand, Pfeile durchschossen Elsas Schädel und bohrten sich inwärts, ins Hirn, Bruno sollte die Pfeile herausziehen, Elsa tropfte schon, und neue Pfeile surrten, und sobald sie Elsas Augen träfen, gäbe es Smog in Mexico City, und sobald sie ihren Mund träfen, würden die Kinder trocknen, die sie nie gehabt hatte, und Elsa entschied, welches Kind vertrocknete und welches ersoff, Elsa allein entschied das, die alte Jungfer, sie musste den Pfeilen ausweichen, manchmal waren sie zu schnell, weil Elsa das Massaker begangen hatte und die Gefangenen gelyncht und die Bombe geworfen, Elsas Hirn kotzte die Zeitung aus, ihr Hirn war schon satt vor dem Frühstück, am Bombenkrater sorgte die Feuerwehr dafür, dass der Brand nicht übergriff auf die umstehenden Häuser, Gewehrsalven zogen über ihren Kopf hinweg und löcherten ihren mageren Körper, aus dem nicht einmal Blut floss, ihre Kleider brannten, ihre Haut brannte, verschmorte wie damals, Elsa wickelte sich in die Löschdecken, hergestellt nach Altdeutscher Industrie Norm, Nummer 20011.

Frau Lindström, spüren Sie das?

Elsa musste das Feuer auswalzen, Kerzen nie unbeaufsichtigt brennen lassen, Feuerwerkskörper nur im Freien verwenden, immer zuhause verenden, Elsas Schädel krachte gegen die Wand und die Scheibe, und Glas barst in Stücke, und die Nacht kam herein, vierzig Grad, kurz vor dem Schmelzen löschte Elsa den Brand auf dem Hof ihrer Eltern, in Elsas Kopf steckten Splitter, aber das Glas war nicht bunt, morgen müsste Elsa ordentlich durchsaugen, man konnte kaum mehr barfuß gehen auf den Kacheln, und hinter den Scherben steckte Bruno und klapperte mit den Zähnen, Elsa hätte gedacht, die seien schwarz.

Frau Lindström, ...

Die Wölfe jaulten, der Hof brannte wieder, und Elsa wollte Bruno erklären, ihr Tag sei die Nacht, Bruno aber hörte sie nicht, sein Mund hatte dunkle Lippen, eine rote Zunge saß tief in seinem Schlund, dann räusperte er sich, dass Elsa die Scherben aus dem Schädel sprangen, es war noch nicht einmal elf oder halb vier, in der Nacht, und Elsas Zelle war eingesandet, und die Sirenen heulten, und überall herrschte der Ausnahmezustand, in der Hauptstadt, in der Provinz, in den Wäldern, die Fledermäuse waren tot, wen fraßen die Ameisen und wen fraßen die Würmer, bitte nicht füttern, Raubtierhaus ab vierzehn Uhr geöffnet, Karten an der Kasse erwerben, bitte hinten anstellen, nur abgezähltes Geld einwerfen.

So ist es gut!

Elsa hatte das Wasser auf den verwüsteten Landstrich geschüttet, in Fernost, die Leute kletterten dann auf die Dächer, das sah immer so lustig aus, und wenn ein Tierkadaver vorbeitrieb, auf einem Foto, auf Seite drei in der Zeitung, riet Elsa, Hund oder Wolf, und das Wasser hatte sie aus der Wüste genommen, dort wuchs nun nichts mehr, die Beduinen liefen Tag für Tag, Kilometer um Kilometer, weil ihre Brunnen versiegten, Bewegung schadete nicht, war gut gegen Krebs, wie der Vater gesagt hatte, gesunde Ernährung, genügend Bewegung, und an den Tierskeletten zählte Elsa die Rippen ab, allein dafür hatte sich alles gelohnt, das Wasser, die Wüste, die Hitze, Elsa war auf und davon geschrumpft, warum schrumpfte nur Elsa und nicht auch die Angst, die Nacht war zu lang, Elsa konnte das Ende nicht finden, es war elf oder halb vier, in der Nacht, und Elsa lutschte das Erbrochene von den Fliesen, die Wölfe kamen, oder nein, waren schon tot, Eis wurde zu Schnee, wurde zu Wasser, wurde zu Sand, wurde zu Feuer, plus vierzig Grad und im Feuersturm das zwanzigfache, der absolute Höhepunkt seit Beginn der Aufzeichnungen.

Atmen Sie ruhig!

Gegen vier würde die Welt erwachen, nur Elsa nicht, Fahrstühle würden gehen und Bahnen fahren und Uhren ticken, ihr Herz aber schlüge nicht mehr, Elsa wollte noch einmal Kinder streicheln, notfalls auch fremde, und ihre Mutter sehen, nach achtzig Jahren war das auch an der Zeit, die Sonne knallte auf Elsa und auch auf den Hof und die Äpfel, die reiften, in Brandenburg, und Elsa wollte den Schleier wegziehen, über den Äpfeln und über der Mutter und über sich selbst, aber ihr Arm war zu kurz, der Sand stob ihr in die Augen, und niemand leitete die Blitze ab, die über dem Hof niedergingen und die Obstbäume in Brand setzten, ihre Eltern hatten Elsa das Keltern erklärt, die Äpfel brauchten Licht und kein Feuer, und Elsa brauchte Licht und kein Feuer, und weit unter sich sah sie ihren Körper liegen, und Bruno berührte sie am Handgelenk und an den Augen, und Elsa fühlte sich leicht.