Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Dieter Zwicky (Foto: Rita Palanikumar)
Dieter Zwicky
Mein afrikanisches Jubeljahr
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(...)

Im Jahr 1984 verbrachte ich, in Begleitung meiner Frau Ginette, in Cottonville, Benin, vier Monate vorwiegend damit, sogenannten Packbeizetteln eine zweite Haut, also Farbe zu verpassen. Aus Rot wurde Grün, verwaschenes, aquarelliert wirkendes Grün. Der Mann neben der Eierkartonbeige, die allmählich Mannshöhe erreichte, schaute mir jeweils stundenlang zu – ohne zu verraten, ob er meiner Aktion einen Sinn abzugewinnen vermöchte. Die Sinnfrage hatte nicht ich zu beantworten. Mein Vorgesetzter, Herr Tschalchow, welcher die Sprache, nicht aber den Atem verloren hatte, lächelte mich entgeistert an, sobald ich mit den Händen dennoch Erklärungen abgeben wollte. Er umgriff dauernd seinen rotgoldenen Siegelring, als kümmere er sich um die Erledigung einer Art Sekundärpflicht, die der eigene Körper einem abringe in der grenzenlosen Hitze und Feuchte Aequatorialafrikas. Klein von Statur, wirkte Herr Tschalchow überdies verkrümmt. In ihm hat sich meine spezifische Sehnsucht nach einer verkrümmten Vorgesetztenpersönlichkeit voll und ganz realisiert. Seiner Tochter Isadora habe ich wiederholt meine grosse Nähe zu Herrn Tschalchow eingestanden. Sie blickte mich verwirrt an. Das Wort Rose, welches ich im Zusammenhang mit ihrem Vater gern verwendete, mochte, schien es, in Isadoras Kopf nicht aufblühen. Also brachte ich ihr eines Tages aufgetaute Rosen. Diese hatte ich einem Frachter- Steward zu einem Höchstpreis abgekauft; der Kühlraum seines Schiffs war mit tiefgekühlten Rosenbünden bis auf Höhe der obersten Seitenregale angefüllt gewesen. Isadora schüttelte vehement den Kopf. Nocheinmal schüttelte sie den Kopf. Sie sagte kein Wort. Nahm Herrn Tschalchows Krankheit womöglich auch von Isadora Besitz? In meiner Bestürzung sagte auch ich kein Wort.

Heute weiss ich, dass solches Schweigen in Cottonville mein Handwerk verändert, verfeinert hat. Ich weiss jetzt, warum mich der Mann neben der Eierkartonbeige lange gemustert hat. Ja, ich weiss sogar, wieso ich mich auf die genannte Anstellung überhaupt eingelassen hatte, Monate vor diesem grossen Schweigen, in Uppsala, als ich im Taxi erstmals von Herrn Tschalchow erfahren hatte durch Reeti, den Taxi-fahrenden Finnen, welcher mich in übertriebener Hast und ohne Unterbruch dunkelgelbe Zigaretten rauchend durch jenen Vorort schleuste, in dem ich die Verabredung mit Piller hatte – aber dies führt jetzt zu weit. Irgendwie müssten Diskretion und Grenzen obsiegen, in Anbetracht von Stummheit und Schweigen, welche damals meine afrikanischen Wochen gewissermassen persönlichkeitsbildend beherrscht haben. (...)

(...)

Nein. Die Gerüche Benins verlangten geradezu nach der Grösse dessen, der diese Gerüche erleben durfte und zu bezeugen hatte. Ich glaube, wir wären, anno 84, alle augenblicklich gestorben, hätte uns das, was man Selbstrespekt nennt, nicht umgehend aufgefordert, für Gleichgewicht zu sorgen angesichts unserer dauernd schweissnassen Achselhöhlen, einen also auf ernsthafte Suche nach der Möglichkeit eigener Grösse geschickt. Sie, eigene Grösse, fand sich dann weniger in mir als eben in Tschalchow, diesem arbeitgebenden Wunder an Schweigsamkeit und Diskretion. Einem Wunder zudem, das ganze Montagmorgen lang neben einem stehend Realität in berückend beruhigender Rhythmik gleichsam anstelle aller im Büro und im Büroanbau sich Befindlichen einatmete, statt sich an ihr, der durchschnittlichen afrikanischen Morgenrealität, zu stossen. Wie flüssig Tschalchow atmete! Wie weitsichtig er seine bronchiale Tätigkeit nie mittels Husten oder Aufregung oder Sprache oder Vergesslichkeit hintertrieb! Und dies des öftern ganz dicht neben mir. Was Wunder, dass ich hier von Lebenslektionen rede, die ich, soll ich sagen, ein- und nachatmen durfte so ungleich all der primitiven Imitationen, die hiesige Arbeitgeber einem nur schon abverlangen, indem sie ihre sprachlich dürren und verstümmelten Instruktionen, die einer durch und durch traurigen Welt abgehorcht sein müssen, geradezu als musterhafte Beispiele für zupackenden Witz im Arbeitsverhältnis verstanden haben wollen.

Neben Chef Tschalchow dagegen fühlte ich mich, während der Arbeit nota bene, immer wie in einem eigens für mich präparierten Vorhof zum Schlaf, einem von hohen und hellbeigen Mauern umfriedeten privaten Erholungsgelände, flockig bestückt mit rotweiss gestreiften, blitzsauberen Liegestühlen, die die heisse und grelle Sonne niemals sahen, da sie innerhalb des Hofschattens platziert waren. Darauf liegend, wurden die weichen Schönwetterwolken am stahlfarbenen Himmel oben schnell zu den einzigen Darstellern in meiner Welt. Ein vielschichtiger Atem schien sie anzutreiben. Sie gehorchten, schwammen und schwebten, Stoss um Stoss organische Reaktion darauf, was selbst den Grillengesang in wunderlich-präziser Periodik anund abschwellen lassen mochte oder aus einem Schwarm grell farbener, wirr auf- und niederschiessender Fliegen urplötzlich eine Flugformation bildete, welcher ich allerdings nicht nachzustaunen im Stand war, weil das Gefühl der Schwere in meinen erholungssüchtigen Gliedern in der Zwischenzeit auch in die Augen, unter die Augendeckel eingeschwommen war, weshalb da oben, am Himmel und unter den Augen, rasche Bewegungen beziehungsweise die Sicherung deren optischen Verlaufs sich bereits verbaten.

Und doch ginge fehl, wer meinen afrikanischen Arbeitsmonaten vorwiegend träumerische Schlaferlebnisse unterlegt haben möchte. Man darf und soll nicht meinen, ich hätte die Zeit neben meinem atmenden Vorbild lediglich in mich übermannender Schläfrigkeit genutzt oder verbracht. Zwar reagierte Tschalchow nur äussert selten auf ihm geltende brüske Bewegungen etwa der Stirn oder eines Unterarms. Meine Bereitschaft zu geschwinden und auffälligen Verrenkungen gerade während der Bürostunden aber war nirgendwo grösser als eben in diesem Afrika Tschalchows. Angehender Spastiker – so hätte gut und gern die gewiss situationsgerechteste Erwiderung Tschalchows auf meine mindestens einmal täglich geschrieene, hingebungsvolle Chefanrufung lauten können, hätte Tschalchow, worauf ich meine Erwartung gar nie ausrichtete, seinen Sprachverlust mittlerweile eingebüsst gehabt. Angehender Spastiker, Ihre Zeit bis zur künftigen Körperruhe darf mit stumm einsetzender, leicht machender Arbeit weiterhin ausgefüllt bleiben. Solcherart liess sich der wortlose Mann selbstverständlich nie vernehmen. Sinngemässer hingegen wären, fühlte ich, seine, mit seltenen Ausnahmen, stets unterlassenen Reaktionen auf mich als auf seinen vielleicht hektischsten und immer zitternden Bürolisten nicht zu transkribieren gewesen.

Weshalb zitterst du eigentlich, fragte mich Ginette während der ersten Wochen eindringlich, im weiteren Verlauf des Aufenthalts dann allerdings immer weniger häufig und interessiert. Ich habe darauf nie antworten können. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich Ginette fast ohne Unterbruch eine Erscheinung bot, die nicht normal, nicht zumutbar war. Bisweilen zitterte, bei völlig beruhigter Kopfstellung, zum Beispiel mein Hals. Versuchen Sie diese Uebung – Sie werden sich daran aufreiben und kläglich scheitern. Meine die Körperteile verbindenden Muskulaturen schienen ausser Kraft gesetzt, meine Körperteile, etwa der Hals, der Ellbogen, das Brustbein, sie funktionierten während der hier zu beschreibenden Afrikawochen wie Wesenheiten, die den Austausch mit ihrer Umgebung nicht mehr pflegten, den muskulären Austausch etwa, ihn längst nicht mehr benötigten, weil man hier, in der Wärme, in diesen Gerüchen, in dieser unerhörten Nähe zum atmenden Vorbild vielleicht, vielleicht zur Selbständigkeit gefunden und Abhängigkeiten wie unnötige Tics plötzlich hinter sich gelassen hatte. Mein eigener Körper veranschaulichte also im Jahre 84 die eigenartige Vorstellung, dass der Mensch aus zahllosen Entitäten besteht, aus denen er sich auf vollständig abstrakte, ja bestimmt abstrus anmutende Weise am Schluss zwar zusammensetzt, die aber, auf Grund afrikanischer Voraussetzungen und in diesem Kontinent anscheinend besonders leicht gedeihender menschlicher Bedingungen, die Sehnsucht nach Selbständigkeit so sehr kennen müssen, dass die Verbindung mittels Muskeln und Sehnen zur Umgebung zwischenzeitlich gekappt wird und somit das entstanden ist, was man die diversen Eigenleben des Menschen, in Benin an mir synchron zu beobachten, bezeichnen könnte. Offenbarer Plural desselben Lebens! Da zuckte und zitterte auf einmal Fleisch meiner linken Wange bei komplett sediertem nasalem Umfeld. Oder die eine Wade schien jählings in der Verkörperung von Erregtheit ihre erstaunliche Lebensaufgabe entdeckt zu haben, während das entsprechende Schienbein in der weissen Mittagssonne äusserst geduldiges Pergament mimen mochte, auf dem mehrhundertjährige Wahrheiten unverzuckt eingeschrieben sind. Im äussersten Fall gab meine Körperoberfläche Einblick in fünf-, gar sechsfaches paralleles Geschehen.

Ich verstehe, dass Ginette von dieser Fülle des Gleichzeitigen überfordert war und sich allmählich ins Desinteresse flüchtete, wie ich vermute. Wenigstens hat Ginette nie mit reiner Gereiztheit auf jene monströs überzogenen Selbstbehauptungen dieser meiner körperlichen Vielheit in Cottonville reagiert. Dafür liebe ich sie, Ginette, ungemein. Du verfügst, bedeutete ich ihr auf dem Rückflug nach Europa, über eine Riesenkraft zur Gesundheit. Kraft dieser Kraft – offenbar zitterte da, neben der Wade, eben auch jene Mulde, in die mein Wortvorrat gelegt war – Kraft dieser Kraft wirst du mich dereinst überleben. Ginette jedoch war eingeschlafen.

Verschämt, ja ein wenig gedemütigt richtete ich den Blick wieder geradeaus. Um meine Frau nicht aufzuwecken, bestellte ich das Apérogebäck mit Händen und aufgerissenem, doch stumm bleibendem Mund. Selbst jählings einsetzendes Husten erledigte ich minutenlang in der erforderten Tonlosigkeit, sofern, was keineswegs geschah, von der markanten Rottönung meines gesamten Kopfs abgesehen wurde, die ich als derart heftige Entstellung empfand, dass sie nicht nur den feindseligen Blicken sich wundernder und mich anstarrender Passagiere und Kabinenpersonen ausgesetzt war, sondern selbst geradezu akustisch zu vernehmen sein musste, die Scham- und Wutröte, als schriller, leichtmetallener Knall beispielsweise oder als trockenes Brechen eines hohlen Holzstabs. Immerhin, immerhin schlief gleich neben mir noch immer eine friedlich wirkende Ginette, meine Ginette geöffneten Munds, meine rührende Begleiterin seit unzähligen Stunden, die mit mir zusammen nun also dieses Flugzeug bestiegen hatte, um darin eine gute Weile zu schlafen. Ginette hatte demnach trotz wahrlich aufreibender Wochen in Afrika genug Leichtlebigkeit sich aufgespart, endlich abtauchen zu können, sobald ihr erstaunliches Vorgefühl ein Zuviel, wie man sagt, ein Zuviel an aufkommenden Schwierigkeiten zu prophezeien begann. Mir selber ist solches Abtauchen noch nicht vergönnt. Dabei litt und leide auch ich nicht wenig unter dem weiss wie kompliziert gewordenen Zusammenleben.

Tschalchow, der begnadete Atmer und Schweiger, dieser Ausnahmeathlet in verborgen brütender Effizienz, Tschalchow hat kaum ein Dutzend Wochen gebraucht, um meine vieljährige, solide Beziehung zu Ginette in ein neues Licht zu tauchen. Dabei geht es nicht vordringlich um Eifersucht, nicht um fremd gegangene Liebe, nicht um die gewiss beunruhigende Summe oder Bilanz schlafloser Tropennächte aufgrund aufmüpfig gewordener Triebe; nein, Ginette und ich, wir flogen ja als Paar, keineswegs als Einzelpassagiere nach Europa zurück. Wie also hat Tschalchow uns verändert, unser Zusammenleben kompliziert? Wir, Ginette und ich, sind gewiss anspruchsvoller geworden. Beide haben wir, wie gesagt, auf unsere Weise, eine Schule des Schweigens durchgemacht, waren über Wochen dominiert von der ungreifbaren Präsenz eines Mannes, der es längst vorgezogen hatte, sich zu wesentlichen Teilen aus dem Verkehr zu ziehen. Und stets lag sein grosser, schmerzlicher, nun eben auch körperlicher Abschied als Drohung in der Luft, und eine fast unerträgliche Spannung war noch den einfachsten Verrichtungen unterlegt, die Spannung, ob das Ende dieser oder der nächsten Verrichtung einen vielleicht ins schwarze Loch völlig umgestülpter Befehlsarten und Befehlswege fallen liesse und einem die Gewöhnung an den Verzicht auf Tschalchows Körper nicht bloss allmählich nahe-, sondern gar auf einen Schlag auferlegte. Schweigen Sie einmal über Gebühr Ihre nahe, vertraute Umgebung an, und diese wird augenblicklich mit Verständnis geschlagen sein, welchen Spannungen ich zuallermeist, Ginette vielleicht etwas weniger, im Benin der Achtziger Jahre ausgesetzt waren. Hier sei gewiss nicht unterschlagen, wie ausdrücklich aus Schweigen Erregung, Vibrationen körperlicher und auch geistiger Art gewonnen wurden und deshalb des öftern durch Astlücken vertrocknender oder angesengter Bäume, welche Tschalchows Betrieb auf der Stadtseite säumten, Rufe und Schreie und Gesumm radikalen Einverständnisses mit den flirrenden Gaben des Moments entwichen, die Cottonville eine druckvolle Ahnung verpassten, was Menschen anderen Menschen eben durch den Verzicht aufs Wort zu schenken vermögen. Noch nachhaltiger aber scheint mir die gewissermassen fast unverdauliche, jedenfalls bis weit in die Zukunft sich auftürmende kehrseitige Wirkung oder Auswirkung von als Genuss erlebtem Schweigen die seelische Situation angeschwiegener Menschen zu beeinflussen.

In der Brutwärme Benins lagen Ginette und ich oft ohne Aussicht auf Schlaf im Bett. Stockdunkle Nacht herrschte, die eigene Haut fühlte sich ausgewaschen an, durchgescheuert, ein schmerzend dünnhäutiges, beinahe brennendes, hoch reizbares Empfindungssystem lag zu dicht um Augen, Nase und Mund. Und allenthalben dieses Rufen der Hunde oder hundeähnlicher Wesen, heulend oder heiser. Flucht. Schlaf, nur Schlaf. Ja. Doch Bereitschaft zur Angst verstellte regelmässig diese Tür. Jäh auftretendes irres Herzpochen und der plötzlich ebenso irr gewordene Puls verengten den Hals. Schon schnappte jemand nach Luft, schrie irgendwer auf ob des Krampfs am Jochbein, jemand schien aufs Bett nieder zu plumpsen, am Lichtschalter wurde fanatisch gedreht. Ginette sah verstört zu mir hinüber, der ich eben auf dem zerwühlten Lakenturm wie auf dem für einen Augenblick träg wirkenden Kamm einer grossen Wasserwelle erst zu hocken oder zu knien versuchte, dann zur Seite kippte und vom Bett auf den Vorleger aus Aberdutzenden verdrahteter leerer oder ausgetrockneter Oelfarbtuben nieder sackte, einer unergründlich eigenwilligen, unpraktischen Hinterlassenschaft von Tschalchows farbenversessener Mutter. Ginette jaulte an meiner Statt auf, die Schwärze der Lage, die unser Bewegungsverhalten sogleich demjenigen verwilderter Rehe angeglichen hatte, erhielt so, mit dem Gejaul, den zur Verzweiflung weiss Gott passenden Ausdruck. Hatte meine Frau dieses Mal gejault, so wurde sie, bei vergleichbaren Gelegenheiten, bisweilen zum Blöken, anhaltendem Blöken getrieben, Blöken allerdings mit auffällig gebrochener, fast tiefer Kellerstimme. Zum Schluss hustete dieses schwer irritierte, verunsicherte Schaf dunkel und scheinbar wahllos in unserem übermässig ausgeleuchteten Schlafzimmer so lange, bis Ginettes stimmliche Kondition nachzulassen begann und endlich in hartes, aber stimmloses Schnaufen

überging. Verhalten sich so erwachsene Menschen? Doch bedenken Sie: Was, wenn mit dem Verlust seiner Stimme, wenn also mit Tschalchows krankheitsbedingtem Schweigen der fortschreitende Rückzug von Tschalchows Körper so sehr einher gegangen wäre, dass irgendwann kein sichtbarer Grund vor unseren Augen für die Existenz des atmenden Tschalchow mehr hätte ausgemacht werden können? Und genau diese Drohung, wie ich es nenne, bösartig gedrechselt aus der befremdlichen Kombination von federleichter, unverdient anmutender Präsenz des schräg da stehenden Chefs mit der steten Möglichkeit seiner unwiderruflichen körperlichen Entrückung suchte mich und Ginette auf dem Ehebett in der dunklen und heissen Unruhe vor dem ersehnten Schlaf als qualvoll inszenierter Verlust nun auch unseres Verstands heim. Ja, die befürchtete und nun wahr gemachte Drohung verwischte unseren Sinn für Grenzen ziemlich. Die krude Wahrheit vom Weggang Herrn Tschalchows war, dem Erleben nach, mit unserem eigenen Entschwinden gleichbedeutend. So starben wir zuweilen richtig dahin beim Einnachten, völlig verschwitzt und überwach, überreizt, segelten wie überrumpelte Eulen ab, verliessen das Schlafzimmer, die Firma, den serbelnden Garten, die Stadt Cottonville, Benin mit aufgesperrten Augen, verliessen Afrika, erreichten Europa aber nie, niemals, sondern gerieten mittels hochgeschwinden Kreisfliegens durch atemberaubende Thermik allmählich in Höhensog, vielleicht über Nouachott in Mauretanien, oder, vielleicht, über Tanezrouft in der Tiefe des algerischen Hinterlands, auf die niederzustürzen plötzlich nicht mehr zu verhindern war, so dass nun auch ich – unser sicheres Ende so jäh vor Augen – in Ginettes Rehrufen oder heiseres Blöken einstimmte, gerade so, als hätten uns Tiere oder immerhin Tierähnliche schon abgelöst auf dem zerwühlten Bett in Cottonville und Tschalchows Firma mit jenen kräftigen Instinkten zu beleben begonnen, welchen Schweigen wenig oder gar nichts antun kann.

Das ist unsere Erfahrung, das ist meine ureigene Erfahrung. Angst, diese Gewaltsangst, die in uns einschoss, indem jählings Leere wie ein grober Gegenstand in unseren Schlafraum eingedrungen war und uns und unsere Habseligkeiten augenblicklich zu verdrängen begann. Noch immer sehe ich diesen schon damals längst rostrot gewordenen, altmodischen Aufkleber eines einst stolzen Hotels aus dem Aostatal sich auf einmal, wie von Zauberhand, vom Oberleder meines auf einem simplen Holzregal über dem Bett aufbewahrten Koffers ablösen, um diesem, offenbar angetrieben durch die herrschende Angst vor der Leere im Schlafzimmer, schon einmal voran zu segeln, dem Koffer, und das Wort Aosta winkte ihm da gleichsam wie von einem Paradies her zu, ihm und uns, Ginette wie mir. Unserer nächtlichen Panik in Schwarzafrika wurde also eine bergumstandene Kleinstadt und des Näheren ein Deluxekastell inmitten mild geschwungener, herbstlaubfarbener Parklandschaft als unvereinbarer und lockender Kontrast entgegengehalten. War der vergilbte Hotelkleber Tschalchow nachgereist? Hatte Tschalchow seine Wirkstätte vielleicht nach Aosta verlegt? Oder ist Tod womöglich die strikte Verschiebung an eine Wunschgegend Hinterbliebener? Und sie, die Hinterbliebenen, leben bloss zu wenig nach ihrer Sehnsucht? Und folgen also nicht konsequent genug dem herrlichen Geruch ihres Instinkts? Ihres Instinkts? Aosta selber, du meine Güte, nicht unser Instinkt, roch gewaltig nach Quitten. Das sei hier vorausgesetzt. Wie denn hätte Aosta nicht nach Quitten riechen können, Aosta, dieser weitum berühmte und anerkannte Hauptort der vierkernigen, vierfach geherzten Quitte, jener, deren innerstes Fruchtfleisch sich notorisch rot verfärbt, um es nur ja nicht der Gier eines aufgesperrten Munds überlassen zu müssen? Die vierkernige Aosta-Quitte ist darum wahrscheinlich die verschonteste überhaupt. Vor ihr dreht sich menschlicher Magen um, sobald sie sich der Haut entledigt und angefangen hat, mit ihrer durchsichtigen Blösse zu schockieren. Nicht nur Quittenliebhaber schauen umgehend weg. Ein blutendes Jungküken will sich in diesem transparenten Fruchtsack erfolglos verbergen, mit aufgepumpten Schenkeln kraftvoll rudernd oder die Magenwand wie bei einer Kolik aufspannend. Angesichts dieses geblähten Innenlebens kann sich unsereiner nur noch erbrechen.

Ginette und ich sind unser Lebtage nie nach Aosta gereist. Nie. Wohl ist meiner Frau die Quitte offensichtlich nah. Im späten Herbst verengen sich ihre Interessen tagelang auf die Erforschbarkeiten dieser Frucht. Gewiss bleibt Aosta also Ziel, ein kerniges, reiches, ein unverschämtes Ziel. Ein womöglich afrikanisch zu nennendes Ziel inmitten Südliches ankündigenden, vorbereitenden und zur selben Zeit von sich weisenden Alpenlands, Terrains der bestimmt grausigsten Quitte überhaupt und möglichen Terrains Tschalchows, meines so einflussreichen beruflichen Mentors. Liesse Geographie sich doch über Wunschzielen aufbauen und Ferne streng anhand Liebesund Schreckgegenden definieren! Die Wissenschaft hielte die persönlich gewordene Welt bereit! Ginette und ich träten darum morgens mit frohem, glattem, weissem Gesicht und gewaschenem Wollmützenzeug aus der Tür, beglückt durch rasende Ungewissheit, welches Aosta uns heute, etwa auf dem Duftweg, anlockte, welche kapitale Frucht diesmal sich anböte, Ginettes sicher verankertes Interesse an Information, Glück und Abscheu zu wecken. (...)

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Das fröhliche Aosta, Ginette. Das fröhliche Aosta in Bergnähe, voll warmen Lichts. Da sind an herbstlichen Spätmorgen die Farben besonders klar. In Scharen verlassen die uralten Kastellgäste die mit lackiertem Rotholz ausgekleidete mainlobby, brechen einen Halbsatz auf der Lippe ab, stellen sich und ihr dünn gewordenes Haar ins Licht, blinzeln, lächeln, lachen, erstrahlen. Ausnahmslos grosse Alpinisten einst, schlanke und gut gekleidete Menschen immer noch, aber, als Greise, längst dankbar für die Schwere, die Müdigkeit, die Schlafnähe, welche sie eingangs Allee, unter dem Dach aus Platanenlaub, bereits befallen. Wie gesagt, die Greise lachen, in Aosta ist Betagtheit privilegiertes Geschehen. Der Jus aus saftigen Kabeljauwangen, in der mainlobby jedem Gast noch vor Aufbruch in die unermesslich lang wirkende Platanenallee ganz beiläufig gereicht, macht die ausgezehrten Körper vorübergehend beweglicher. Schwingende Arme, rollende Schultern, Unterkiefer voller Bewegungslust, trotziges Aufbegehren unter braunem Gesichtsleder, dann und wann verhaltene Kurzgesänge, dann wieder sportlich wirkendes Räuspern und Husten, als seien klebrige Rückstände durchzechter Nächte aus den Stimmbändern zu treiben. Rehbraune, matt glänzende Glattlederschuhe sind hier die Regel, herrlich brüchig geworden gerade da, wo das Leder durch den Knorpelbuckel ausgangs grosser Zehe am meisten strapaziert wurde. Herr Lustau und Herr Sandemann, zwei flache, hohe Männer wie dünnbauchige Flaschen in beiger Flanellhose und doppelseitig gestrickter Wolljacke sind schon seit vier Uhr nachmittags auf Spendiertour im Rondell und bilden, mit ihren dunkelblauen Sandaletten, farblich die Ausnahme. Was walzern die Beiden jeden Herbstabend im Zeichen einer weiteren sorgenfreien Nacht zwischen all den bläulichen durchsichtigen Lippen, trocken Münder bedienend in kunstvollen aperitivischen Einsätzen.

Bald aber schläft das Tal ein, schläft Gross-Aosta ein. Dann schläft auch Aosta. Im Kastell herrscht grösste Ruhe. Man spricht nicht, speist leise und konzentriert, schüttelt höchstens geräuschlos den Kopf. Man geniesst, für sich, wissentlich die Vollendung seiner sportlichen Vergangenheit. Die Berge um Aosta sind darum heutzutage leer. Auf den Hauptpfaden warten gähnende Pferde. Kühe mit erhobenem Schwanz gibt es nur anderswo.

(...)