Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
PeterLicht (Foto: Christian Knieps)
PeterLicht
Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends
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Es ging mir gut. Ich war gesund, und ich hatte Geld. Nicht gerade unglaublich viel Geld, aber ich hatte. Ich konnte mir leisten, was ich mir leisten können wollte, und ich konnte auch mal einen Schlag drauf legen. Zwar war der Schlag so groß jetzt nicht. Aber immerhin. Ein mittelgroßer Schlag. OK sagen wir eher mal an der unteren Grenze von mittel, oder vielleicht am oberen Rand von unten, also auch nicht ganz oben am oberen Rand. Sagen wir, in einem gemessenen Abstand zu diesem oberen Rand. Oder vielleicht mit der leichten Tendenz zu "mittel". Sprich:

Ich hatte mittel Geld. Mittel Geld im Bereich von "unten". Obwohl, das müßte ich nochmal genauer fassen. Die natürliche Fruchtfolge vom Geld ist ja das Auf und Ab, und die Natur meines Geldes war wohl doch nicht "mittel", sondern vielleicht einen Tacken in Richtung: ein wenig unterhalb von mittel von unten. Das klingt jetzt ein wenig kompliziert. Um es zu vereinfachen, würde ich sagen, daß man es auch als "unten" bezeichnen könnte.

Also ok, mein Geld war unten. Aber immerhin, Geld war irgendwie da. Wenn auch vielleicht eher so: das Thema Geld war irgendwie da. Also das kann ich sagen, das Thema Geld, da war ich so im Bereich voll oben. Ich könnte also sagen, ich war voll von Geld. Überall kam es mir aus den Poren. Geld Geld Geld Geld. Geld flog in meinen Gedanken umher. Es klimperte unentwegt. Alles, was ich aufmachte, klimperte mir entgegen. Münzen Münzen Münzen. Man könnte auch so sagen: Meine Schulden waren halt geringer geworden. Sie waren vergangen. So wie der Winter vergeht, und jetzt ging es auch schon wieder aufwärts, also aufwärts im Sinne von: im Prozeß sein im Sinne von: in Bewegung hin zu dem Punkt, von dem an man die neuen Schulden als weniger betrachten könnte, wenn man wollte. Also die neuen Schulden wurden immer weniger. So könnte man vielleicht sagen. Es kam kein Minusgeld mehr hinzu, es überhäufte mich nicht, wie es mich mal überhäuft hatte. Ich war ja mal im Minusgeld geschwommen, das kann ich wirklich sagen. Geschwommen. Gekrault. Delphin. Alles. Ab einem bestimmten Punkt kommt man ja nur noch per Delphin drüber, so hepp, drüber über sein Minusgeld. Wie ein Raddampfer mit flachem Kiel. Ich möchte mal so sagen: ich lag wie ein gestrandeter Wal auf der Seenplatte meines Minusgeldes. Aber vielleicht – kann man ja ruhig sagen – vielleicht auch eher auf dem Ozean meines Geldes von unten. Vielleicht besser: Weltmeere. Also ich lag wie ein gestrandeter Wal, aber vielleicht sollte man eher vom Ozeandampfer oder Flugzeugträger sprechen, aber warum nicht gleich Ölbohrplattform? Wobei Ölbohrplattform einen Schuß ins Beschönigende hätte. Ich würde dann vielleicht besser von einer, sagen wir mal – kost ja nix – gestrandeten Insel sprechen.

Also dies wäre mein Zwischenergebnis: Ich lag wie ein gestrandeter Erdteil auf dem Weltmeer meines Minusgeldes.

Aber ok. Ansonsten gings mir gut. Die Sonne schien mir, und ich hatte helle Gedanken. Irgendwo schien immer die Sonne über mir. Und ich immer wieder Kontrollblick: Ahh, ok Sonne – da bist du ja und Ahh – ich! Da bin ich ja. Also da Sonne. Da ich.

Gut, jetzt nicht wirklich jeden Tag, nur Sonne. Immer Sonne heißt: es gibt ein paar Graustufen, Angrauungen, etwas dunklere Fleckchen. Dann und wann ein Wölkchen, einen kleinen Cummulus-Amigo, sagen wir – einen weißen Bausch, der sich in der Ferne am Horizont verliert über dem gleißenden Land. Und was dann ja ganz natürlich ist, wenn ein Störer die ewige Sonne kreuzt – dann gibt es einen Schatten, und es ist für einen Augenblick etwas dunkler. Für einen Moment, oder mal eine kleine Phase, eine Zeitspanne. Also es gibt eben auch mal das kurze Gegenteil von Sonne. Eine momentane Eintrübung. Und dann ist es nicht ganz so hell und strahlend, sondern hat einen kleinen Stich ins etwas Dunklere. Wollen wir durchaus mal so sagen: es gab schon mal auch nicht so helle Momente in meinem Leben, und wenn dann die Sonne durchbricht durch die dunkleren Phasen, dann muß ich sagen, ist es schon ein freudvoller Moment, also manchmal durchaus auch ein nicht so immer daseiender Moment.

Ok: ich freue mich, wenn dann und wann die Sonne durchbricht im trüben Himmel, der auch mal dunkler sein kann und vielleicht sogar ein wenig finsterlich anmutet. Eigentlich gibt es schon rabenschwarze Momente, d. h. Momente im Sinne von: kann ruhig auch mal was länger dauern, der rabenschwarze Himmel, der auch eigentlich schon gar nicht mehr unter Himmel läuft, sondern unter Erdmatsche. In der Ewigkeit der Schwärze gab es vereinzelte Lichtblitze, die aber eigentlich alles noch dunkler machten, weil man sich ihretwegen nicht an die Dunkelheit gewöhnte, sondern immer wieder daran erinnerte, daß es ja eigentlich auch nicht dunkel sei müßte. Also ok. Das Ergebnis lautet:

Ich befand mich in dauernder ewiger schwarzer totaler Nacht. Ich befand mich im Inneren eines Gebirges. Ich befand mich in absoluter Finsternis. Na gut – immerhin regnete es nicht. Es war trocken, und so konnte man es ganz gut aushalten. So würde ich das mit mir umschreiben: es war zwar schon durchaus ein wenig dunkel, aber es regnete nicht und die Wärme der Nacht umwehte mich. Es war daher alles gar nicht so tragisch. Es war ok. Hepp. Was jetzt nicht heißen soll, daß es so unangenehm staubtrocken juckig gewesen wäre. Nein, es fielen schon mal ein paar Tropfen vom Himmel. Und – hepp – Glückspilz, der ich war! Da landete auch schon mal ein vereinzelter Regentropfen – hepp – direkt auf meiner Lippe. Ah – schöner Regen –, so laß ichs mir gefallen. Lippen trocken – zack schon benetzt. Tröpfchen auf die Unterlippe. Gut gehts mir.

Was dann vielleicht ein bißchen unokay ist, wenns dann hin und wieder – selten zwar, doch aber dann schon –, zu nieseln anfängt oder zu schütten und wenn dann der Monsun einsetzt (was durchaus selten vorkam oder häufiger oder mitunter oft mit der Tendenz zu immer), und die Straßen verwandeln sich in Schlammwasserkanäle, und ich wate mit der Brust durch die Fluten, und wenn dann die Gullideckel hochgehen, weil das Wasser sie von unten aus der Kanalisation drückt, und man läuft durch die Brackwasserstraßen, undurchdringlich verdreckt und undurchschaubar das Wasser, und man bemerkt eben nicht den Gullideckel, der nicht mehr da ist, und tritt ins Nichts sprich versinkt im Dreckswasser – und so eine Stadt hat ja schon einen ganz schönen Dreck zu bieten, das muß man sagen, und man sinkt also und sinkt und überall nur braunes Dreckswasser voll von Rückständen und Gegenständen der unterschiedlichsten Art, wobei das dann auch leblos gewordene Lebewesen sein können, von denen man gar nicht reden will in so einer Situation, und man hat ja auch nicht immer seine Atemflaschen an, und wenn man sie anhätte, wären sie wahrscheinlich abgerissen, weil die senkrecht nach unten in die Unterhölle führende Kanalröhre so schmal ist, daß man mit den Preßluftatemflaschen auf dem Rücken da gar nicht mehr durchkommt, und dann ist man eben ohne Luft unterwegs, was dann natürlich die zeitliche Länge der Reise im Unterwasserdreckswassergebiet der Stadt ein wenig oder doch schon erheblich begrenzt. Also das muß man sagen, wenn dann zu den Wassermassen noch Sturmeinwirkungen, aufpeitschende Oberflächenwasser, hinzukommen, dann muß ich sagen, ist damit ungefähr das Gefühl beschrieben, das aufkommt, wenn ich insgesamt den Themenkomplex "Liebe" bedenke. Also Phänomen Liebe, wo ja auch die Gullideckel aus den Halterungen geschwemmt sind und man in Löchern versinkt, die man nicht sieht, weil man bis zum Hals in was drin ist, und in jedem Loch, da steckt auch schon ein anderer Unglücklicher, der es nicht gesehen hat oder zu unvorsichtig war, und es gibt auch ein allgemeines Überschwemmtsein; es schwimmt ja schon eine Menge Zeugs umher, so eine Gesellschaft, die bringt ja schon was hervor.

So ungefähr gestaltete sich das bei mir mit der Liebe. Das war natürlich schlimm. Tendenziell muß ich aber doch einschränkend hinzufügen, daß meine Freundin und ich uns eigentlich ganz gut verstanden und es deshalb eigentlich nur halb so schlimm war. Gut, all diese furchtbaren, verstörenden und deformierenden Einwirkungen, denen eine Persönlichkeit im Rahmen einer Liebe so ausgesetzt ist, muß ich schon sagen, das ist allerhand. Aber meine Freundin und ich, es war einfach wunderbar. Wir liebten uns, wie es schöner nicht sein kann. Es war das reinste Wasser. Und das leichteste. Dies war die beste aller möglichen Zeiten, und wir waren mittendrin. Das Licht lag in großen Bündeln auf den Feldern. Ballen von Sonnenlicht. Und wir konnten uns soviel davon nehmen, wie wir wollten. Ja, wir lagen tatsächlich viel in Wiesen, und die Schmetterlinge ließen sich auf uns nieder, und der Himmel war groß, und ein Ende war tatsächlich nicht in Sicht. Was soll ich sagen? Ich war einfach nichts als glücklich. Die Bäume trieben die Blüten in den Himmel. Und unsere Blüte – ich will gar nicht davon sprechen. Wir standen in einem wogenden Kornfeld. Das Feld rauschte. Soweit die Sinne reichten, war niemand zu sehen. Die Welt roch nach dem frischen Wind des Universums. Der Himmel war blau, die Wolken weiß. Und es war alles möglich. Wir waren hierhergekommen wie durch ein Wunder. Es hatte sich einfach so ergeben. Wie sich alles so ergab. Wir hatten Zeit, und wir waren mittendrin.

Im Zuge dieser Umstände saß ich gemütlich zu Hause auf dem Sofa. Ein Tag, ein zufriedenstellender Tag aus der langen Reihe meiner zufriedenstellenden Tage war zu Ende gegangen, ich hatte gerade das von meiner Freundin gemachte Abendessen eingenommen und wartete – im guten Zustand wartend –, mit geschmeicheltem Magen und ermatteter Brust – angenehm vom Tage ermatteter Brust –, darauf, auf den Schwingen einer geglückten Abendunterhaltung nun in die Nacht zu segeln. Am folgenden Morgen dann, erfrischt und in guter Kraft, würde ich dem Tabernakel meines Herzens wieder die Hostie meiner Arbeitskraft entnehmen und sie dem Arbeitsmarkt zur Speise reichen. Im Kreise meiner guten Kollegen würde ich den Tag verbringen und manches Problem lösen, manchen Schritt vorwärtstreten, manchen Erfolg verbuchen können. Ich würde gute Worte hören und anerkennende Blicke ernten. Wie dem auch sei. Ich saß auf dem Sofa, ein wenig geneigt schon mit zerflossenen Gliedern und dem Blick in den milden Himmel. In weiter Ferne die Abendmaschine. Im Flug einen sanft errötenden Streifen ziehend. Einen Zauberstreich. Aufgeflockt von der kühlen Brise der Stratosphäre. Der Friede des Abends. Ich in einem Schimmer. Es ging mir gut.

Das hing vielleicht auch damit zusammen, daß es ein sehr gutes Sofa war, auf dem ich mich befand. Ein Sofa von hoher Qualität mit einem dementsprechend exzellenten Sitzkomfort, der mich dazu neigen ließ, meine Sitzposition ein wenig schon ins Sich-Neigende zu verlagern, daß ich also ganz angenehm so halb saß, halb lag. Ein wenig zwischendrin.

Obwohl ich sagen muß, daß das Sofa – und es ist ja eine wichtige und deshalb langwierige Entscheidung, welches man denn nun kauft, das ist nicht ohne –, also die Sofasituation war hochqualitativ und sitzkomfortabel, aber nicht brandneu. Es war also nicht direkt vom Händler hierhergekommen und – zack – saß ich jetzt darauf. Es hatte schon ein paar vereinzelte Gebrauchsspuren. Man könnte sagen: das Sofa befand sich gerade auf der Reise vom Ursprungszustand zur Anfangspatina. Auf der Sofafahrt zur beginnenden Andeutung von Vorpatina, so könnte man vielleicht sagen. Es war echt ein total schönes Sofa. Ja gut, man konnte sehen, daß schon Leute drauf gesessen hatten, daß das ein oder andere Faserknötchen sich gebildet hatte, mein Gott, solche Sachen eben. Man hätte es noch gut verkaufen können, mit einem kleinen Abschlag vielleicht, aber ok (Wenn man gut verhandelt hätte aber schon fast wieder zum gleichen Preis). Allerdings, das muß man schon sagen, das Sitzen – oder das von mir ausgeübte leichte Geneigtsein, das ja meine angenehme Abendhaltung verursachte, war schon vielleicht einen Hauch zuviel, denn der Winkel, in dem ich mich auf dem Sofa positionierte, war – und das hing wohl mit der beginnenden Patinanähe zusammen – ein wenig, ein weniges Bißchen zu stark. Will sagen: es gab die leichte, ja gewisperte Tendenz, die nur geahnte Möglichkeit, über die Sitzkante hinwegzurutschen, im Sinne von: dem Sofa entgleiten. Aber das auch nur für jemanden, wie mich gerade, der wegen Abendröte, Abendstimmung, Schimmer, errötendem Zauberstreich undsoweiter so sehr empfindsam gewesen wäre. Wo man aber doch sagen muß, wenn man genauer darauf achtete, wies dieser unangenehme Rutscheffekt solch einen Grad auf, daß das zu einer insgesamten Abwertung der Sitzkomfortintensität geführt hätte. Oder eben führte. Genauer betrachtet war zu erkennen, daß ein Sofabein mit dem anderen nicht so richtig mithalten konnte. Es war kürzer und deshalb war das Sofa in Schiefe befindlich. Das Sofabein war aber leider nicht nur kürzer. Man muß schon sagen, daß es durchaus ein ganzes Stück kürzer war. Es war soviel kürzer, daß man fast sagen muß, es war gar nicht mehr da.

Ja gut, es war so: Das Sofabein fehlte. Hinzu kam noch, daß auch das andere vordere Sofabein nicht so ganz bei der Sache war. Es konnte das vordere Gewicht des Sofas nicht alleine tragen, weil es von seiner Dimensionierung her viel geringer angelegt war als die Sofabeine, welche üblicherweise zu dem Sofa geliefert und montiert wurden. Es war eigentlich ein ganz okayes Bein, es war nur so, daß es eben auch nicht so richtig da war und darüber hinaus auch fehlte.

Gut, das ist ja kein Beinbruch. Aber ich muß sagen, daß das mit dem Sofa und dessen Komfortbereich – frank und frei gesprochen – so eine Sache war. Seinem Zustande nach war es nämlich sehr weit entfernt von einem regulären Gemütssofa. Der Bezug war aufgerissen, die Eisenfedern sprangen hervor, die Innereien quollen. Ein Gewölle aus synthetischen Schäumen, Wollfasern, Plastikknöchelchen, Preßspanmehl, Drähten und sonstigem ermüdetem Material. Ans Sitzen war gar nicht mehr zu denken. Auch ein halbgeneigtes Liegen war tatsächlich unmöglich, allein schon wegen der enormen Hitze. Die Eisenfedern glühten. Es roch unangenehm nach angesengten Polymerenketten und reinkarniertem Erdöl. Obwohl das Sofa seiner Qualität nach ganz hervorragend war, explodierte es, man muß es so sagen, wie eine Supernova. Aber was nützt das ganze Gerede vom ollen Sofa, das es ja eigentlich nie gegeben hat.

Also gut, man könnte es so sagen: es hat nie ein Sofa gegeben, auf dem ich gelegen haben könnte an diesem Abend. Das hätte ich mir auch gar nicht leisten können in Anbetracht meiner Lage. Ich blickte wie ein steinerner Zeuge in ein erstaunlicherweise recht großes, sagen wir sehr großes Loch im Betonboden meiner Wohnung. Man hätte unentwegt Waschmaschinen hineinwerfen können, so groß war es. Ja man hätte sogar von den Rändern her mehrere Waschmaschinen unentwegt hineinwerfen können und trotzdem wäre, während die Waschmaschinen durch das Loch gingen, in der Mitte des von den Maschinen noch nicht erreichten Schlundes ausreichend Platz gewesen, daß eine ordentliche Therapiegruppe, eine lukrativ große Einheit, darin einen Sitzkreis hätte machen können, während die Maschinen hinter ihrem Rücken ins Nichts sanken. Und irgendwie war ich diesem Schlundloch gefährlich nahe. Ich fühlte mich wie ein Käfer in einer Badewanne, dem der Abguß entgegensteht.

Das Loch im Betonboden wäre ja schon für sich gesehen gar nicht so unbeunruhigend gewesen, aber ok – eigentlich war der Boden, insbesondere der Beton, wirklich ein sehr guter Beton, mit dem man Pferde hätte stehlen können. Der Boden hatte eine sehr gute Qualität, soviel ist sicher. Ein Komfortboden. Trittschall, Wärmedämmung, Raumklima. Nein, das alles wäre ja vielleicht noch ok gewesen, wenn nicht ausgerechnet die Scheiben auch zersprungen gewesen wären. Ein abstrakter Sprühregen aus Splittern, Aluminiumfetzen, Stahl-, Mörtel-, und Betonraspeln geisterte umher. Mit der Wucht eines Kometen mußte irgend etwas in dieses Haus gefahren sein. Die ganze Wohnung zeigte sich auf einmal von einer ganz anderen Seite. So als würde man mit Gewalt ein Pferd auf links drehen. Und das ganze Pferd würde nun von außen aus Magenwänden, Organhäuten, Venenröhren etc. bestehen, die einem das Streicheln schwer machten. Die Scheiben, die Rigipswände, der Laminatboden, die Kupferrohre, die Sanitärkeramik, die Dämmatten, die Kunststoffrohre, die Silikonfugen, die Spaxschrauben, die Holzlatten, die Elektroverkabelungen, Designerstühle, Kleider, Schuhe, Stifte. Alles war von seinem Mikrokern her in Wallung gekommen und hatte sich zerstäubt, verpulvert erhitzt verkocht. Ich kniff die Augen zusammen und hob schützend die Arme um den Kopf. Der Küchenschrank hatte sich geöffnet, was heißt geöffnet, die Schranktür sprang einfach weg, wie ein Lachen hervorplatzt, und ein Schwall von günstiger Keramik in allerlei Farben schoß auf mich zu. Ich machte einen entsetzten Satz in den Flur Richtung Gästeklo, in den Schutz eines noch verbliebenen Mauerstumpens. Die Tassen sprangen gegen die gegenüberliegende Wand und blieben in der Tapete hängen wie Mandelsplitter im Schokoladenhasen. Lange hingen sie nicht, dann brach auch diese Wand weg. (Wie das mit Schoko eben so ist). Noch bevor das geschah, gab es ein Geräusch von einer solchen Quantität, wie ich es vorher noch nicht erlebt hatte, und ich konnte nicht anders, als die Ursprungsquelle dieses Geräusches in einer Resonanztonne in der Größe des Mondschattens zu vermuten. Wer auf diese Tonne zu schlagen in der Lage gewesen war, mußte wahrlich wissen, wie man mit großem Besteck hantiert. Es war, als würde allein schon dieser Urton gereicht haben, um die Bäume der ganzen Stadt zu entlauben und den Putz all ihrer Häuser von den Wänden zu blasen. Tatsächlich rauschte es auf, und der Blick aus dem Fenster, vielmehr aus den traurigen Augenhöhlen meiner Wohnung, wurde verdunkelt von einer grünen Wolke aus jungen Blättern, die in senkrecht strichhaftem Aufstieg am Fenster vorbeizogen. Die schönen kirchhohen Platanen unten auf dem Platz, die man von hier oben immer ganz gut hatte sehen können, waren weggesunken und lagen dort unten wie alter Draht. Während des Knalls, der in meiner Empfindung ungefähr 1–2 Tage gedauert hatte und mein zeitliches System außer Kraft setzte, hatte ich – wie ich jetzt feststellte – gar nicht bemerkt, daß er mit der Unmöglichkeit einherging, den üblichen Atemvorgang fortzusetzen. Die Luft sackte weg wie im Sog einer Welle. Die Lungen verpreßten sich. Es gab keine Kraft, die hier noch gegen ankam. Mein Hals und meine Brust schmerzten. Ein eigentümlich trauriges Gefühl erfaßte mich. Ich stolperte über das Geröllfeld meiner Wohnung und mußte erkennen, daß das Loch in meinem Boden auch das Loch im Boden unter mir, und dann wiederum das Loch im darunterliegenden Boden war und sofort. Man konnte bis in den Keller sehen. Ich blickte nach oben und über der Krateröffnung irrten vereinzelt ein paar frische grüne Blätter durch den Himmel.

Der zweite Knall kam, als ich gerade versuchte, mir mit dem Nachbarn zwei Stockwerke unter mir etwas zuzubrüllen. In all dem Krach der abbrechenden Beton- und Glasplatten und des pfeifenden Unterdruckwindes war es mir unmöglich, die verschiedenen Laute zu dechiffrieren. Es wehten die Worte in Stücken. Ich hörte den Nachbarn rufen:

"...oben...hier...weiter..."

Ich brüllte zurück:

"...Vergeltungsschläge...üblich...mittags..."

Doch außer dem Blut, das mir aus der Nase rann, blieb davon nichts übrig. Der Staub hüllte es ein und der Wind trug es davon. Ich sah noch einmal hinunter und hörte die Stimme des Nachbarn, der jetzt verschwunden war, wie sie rief:

"...staunen..."

Die jetzt folgenden Schläge fanden schon eigentlich außerhalb meiner Wahrnehmung statt. Das ganze Gebäude war auf eine nicht erkennbare Weise in einen Schüttelzwang geraten. Ich befand mich in einer Gebetsmühle des Zorns, und irgendeine unbekannte fromme Hand meinte es besonders gut und schwang und schwang den Klöppel weit und immer weiter. Jetzt begann es zu qualmen. Aus neu entstandenen Ritzen kam es hervor. Die Versorgungsschächte mit ihren allerlei Gas-, Strom- und Wasserleitungen waren aufgegangen; vieles war aufgerissen und weggeraten, und es war auf einmal vieles offen. Es hatte zu brennen begonnen. Der Qualm, ein schwerer Atem auf direktem Weg in meine Augen und Lungen. Draußen brach die Dunkelheit über die Stadt. Ein letzter rötlicher Schimmer schien dem Himmel. Dann wurde es Nacht. In versetzten Abständen hörte ich die Wasserleitungen platzen. Das Wasser strahlte hervor und lief an den Wänden hinab. Ein stärker werdender Sogwind zog von den Fenstern her. All unsre Sachen, das ganze Zeug, die Kleider meiner Freundin wehten vorbei. Ich erkannte manches, doch vieles auch erschien mir unbekannt. Ohne Sinn qualmte es weiter, obwohl das Wasser lief. Es kam nicht zusammen und erledigte sich. Mit engen, gekniffenen Augen sah ich nach draußen, wo gegenüberliegend eine Zeile von Häusern in sich zusammenbrach und sackte. Die Dreckwelle war augenblicklich später bei mir, und die Staubdecke, die sich über den Platz schob. Ein Regen aus Videokassetten, Dachziegeln, Besteckkästen, Neonröhren, Plastiksandalen, Teppichresten, Kunststofflaschen und Hausmüll. Eine unendliche Reihe, die man ewig hätte fortsetzen können. Ein Regen aus allen Gegenständen, die man sich denken kann oder mal denken wollte. Ein jedes Ding kam vorbei. In Gänze oder als Teil. Ob jemand zu Schaden kam, war ungewiß. Man sah niemanden. Ich hörte niemandes Stimme oder Laut. Nur das Dröhnen und Tosen. Während ich noch in all dem Durcheinander einen blauen Stuhl am Fenster vorbei seinen Weg nehmen sah, überkam mich mit einem gewaltigen Schlage ein größenwahnsinniger Schwall Wasser. So wie wenn man in einen Wasserfall spränge, doch das Wasser sprang über mich. In den Stockwerken über mir mußte sich wegen der geplatzten Leitungen ein See gebildet haben, der sich nun über mich ergoß und sich mit mir zusammen eine Spur bahnte durch die unterseeische Landschaft unserer Wohnung. Mit aufgerissenen Augen trieb ich dem Betonloch entgegen, in dessen Strudel sich schon meine Freundin befand, die mit unserer Waschmaschine kämpfte. Im Vorbeischleudern traf sich unser Blick. Wir reagierten nicht. Wir konnten es nicht, wir hatten keinen Platz dafür. Es war ein ledigliches Erstaunen. Zwei völlig unbekannte Menschen. In perplex verdrehter Haltung verschwand sie, und mir rammte sich die metallverstärkte Ecke eines Aktenordners mit der Steuererklärung vom letzten Jahr in die Rippenschwünge und blieb dort stecken. Ich fühlte mich unendlich enttäuscht. Und wollte irgend etwas in die Wassermassen murmeln, doch es gelang mir nicht. Weder hatte ich eine Sprache, noch einen Gedanken. Jeder Gedanke schien mir nur noch der Beweis seines Gegenteils zu sein. Jedes Ding, jedes Wesen, jeder Zustand – alles – war da zum Beweis, daß es gerade das nicht gab. Ich rauschte durch das Loch inmitten der Wassersäule und schoß durch das Haus, in dem wir einmal gelebt hatten. Stockwerk für Stockwerk. Hinab. Hinab. Schwerelos schwebte der ein oder andere Fernseher an mir vorbei. Manch ein Salat und manches Brot. Ich sah verschiedene Menschen. Mitunter schien es, als schliefen sie. Ich fühlte mich, als ob es mich nie gegeben hätte, als ob alles, was ich je berührt hatte, mit meinen Händen oder meiner Seele, ein negatives Abbild gewesen wäre in einer Welt der Verneinung. Unfaßbare Mengen an negativer Energie. Jedes Ding, jeder Mensch, jede Idee hatte eine reinste negative Kraft in seinem Innersten, die sich nun entlud und freifuhr. Ich erkannte das Ende jeder Hoffnung, und das traf mich mit einer Traurigkeit, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. All meine Zellen, meine vergangenen Tage, meine gehandelten Handlungen bildeten ein gleichgeschaltetes Reich der Traurigkeit. So, als ob alles Nichts wäre.

Doch glücklicherweise war es das nicht. An einem hellen sonnigen Montagmorgen etliche Zeit später saßen wir zusammen, und es war ein freundlicher Morgen. Wir frühstückten und ließen uns ein bißchen mehr Zeit als sonst. Ich trank einen Roiboschtee und machte ausnahmsweise zwei weiche Eier für uns beide. Das Radio dudelte, ihr Kaffee duftete. Die Schläge waren heute für den Nachmittag angekündigt. Es war also noch Zeit bis dahin. Wir besprachen den Tag, und ich muß sagen, daß ich mich heute richtig freute auf die Fahrt durch den noch kühlen Sommermorgen zu meiner Arbeit. Es standen ein paar Besprechungen an. Ich würde ein paar Probleme lösen, ein paar neue würden sich ergeben. Ein kleiner Erfolg hier, ein gutes Wort da. Auf dem Rückweg würde ich noch leichte Besorgungen machen. Brot, Milch, Grünzeug für die Woche. Vielleicht Sandalen kaufen oder Gartenmöbel suchen. Die Sonne schien herein. Kein Wölkchen am Himmel. Es ging mir gut.

Ende