Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Milena Oda (Foto: Petr Motyka)
Milena Oda
DER BRIEFSCHREIBER
(Auszug aus dem Roman)
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Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können, antwortete mir letztlich Blaise auf die Darlegung meiner Lebensweise. Und ich denke, habe ich ihm zurückgeschrieben, auch darin, dass sie glauben, ständig den Mund zum Sprechen verwenden zu müssen, anstatt nur zum Essen. Er stimmte mir zu und lachte. Er ist einer der wenigen Menschen, die mich wirklich verstehen.

Wenn man allein ist, ist es angenehm, im Hotel zu wohnen. Das Hotel ist die perfekte Umgebung für mich. Still, sauber und distinguiert. Dort sind immer Leute, die einem das Bett und die Zimmer sauber machen, die Kleider reinigen. Wenn mitten in der Nacht etwas mit mir nicht stimmt, brauche ich nur den Concierge anzurufen.

Man trifft hier auch keine Eindringlinge, mit denen man sich unterhalten muss. Man wird in Ruhe gelassen. Keiner erlaubt sich hier auf mich Bosheiten auszuschütten. Ich muss mich mit niemandem treffen und niemanden grüßen, wenn ich nicht will. Ich muss hier niemandem gegenüber Höflichkeit, Freundlichkeit oder Offenheit heucheln - alles Eigenschaften, die ich nicht besitze, die ich nicht besitzen werde. Wie ein Gruß schmerzt, wenn man nicht grüßen will. Wie Worte schmerzen, wenn man nicht sprechen will. So sehr habe ich mich an meinen Lebensstil gewöhnt, dass ich nicht mehr fähig wäre, mit jemandem zusammenzuleben. Die Anwesenheit eines anderen Menschen neben mir oder in meinem Appartement stört mich. Ich habe einen unabänderlichen Lebensstil, den ich nicht ändern werde.

Wie Kant verlange ich Pünktlichkeit und Genauigkeit. Vom Briefträger verlange ich die Pünktlichkeit! Ich hege genaue Ansprüche an meine Umgebung wie an mich selbst. Jeden Morgen stehe ich in meinem Zimmer, ich schwitze und zittere und warte auf meine Post. Ich kann nichts tun. Um 10 Uhr morgens kann ich nur warten, bis der Postbote kommt, klopft und sagt: Au Maître! J´apporte des lettres! Meine Briefe (die Post) muss ich pünktlich um 10 Uhr in meinem Zimmer haben, in der Hand das Bündel der Briefe halten. Mein Ehebund. Die Hotelangestellten wissen es, aber sie tun es nicht. Mit welcher Respektlosigkeit wird gegen meine Bedürfnisse gehandelt und werden meine Ansprüche täglich ignoriert! Ich bin wahrhaftig nervös, ich zittere, wenn die Briefe um 10:05 Uhr noch nicht da sind. Zornig bin ich, wenn ich den langsamen und unzuverlässigen Briefträger vom Balkon aus sehe. Am Boden zerstört bin ich bei jeder seiner Verspätungen, auch der „winzigsten Verspätung“, (so spricht er von seinen großen Verspätungen!). Ich beherrsche mich ständig, aber irgendwann ertrage ich es nicht mehr! Diese Menschen ruinieren mein Genie... sie verstimmen meinen Genieakkord… Lieber Herr Bulgakov, wie der Postbote täglich das Maß überschreitet! 2 Minuten später. 3 Minuten... 7 Minuten später! Ich gestehe, ich kann schreien, ich kann mich sehr aufregen, in drei Worten alles sagen, was mich aufregt... Die Concierges wissen, was ich verlange, aber sie bleiben lässig. Ist Pünktlichkeit und Genauigkeit unser Ideal? Er sagte: ja, ist es, aber er könne es selbst nicht beeinflussen und er sagte es mir ganz frech in die Augen: Der Gewissenhafte ist immer unpünktlich! Wie? Wie? Schreie ich ratlos... Seine Anmaßung macht mich hilflos...

Ich nenne mich heute zum Beispiel nach Ihnen, Herr Zola. Und wenn der Concierge kommt, die Briefe tragend, sagt er: „Au Maître Zola j´apporte des lettres.“ Er muss Französisch sprechen, wenn er mit Maître Zola spricht. Lieber Herr Zola, ich bin gerührt, wie Sie mir letztlich bestätigt haben, dass ich auch zur „classe des poètes“ gehöre und dafür bedanke ich mich gefälligst. Es stimmt, ich fühle mich auch so. Man vergleicht sich gern mit den Großen. Ich kenne alle, ich kenne die „Meinigen“ sehr gut. Ich beschreibe alle Genies genauso gut wie mich selbst. Ich habe eine beachtenswerte Bibliothek unserer beachtenswerten Ichs. Ich bin von der Gesellschaft umgeben, die ich auch selbst sein könnte. Und ich bin es auch! Es ist doch eine Lust, sich mit den Genies zu vergleichen. Wie die Könige in ihrer feierlichen Äußerung „Wir“ sagten, sage auch ich Wir. Dem Aufgehen im allgemeinen Wir habe ich nichts entgegenzusetzen. Ich pluralisiere mich, ich dekretiere mich im Ansehen der anderen. Hier, im Hotel lebe ich wie in einem Königreich. So wie es die Geschichte der Freiheit darstellt, so lebe ich. Ich spreche nicht mehr von Karriere, Ehrgeiz, Verstellung und Kompromisslosigkeit. Mein Leben ist mit schöpferischen Surrogaten verbunden.

Ich kann so stark nur auf mich selbst konzentriert sein, dass mich ein zufriedenes Gefühl überkommt, von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten zu sein. Ich handle selbstbezogen, selbstbewusst und entschlossen, indem ich mich innerlich vom äußerlichen Leben abgrenze. Was für ein geselliges Leben am Königshof ich aber mit den Meinigen führe!

Ich gehe um 23: 30 Uhr ins Bett, wie Molière.
Ich stehe um 5:30 Uhr am frühen Morgen auf, wie Dante.
(Wie Edgar Allan Poe reichen auch mir 6 Stunden Schlaf.)
Ich frühstücke Eier und Speck mit Brot, wie Bismarck.
Ich esse so mäßig wie Flaubert.
Wie Robert Musil denke ich über das Leben nach. Wie Keats denke ich über die Natur nach.
Ich phantasiere so wie Kafka.
Über die Menschen spreche ich wie Gogol.
Ich spreche so langsam wie Dostojewski.
Ich spreche so wenig wie Wittgenstein.
Ich spreche mit den Concierges in Substantiven wie Hegel.
Ich habe 3 Concierges wie Goethe.
In lebe in einem Hotel wie Turgenjew.
Ich stottere wie Kleist.
Atme wie Ibsen.
Gehe langsam wie Stifter.
Ich wandere durch meine Bibliothek wie Calderón über die Bühne.
Ich sitze am Schreibtisch, stramm und im Hausmantel, so wie Balzac.
Ich schreibe an manchen Tagen stehend am Schreibpult wie Hemingway.
Ich schreibe Gedanken in Briefe wie Pascal.
Ich schreibe polemisch wie Heine.
Und ironisch wie Giacomo Leopardi.
Ich schreibe so aphoristisch wie Karl Kraus.
Und geräumig und adrett wie Marai.
Humorvoll wie Cervantes.
Abenteuerlich wie Jaroslav Hašek.
Dramatisch wie Dumas.
In sprachlicher Eleganz wie Hölderlin.
Ich bin sarkastisch wie Bernhard.
Und witzig wie Schopenhauer.
Kritisch wie Voltaire.
Und so ernsthaft wie Joyce.
Ich streiche das Wort Phantasie und ersetze es durch Symphonie wie Schiller.
Ich pflege die Einheit von Wort, Ton und Bild wie Shakespeare.
Ich bin misanthropisch wie Swift.
Ich lese viel, wie Montaigne.
Ich schreibe täglich so viele Briefe wie Rousseau.
Ich besitze so viele Briefe wie Strindberg.
Ich werde so viele Briefbände besitzen wie Napoleon.
Ich habe fiktive Freunde wie Marquise de Sade.
Ich habe an die dreißig Pseudonyme wie Charms.
An die dreißig Anzüge wie Fitzgerald.
Ich lebe allein wie Lampedusa.
Ich bin krank wie Nietzsche.
Verrückt wie Artaud.
Ich will sterben wie Friedrich der II. in seinem Sessel.
Und wie Jean Améry in einem Hotel.

Das ist mein geistiges Selbstporträt, das ich durch eine Beschreibung meiner physischen Erscheinung erweitern möchte. Ich besitze jede Art von Garstigkeit.

Ich bin hässlich wie Helmholtz. Bin Besitzer eines fetten Körpers – breiter Körperbau mit fettreicher Haut wie die Bachs. Klein wie Friedrich der Große, 162 cm (5 cm größer als Kant) und schwer wie Karl Marx, 260 Pfund. Ein dicker Oberkörper auf kurzen, dünnen Beinen, die Haut gelblich, die Augäpfel ebenso. Graublaue Augen, aus denen die Bitterkeit hervorsticht, beobachtend, schwere Tränensäcke, Adlernase, große Ohren und ein kleiner Kopf, der disharmonisch zur Proportion des ganzen fetten Körpers wirkt. So bin ich.

Tagtäglich muss ich die eigene abstoßende Materie berühren und gewisse Dinge bei ihren rechten Namen nennen. Sie sollen sich nicht wundern, Herr Doktor Cechov, wenn ich auf diese laute Art und Weise meine mikroskopische Physiologie entdecke. Tagtägliche Selbstbegegnung mit dem Misston meiner fleischlichen Komposition führt mich zu der Überzeugung, dass ich die schöne Gestalt eines Hünen habe, und provoziert mich zum Lachen. Ich finde meine Garstigkeit besonders erfinderisch. Die lustig lügenhafte Aussage, dass ich schön bin, erregt mich bis zum Lachkrampf. Überströmende Lügen dienen mir als Heilmittel. Aus allen diesen Gründen bin ich der Natur verpflichtet, mich zu lieben. Wie ein alter Portugiese sage ich: Wer das Hässliche liebt, dem scheint es schön.

Du bist schön wie Shelley. Oder wie Maupassant…

Auch der Hässliche hat seine Schönheit.

Meine wirkliche Schönheit spiegelt sich in meiner Handschrift wider. Ich habe eine schöne künstlerische Handschrift, symmetrisch im Gegenteil zu meinem asymmetrischen Körper. Meine Handschrift zeigt einen Introvertierten, der eine außerordentliche Energie aufbieten kann, wenn er herausgefordert wird. Die kraftvollen, vitalen Striche betonen die natürliche Leistungsfähigkeit. Die unverbundene Schreibweise und die verspielte und blumenhafte Schrift lassen das Kraftvolle erkennen, und die mühevolle Winkelschrift und die strengen Majuskeln verdeutlichen das disziplinierte Denken. Und was für eine dominierend rhythmisch-zügige Unterschrift! Ein Wunder an Harmonie und Stärke! Es ist, als schleuderte ich ein Drahtseil in die Luft, um es zu spannen und darüber zu balancieren. Das unebenmäßige, unruhige überall auftauchende e in meinem Vornamen - Hergen – gleicht einem gekrümmten Igel, der seine spitzen Stacheln gegen jeden Spieler richtet. Die Schlussarkade im H mit seinen spitzen Bewegungen ist die symbolische Wand, die ich mir schaffe, um die Kritik der Gesellschaft und ihren Voyeurismus abzuwehren. Mit meiner glänzenden, kreativen Akrobatik überrasche, bezaubere und ängstige ich...

Meine Hand zittert vor Erregung und Leidenschaft, wenn ich schreibe. Ich bin stolz darauf, wie ein einziger Wunsch meine Riesenenergie plötzlich beflügelt, mich mitzuteilen. Wie entzückend! Wie entzückend! Wenn ich schreibe, entfalten sich in meinem Kopf fidele Geschichten, groteske Parodien und Ideen. Ich schreibe meine glänzenden Empfindungen in Form eines Briefes und schicke sie dann ab. Immer in die ganze Welt! Ich sehne mich nach den Antworten aus aller Welt... Ich sehne mich nach einem schönen Brief, dann wird mein Mund voll Lachen sein. In der Illusion eines Sommers mitten im Winter werfe ich den Brief unruhig in den Briefkasten ein, und unruhig warte ich ab, wann er zurückkommt. Meine Obsession, Briefe! Ja. Ja. Ich schreibe meisterhafte Briefe. Ich schreibe mir die besten Briefe. Ich bin mir der ehrlichste Briefpartner. Meine Heilsalbe, mit der ich mich selbst balsamiere. Mihi ipsi scripsi. Ich bin der Empfänger und der Absender. Von mir zu mir geht der Brief. Ich, nur ich.

Nie haben die abgeschickten Briefe ihren von mir ausgedachten Adressaten gefunden… Das ist mein Humor, über den ich lache … heiter stehe ich da mit meiner herzlichen Neigung zum Humor, ich bin stolz darauf, - was ich für das Beste an mir halte -, wenn die von mir abgeschickten Briefe zurückkommen. Das ist meine persönliche befriedigende Sicherheit, meine persönliche Freude. Jeden Tag erwarte ich mit spannungsvoller Gier, mit der Neugier eines Absenders, wie ich die von mir abgeschickten und geschriebenen Briefe als Empfänger wieder zurückbekomme. Jeder Brief ist ein Freund, der mich nicht verlassen will. Haben wir sonst solche Freunde, die nach den härtesten Niederlagen (ohne Adresse unterwegs) zurückkommen? Nein!

Ich grüße Sie, lieber Monsieur Balzac. Allein mit Worten wie ich? Ich wandle quer durch meine Bibliothek, ja, wie ein Tintenfisch in der Traumwelt, die ich mir geschaffen habe. In der Schweiz, und trotzdem stoße ich dabei auf keine Alpenspitze. Ich lache, wie spitzfindig muss man bleiben, wenn man dem Schreiben die Spitze bieten soll. Heute hatte der Briefträger wieder eine freche Zunge und ich habe mich aufgeregt. Aber daraufhin viele spitzbübische Sätze geschrieben und dabei viele neue englische Wörter verwendet. Beim Schreiben muss man den Sinn für das Neue erhalten und dabei mit der einzig möglichen Einstellung zum Leben vorgehen: dem Humor. Man lacht sich aus wie ein Narr. Narrengeist mit seinem Narrenwerk macht einen närrischen Spaziergang im närrischen Land. Wir wissen beide, was wir von der Natur und dem Leben halten sollen, nicht wahr? Dazu nachts nie Ruhe bei den Bedürfnissen der Lachenden. Treulich.

Ihr Guillermo Rosales

Wenn Sie mich fragen würden, was ich gerade tue, kann ich es Ihnen sagen: Ich schreibe Briefe. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahrein, Jahraus geht es mit frischer Kraft beim Schreiben der Briefe. Wie mich die Noblesse des Schreibaktes fasziniert! Ich habe so viel Gewandtheit, dass ich alle Briefe in Sonettform schreiben könnte. Ich freue mich über die lyrischen Stücke, die ich schreibe. Alles kann ich mit Worten beschreiben. Es gibt keine Vorstellung, keine Idee, für die ich wortlos wäre, für die ich keine Wörter hätte. Eine lebhafte Überleitung entsteht beim Komponieren, vom Kopf zur Feder erklingen die verschiedenen Töne mit Licht und Schatten, mit Wut und Freude. An jedem Morgen nehme ich mit den Meinigen an diesem Musikfest teil. Ich habe mir Freunde ausgesucht, von denen ich mir mehr Vergnügen verspreche als von den Menschen. Überall die Weltliteratur, die ich schreibe, ist das nicht mächtig? Schade, dass es keinen gibt, der täglich käme und fragte, ob er das lesen dürfte. Das Anklopfen an die Tür und dann solche Frage würde meinen Geist in Schwung bringen. Die Concierges stellten mir noch nie eine solche Frage, obwohl ich sie schon paar mal fragte, ob sie eventuell was in meiner Bibliothek lesen möchten, oder ob ich einen Band (ein Bündel der Briefe) vor ihren Augen aufmachen solle. Das bedeutete für mich eine große Freude. Eine verständliche Freude. Ein Brief – welche Fülle das kurze Wort umschließt! Ich bin stolz auf meine Briefe, auf meinen produktiven, kritischen Geist. Ich bin ein Bohémien, der kein Wässerlein trübt. Ich bin kein Duellierer, kein Debattierer. Wenn ich sprechen soll, wie sprachlos ich plötzlich bin…

Ihre letzten Briefe enthielten schöne Gedanken, mein lieber Céline! Entschuldigen Sie das Wort – mein!, aber manchmal fühle ich es so, dass Sie oder all die Seelen die „meinigen“ sind. Meine Geheimnisvollen, nenne ich Ihre werte Gesellschaft. Ihre Briefe sind an mich geschickt, nun sozusagen in meinem Besitz. Wundern Sie sich nicht, ich versuche eine neue Welt der Absurdität zu erfinden, mich selbst vor Gleichmäßigkeit, Unwahrheiten und Ungerechtigkeiten zu schützen. Ich laufe tagtäglich Verrücktheiten und Schönheiten nach, und jeder Tag ist wie der Tag nach dem Kampf auf dem Schlachtfeld. Ich bin mir der Feind. Wie für Napoleon, ist auch für mich jede Schlacht eine Steigerung... Grausames Leid, als Lohn für die Befreiung in der Kunstschöpfung? Aber Sie sind auch ein Schlachtenheld, nicht wahr, lieber Céline? Ein Kämpfer (ein Widerkämpfer) und ein großer Widersacher! Ich gestehe, ich bewundere Sie. Und wie! Ich sage nur: chapeau. Aber können Sie sich mich überhaupt vorstellen? Gesellschaftskritiker, Gefühls- und Vernunftmensch (zugleich). Bereits mein herrschender Lebensstil, vor dem sich jeder fürchtet, leuchtet erst nach meinem Tod mit den nötigen Wertfacetten auf. Ich hasse jeden Zwang (wie Sie); der treibt einem das heiße Blut immer zum Extrem hin, sagte Friedrich II., und ich auch. Ich will nicht zitieren, aber durch das Zitat ist der Gedanke verständlicher en détail... auf Wiedersehen... aber wann? Aus Riga. Ihr Gogol

Ich schreibe in virtuoser Darstellung über Höhe und Tiefe der Anderen. Ich verkleide mich so sehnsuchtsvoll... Durch das Ausmaß meiner Phantasie und meiner Empfindsamkeit porträtiere ich meine Seelen und stelle meine Ähnlichkeit mit ihnen dar. Teils nehme ich ihre endgültige, schon fertige Form an und teils porträtiere ich sie. Dann entsteht in meinen Briefen ihr gesamtes Bild nach meiner Wahrnehmung. Es entfalten sich Gesichtszüge und ganze Physiognomien, deren ganzes Relief ich in die Höhe, bis zur Spitze des Olymps treibe. Ein leiser Schrei, ein Splittern, ein Gebrüll, ein Grunzen von Liebe und Kritik und ein Würgen, das ist der Weg zum Olymp. Die Glorie der Genies erfasst mich und reißt mich gleich hin. Ja, plötzlich bin ich ein anderer, derjenige, der nur in den Briefen auftritt. Ich bin ein wunderbares Chamäleon. Die Farben meiner Haut... jeden Augenblick anders. Mehrfach verwandle ich mich am Tag... geschickt und geübt in der Sensibilität, mich in einen anderen, den Toten hineinzuversetzen. Bei jedem neuen Brief ziehe ich mir kostbare und köstliche Kostüme der Berühmten an. Tief im Traumreich, wohin ich mit meinen Gestalten versinke, mich innerlich verwandle und dann im Kostüm eines anderen auftrete.

Gestern las ich Cesares Tagebuch. Sein armes, schönes Herz! Ewig schön und trüb. Ich habe dreimal ins Wörterbuch geschaut. Ich lerne schnell italienisch. Ich muss mich loben. Ein fremdes Lob kommt so selten...

Ich habe einen großen Wunsch, italienische Romane autentico zu lesen. Ich schreibe gleich an Alberto im Rausch der Begeisterung zum Italienischen. Alberto, wenn dein Roman fertig ist, so ruf mich im Hotel (ausnahmsweise) an! Ich bitte dich, damit wir a tempo feiern können! Dein, Luigi.

Und wieder bin ich der Realität nah: wie mich der Postbote irritiert! Der Briefträger verspätete sich heute wieder um zwei Minuten, unmöglich, auch die zwei Minuten zu dulden. Ich trat ihm schweißgebadet entgegen, hatte einen bösen Blick, und er sagte: „Wieder haben Sie, Herr Shakespeare, viele Briefe!“ -„Ach? Wirklich“, sagte ich... ganz kontrolliert wieder... die Szene ging ruhig vorüber. Der Postbote war weg... er weiß... ja, er weiß..., was ich ihm hätte sagen wollen! Er lachte. Und wie er mich nannte. Shakespeare! Sollte es eine ironische Bemerkung oder eine respektvolle Anerkennung meiner Leistungen sein? Wie soll ich es verstehen? Morgen frage ich ihn. Aber sein diabolisches Lachen. Ein Postbote, der Macht über mich ausübt? Nein. Und ich? Ich bin ruhig geblieben, ganz kontrolliert... aber doch, im Inneren brennt es. Ich schreibe weiter. Mit der Befürchtung, dass ich Schlimmes unternehmen könnte, weil ich hoch aufgeregt bin. Das Verhalten der anderen beeinflusst mich so stark. Ich könnte die Beherrschung verlieren…

Den ganzen inneren Ärger, den ich über alle empfinde, über das respektlose Verhalten mir gegenüber, schreibe ich in die Briefe hinein. Ich versuche, weiter zu schreiben und Ruhe zu bewahren. Oft handelt es sich um eine schicksalhafte Rhythmik des Auf und Ab.

Lieber Max, quer gehe ich durch das Schloss und bin verwirrt. Die Wirklichkeit habe ich mit der Möglichkeit verwechselt und Verwirrung bei mir gestiftet! Die purgatorischen Gedanken werden sich einmal auf mich stürzen. Soll ich es wagen, in den verstaubten Regalen zu stöbern, in denen ich alle meine Briefe, die Tausenden aufbewahre? Sie umgeben mich wie die chinesische Mauer und begleiten mich wie die Liebe. Meine Briefe – eine ganze Bibliothek voller Ideen, Phrasen, Gedanken, Provokationen, Theorien, die ich aus Hunderten Büchern und meinen Notizen geerntet hatte, mit einem giftigen Keim gesät.

Schneid. Man lacht sich aus. Noch einmal lacht man sich aus. Bis zur Verzweiflung lache ich mich aus. Das ist die Tatsache! Diese bewundernswerte irrationale Einstellung! So übe ich meinen Geist.

Wie ich mich auf deinen nächsten Brief freue! Treulich und dankbar, für alles, was du für mich geleistet hast.

Einen schönen Sonntagsgruß. Dein Wortjongleur Joseph K. aus Prag.

PS: Noch vor kurzem war ich so glücklich, aber jetzt… Ich spüre gerade die dramatische Rückkehr der negativen Symptome der Menschheit. Wir retten uns nur dank unserer Gespräche. Bis bald wieder erheitert…

Ich stelle die Existenz der Leute in Frage und deswegen will ich mit keinem in Kontakt kommen, höchstens nur in einen oberflächlichen. Auch nur in Klammern. Wenn ich Menschen begegnen will, dann setze ich mich vor das Fenster oder auf den Balkon und beobachte sie und höre den Geräuschen der Großstadt zu. Das gehört auch zu meiner Arbeit. Ein Briefschreiber muss den Kern der Menschen kennen, und das lernt er durch Lesen und Beobachten.

Ich beobachte die Leute, die auf dem Platz hin und her gehen, ich studiere das Leben der Einheimischen. Da auf dem Platz kann ich mir die Dandys, Engländer und Iren, Galsworthy, Shaw oder Oscar Wilde mit ihrer Gelassenheit und der aufgeblasenen Ironie und ihrem Gespött vorstellen. Die Verführer der Frauen! Schreiben Sie mir, Herr Yeats, wie schön jetzt im Frühling die Stadt ist, vielleicht werde ich bald nach Irland reisen. Ihr Brief aus Dublin hat mich wirklich gerührt und erfreut, da ich daraus sehe, wie Sie Ihr Leben endlich genießen. Die ganze Qual lieber für ein paar Augenblicke vergessen. Ich beobachte die Menschen vom Balkon aus und danke dem Glück des Schicksals, dass ich mich nicht unter ihnen dort unten befinden muss. Ich habe von mir vieles Äußerliche zerstört. Dort bin ich ratlos und hilflos der Menge ausgesetzt. Der Genieakkord meines Ichs muss widerhallen, im Kosmos oder in meiner Einbildung. Aber dort, unter ihnen, verliert sich der ganze Ton.

Schreiben Sie mal wieder. Ihr Molloy (alias Beckett)!

Mein Blick schweift über die versammelte Menge der Leute. Wie oft bin ich jedoch schon beim Anblick der Menge von Gereiztheit erfasst worden, vor allem, wenn ich mir vorstellte, mich unter sie zu begeben... Lieber will ich, wie ein Geist dieser Stadt, zehn Meter über den Köpfen der Menschen schweben. Die Lage ist für einen kreativen Kopf nicht einfach. Die Versöhnung mit den Menschen lehne ich ab. Zu viele Niederschläge. Jede neue Verstörung bringt mich wirklich aus der Fassung. Ich habe längst aufgehört, den Anschluss an die Menschen zu suchen, weil sonst Chaos und Repressalien drohen. Die Gesellschaft scheidet aus ihren Kreisen die Narren und Zyniker aus. So wurde ich ausgeschieden. Dafür bin ich allen dankbar.