Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Natalie Balkow
Natalie Balkow
Oben, wo nichts mehr ist

Natalie Balkow
Oben, wo nichts mehr ist
Die Spinnen sind unsere einzige Chance gegen das Ungeziefer, das raunt die Alte Isa zu. Es ist kurz vor Weihnachten und die Alte hat Isa mit einer Goldlackdose im Anschlag bei der Kellertreppe erwischt. Sie sind Nachbarinnen, sie teilen sich eine Etage, aber während Isa sich auch fünf Jahre nach ihrem Einzug immer noch falsch hier vorkommt, sogar manchmal aus Versehen zur früheren Adresse fährt und sich zusammen-reißen muss, wenn der Schlüssel nicht passt, ist die Alte auf seltsame Art mit dem Haus verwachsen. Sie ist immer da. Schleppt Isa die Einkäufe die Treppen hoch, geht die Alte mit einem Mal neben ihr und redet sie an, bringt Isa den Müll hinunter, steht die Alte unten bei der Tonne und wühlt darin. Nun ist sie also bei der Kellertreppe aufgetaucht, legt Isa eine trockene Hand auf den Arm, der immer noch lang ausgestreckt und mit der Sprühdose bewaffnet auf die reglos an der Wand hockende Spinne zielt und erklärt, diese Afrikaner würden nämlich unsere Zugvögel auffressen, ob ihr das einmal aufgefallen sei, es würden jedes Jahr immer weniger, die zurückkämen aus dem Winter, Spatzen gäbe es praktisch keine mehr. Isa ist sich einen Moment unsicher, ob Spatzen überhaupt wegziehen, ob sie nicht viel eher dableiben und einfach so aussterben, wenn sie denn aussterben, schweigt aber und lässt das Spinnensprühen sein.
Isa heißt eigentlich Isabell, das bell ist ihr schon früh abhanden gekommen, immer hat man sie Isa gerufen, niemals Isi, sie war nicht geeignet zur Verniedlichung, nur zur Verkürzung. Ein Gedanke, der ihr gleich zu Beginn der Pubertät kam, der Kosename passe zu ihrer, wie sie fand, zwergenhaften Statur und sie selbst nicht in eine Welt, die zu geräumig war, zu möglich. Während ihre Altersgenossen sich gegen eine Enge auflehnten, hatte Isa das Gefühl, immer und überall hindurchzu-schlüpfen, ungesehen. Sie malte sich mit Kajal die Augen ganz schwarz, um dann mit einem bespuckten Q-Tip am Lidrand entlang zu fuhrwerken, damit ein wenig Schwärze zwischen den Wimpern hängenblieb. Genauso viel, dass die Jungs es bemerken könnten, die Mutter aber nicht. Die Mutter bemerkte, du hast rote Augen, Kind, du schläfst nicht genug, hast du die Autoschlüssel gesehen, bleib sitzen ich hab sie, bis gleich, es wird nicht spät, versprochen.

Die Alte hat zwar das Leben der Spinne gerettet, aber ihr eigenes ist ein paar Tage später vorbei. Der Bote vom Lesezirkel hat die Polizei alarmiert; als die alte Dame nicht öffnete, habe er so eine Ahnung gehabt und außerdem habe sie meist nicht einmal gewartet, bis er geklingelt habe, sondern ihm zwischen der Gardine hindurch zugewinkt, immer habe er die einzelne wedelnde Hand oben gesehen, sie sei überhaupt immer so rege gewesen und sie habe sich immer sehr auf die Hefte gefreut und den kurzen Schwatz. Schwatz ist gut, denkt Isa, die auch im Flur herumsteht und noch formhalber befragt werden soll, die Alte war eine prall gefüllte Blase aus der, angestochen vom bloßen Anblick eines andern, eine Weltsicht herausplatzte. Ansichten, die Isa nicht teilt, die sie sich aber zwanghaft merken muss, Kinder halten die Welt beisammen, von oben herab kann man keinem ins Gesicht sehen, Spinnen sind unsere einzige Chance. Sie schenkt den Beamten Plätzchen, Spritzgebäck, das die Alte ihr am Abend vorher vor die Tür gelegt hatte. Frohe Weihnachten, sie stecken es ein, sie wollen auch nach Hause.
Noch vor Neujahr wird die Wohnung von Amts wegen leer geräumt, es gibt keine Angehörigen und keine Wertsachen. Der Januar ist eine Qual, voller fremder Männer, die in Latzhosen oder Overalls und mit aller Zeit der Welt die Treppen rauf und runter gehen. Isa sammelt Zigarettenkippen auf.
 Ende Februar zieht dann ein Hoffmann ein. Isa bemerkt die Fußspuren im Treppenhaus, es hatte noch ein letztes Mal geschneit und er hat den Matsch hineingeschleppt. Am nächsten Tag ist der Dreck ver-schwunden und ein Hoffmannschild bei der Klingel angebracht. Ihn selbst bekommt sie nicht zu sehen.

Der März wird mild und der April seinem Ruf nicht gerecht, sondern beständig warm und trocken. Balkonkästen werden bepflanzt, die Sehnsucht nach dem Draußen ist wie immer stärker als die Sorge vor Nachtfrösten und das Abendprogramm schaut man bereits bei geöffneten Fenstern. Später sitzt man kerzengrad im Bett mit weit aufgesperrten Augen und Ohren, die gerollte Zeitung in der Hand. Jedes Jahr vergisst man, dass man das eine nicht ohne das andere haben kann, wieder ein Frühling, wieder ein erstes Insekt, wieder ein Anfang, der keiner ist sondern nur ein Punkt auf dem Jahreskreis, den man gezwungen ist zu durchlaufen und alles läuft mit bis es endlich tot umfällt, um selbst verrottend anderem noch neue Nahrung und Leben zu geben. Das Knospen, Aufbrechen, Schlüpfen ist unaufhaltsam; Isa verspannt die Fenster mit Insektendraht und freut sich an ihrer luftigen, hell erleuchteten Wohnung.

Der Sommer kommt mit Rekordtemperaturen, er treibt die Menschen an die Strände der Badeseen und als die schließlich umkippen, haben sich die meisten an die Hitze gewöhnt. Nicht ohne Stöhnen, aber es ist nur halbernst, man nimmt das Leben mit einer von den Urlaubsländern abgeschauten Gelassenheit, beinahe heiter. Die Wettervorhersage, der normalerweise kaum zu folgen ist, schrumpft im Laufe der Wochen auf ‚Morgen wird es wieder schön’ und schließlich bleibt nichts mehr zu sagen als: ‚Es ist schön’. Beständigkeit hängt über allem.
Isa hat sich gut arrangiert mit dem Sommer, es geht leicht dieses Jahr, der Tag ist blau, die Nacht ist schwarz, es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln und die Auswahl an Kleidungsstücken beschränkt sich jederzeit auf  Kurzärmliges. Sie hat halb geschlafen, halb gelesen als es klingelt, die Nacht ist wie gewöhnlich zu warm für eine einzelne und durchgehende Sache. Das Buch ärgert sie, ein Frauenschicksalsroman mit Schauplatz Afrika, das durch die häufige Verwendung des Wörtchens ‚fremd’ dem Leser, vor allem wohl der Leserin, nähergebracht werden soll, das Schicksal selbst ist durchgehend groß, wild und stark und hat ‚glühende Augen’, bei Männern wie bei Löwen. Isa ist noch benommen, sie wundert sich nicht, die Alte klingelt oft bei ihr, nachts fällt ihr ein, dass sie noch ein Stück Kuchen übrig hat oder zu viele Bohnen gekauft, nicht zu öffnen ist zwecklos, sie klingelt schon wieder. Isa wirft das leidige Buch weg und denkt, so sehr anders als die Alte sei sie nicht, genauso schlaflos und genauso versorgt mit Abonnementslektüre. Eine Lektüre, die Isa einer doppelten Schwäche zu verdanken hat, der Schwäche, nicht Nein sagen zu können und der Unfähigkeit, ein paar Zeilen zum Briefkasten zu tragen und die Mitgliedschaft zu kündigen. Dass sie im Unterschied zur Alten aber noch am Leben ist, fällt Isa erst wieder ein, als sie die Tür öffnet und erschrickt und ein Mann in Unterwäsche davor steht. Er hat keine glühenden Augen sondern fast geschlossene, er fasst sich hinein als Isas Wohnungslicht ihn trifft, er sagt:
„Haben Sie bitte – ich brauche etwas zu trinken.“
Isa ist klar, dass er damit nicht ein Glas Wasser meint, er schwankt, er ist bereits betrunken. Oder er ist sehr müde. Isa schließt die Tür. Sie geht in die Küche und nimmt eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, die sie für Gelegenheiten dort aufbewahrt. Ihre Mutter hatte gemeint, man solle immer eine Flasche Sekt im Kühlschrank haben für Gelegenheiten, genauso wie man immer die schmutzigen Höschen aus dem Bad wegnehmen solle, falls. Isa kauft jedes Jahr zu Silvester eine Flasche Sekt und stellt sie in die Kühlschranktür, die letztjährige schüttet sie dann in den Ausguss bevor sie zu Bett geht, was hat sie mit dem Jahreswechsel zu tun.
 Er steht immer noch im Flur, Finger in den Augen, das also ist Hoffmann, natürlich, seine Wohnungstür ist offen, die Wohnung dahinter ein dunkles Loch, vielleicht kann er kein Licht ertragen, vielleicht will er auch nicht, dass die Viecher hereinkommen. Er schwitzt, die kalte Flasche rutscht ihm beinahe aus der Hand, er ist doch betrunken. Aber auch sonst, gewissermaßen unter der Trunkenheit, wirkt er nicht fest, sondern zittrig und schmal, fast verwischt. Aus den Shorts staken weiße Beine, Arme, Hände, alles blass, etwas an ihm stimmt nicht, es ist sein Gesicht, zwar halbverdeckt von der Hand, die immer noch die Augen nicht loslässt, das Gesicht aber ist sonnenverbrannt. Als Isa zurücktritt, um die Tür wieder zu schließen, sieht sie, dass Hoffmanns Füßen die kleinen Zehen fehlen.

Isa ist mit einem dringenden Putzbedürfnis erwacht, das ist nichts Ungewöhnliches, besonders an Wochenenden. Sie steht auf, wirft sich ein T-Shirt über und rückt die Möbel in die Zimmermitten, sie putzt systematisch und effektiv. Als Kind hatte sie eine große Murmel-sammlung, die sie, nach den Farben der eingegossenen Streifen sortiert, in verschiedenen Dosen und Kartons aufbewahrte. Eine Murmel hatte ein blaugelbes Auge, ganz genau blaugelb, Isa konnte sie stundenlang betrachten, weder der blaue noch der gelbe Anteil überwog, sie ließ sich nicht zuordnen. Isa trug die Murmel eine Zeit lang mit sich herum, dann schluckte sie sie hinunter. Dann schrieb sie, so gut es ging, ihr Testament, das im Wesentlichen eine Auflistung ihrer Spielsachen war, die arme Kinder in der Welt bekommen sollten. Die Murmeln wollte sie mit ins Grab nehmen. Nach zwei Tagen starrte die blaugelbe Murmel Isa aus der Toilette heraus an und mit dem Sterben war es vorbei. Von da an wuchs Isas Ordnungssinn aus ihr heraus; je größer sie wurde, umso größer wurde ihr Wirkungskreis und es war ganz natürlich, dass Isa diese Aufgaben übernahm, die Mutter war viel unterwegs. Manchmal ging Isa nachts in der aufgeräumten Wohnung umher und zog zum Beispiel neue Bezüge auf die Sofakissen, gespannt darauf, ob die Mutter es bemerken würde, wenn sie im Laufe des nächsten Tages, gegen Mittag oder gegen Abend nach Hause kam und die Schuhe im Gehen auszog. Die Mutter bemerkte, es sei an der Zeit, Isa sei Mitte Zwanzig, sie selbst wolle es auch noch einmal wagen, dieser Mann habe ein sehr schönes Haus, groß vor allem. Isa sagte nichts. Die Mutter öffnete eine Flasche Wein und meinte, sie habe auch schon etwas für Isa in Aussicht, zufällig, über Bekannte, die Wohnung sei schnuckelig. Eine Woche später unterschrieb Isa den Mietvertrag. Nach dem Einzug brauchte sie dann ein ganzes Jahr, um sich einzurichten. Die Möbel waren bis auf die Küche aus der gemeinsamen Wohnung übernommen, das lag nahe. Aber dort hatten sie ihren Platz gehabt. Hier wusste Isa nicht so recht, wohin mit ihnen, es war, als sträubten sich die Möbel, die neue Umgebung zu akzeptieren. Sie drückten sich entweder in einer Reihe an der Wand lang oder bildeten freistehende Gruppen, um die man dann umständlich herumlaufen musste. Isa kaufte sich schließlich Zeitschriften und zwang ihre Einrichtung in Vorschläge, bis sie sich einigermaßen fügte. Dann machte sie mit einem Bleistift feine, kaum sichtbare Markierungen ins Parkett. Nach dem Putzen stellt sie die Möbel wieder dort hinein.

Hoffmann sagt: „Entschuldigung, Sie hatten Ihre Marke nicht.“
Isa sagt: „Ich brauche den Sekt nicht zurück.“
„Dann etwas anderes. Kaffee. Ich mache welchen.“
Isa hätte sich gerne noch ein anderes T-Shirt angezogen, aber Hoffmann ist schon auf dem Weg in seine Wohnung. Es ist nicht leicht, ihm zu folgen, alles ist zugestellt mit Taschen und Rucksäcken und Kartons. Er sagt
„Ich bin unterbrochen worden.“ In der Küche sagt er
„Ich bin erst gestern zurückgekommen, bei Ihnen war noch Licht.“
Die Küche ist ebenso uneingeräumt wie der Flur, Isa nimmt eine Bananenkiste vom Stuhl, Hoffmann nimmt sie ihr ab und kramt darin, Isa setzt sich, Hoffmann hantiert und beugt sich zur Seite, um an den Herdknöpfen die Zuordnung zu den Platten abzulesen, er sagt
„Vorne, hinten, vorne, hinten“, hat sich entschieden, setzt die Kanne auf und kontrolliert nochmals, vorne, hinten, vorne. Sein Rücken kommt Isa breiter vor, als sie es gestern Nacht vermutet hätte, der ganze Mann ist auch größer als gedacht, vielleicht weil er nicht so nackt ist, er trägt trotz der Hitze ein langärmliges aber kragenloses Hemd und lange Hosen, Stoffturnschuhe. Er bewegt sich nicht unsicher, aber vorsichtig, auf unbekanntem Terrain und die Situation ist umgedreht, es ist sein Zuhause aber Isa kennt sich besser aus, sie sitzt unter dem Küchenfenster wie immer, nur spiegelverkehrt. Jetzt wäre ein Moment für Erklärungen, für Bekanntmachungen, für das Warum er beim Einzug unterbrochen worden ist und was der eine so macht im Leben und was der andere. Hoffmann bleibt beim Kaffee stehen, abgewandt, beidhändig aufgestützt, als ob er dem Herd nicht vertraut, als ob der Kochvorgang nur unter seiner Beobachtung stattfinden kann. Isa stört es nicht, dass er sie vergessen hat über dem Kaffee, es ist so, als hätten sie das Kennenlernen unbemerkt übersprungen und könnten bereits wieder in verschiedene Richtungen schauen oder auf irgendein Ding, ein Detail oder eine Geste und sich denken, der andere sieht es sicher auch so.
Isa sieht von ihrem Platz durch den Flur in das, was als Wohn-zimmer gedacht ist, auch dort Kartons und einige blaue Plastiksäcke, Müllsäcke, wahrscheinlich mit Bettzeug. Entweder besitzt er außer dem einen Küchenstuhl keine Möbel oder sie sind zurückgeblieben oder eingelagert, vorläufig nur Kartons und Kisten, das Chaos bleibt am Boden, wie hingeschüttet von einem Kind, was zwar die Klötze ausgeleert hat aber dann nichts damit gebaut. Das Einzige, was er in der kurzen Zeit zwischen Einzug und Unterbrechung getan hat, ist ein Bild aufzuhängen. Ein vergrößertes Foto, aufgezogen auf eine Pappe, klebt es an der Wand und doppelt, nein, übersetzt das Kartonchaos darunter in eine unübersichtliche Berglandschaft, in Massen von Stein und Schnee und endlich Horizont, immer noch in Stein, darüber Himmel, leer. Der gefrorene Stein, die weite, tote und erstarrte Landschaft rühren Isa; als Hoffman sich mit den Tassen zu ihr umdreht, springt sie aus Versehen auf und fühlt sich plötzlich getäuscht von dem vertrauten Grundriss der Wohnung, was hat sie denn hier zu suchen, es ist eine Falle und wenn sie hinaus will, muss sie sich jetzt konzentrieren und links halten, keinesfalls rechts.
„Himalaya“, sagt Hoffmann und gibt Isa eine Tasse und das genügt, um sie zurück auf den Stuhl zu zwingen,
„Isabell“, sagt Isa. Weil sie ihre Fassung noch nicht wiedergefunden hat und auch das Gefühl der Vertrautheit von eben verloren gegangen ist, jetzt muss man doch die ganze Strecke gehen und man geht immer vom Namen aus los ohne zu wissen, ob man sich irgendwo treffen wird. Hoffmann setzt sich ebenfalls, auf einen Karton, und stellt die Kaffeetasse auf seinen Oberschenkel, um sie sofort wieder wegzunehmen, zu heiß, etwas verrutscht in dem Karton unter ihm, er steht wieder auf, verärgert, etwas rutscht erst recht und knackt. Isa holt tief Luft, unwillkürlich, ihr ist plötzlich übel, so übel, dass sie befürchtet, ihr Unwohlsein sei aus ihr herausgedünstet und verpeste nun die Luft zwischen ihnen, möglich, dass sie es zurücksaugen und runterschlucken kann. Er sieht sie an, wie sie nach Luft schnappt, unfähig damit aufzuhören, ist es noch so peinlich, seine Augen sind ganz hell in dem gebräunten Gesicht, die Iris fast farblos weiß wie der Augapfel, Isa atmet, die Luft reicht nicht, Isa wird nicht satt davon, sie saugt mehr, Hoffmann greift sich in die Augen, schon wieder, nimm doch die Finger weg von dir, er wischt sich den Schleim, der an den Fingern hängengeblieben ist, in die Hosennaht, du wischt dir die Augenfarbe in die Hose, bald nur noch schwarze Löcher im Weiß, Hoffmann stellt die Tasse auf den Karton, sie wird wegrutschen, Vorsicht!, er ist mit einem Schritt bei ihrem Stuhl und geht vor ihr in die Hocke, siehst du, wie wenig Grau nur noch übrig ist, und legt ihr eine Hand flach und leicht auf das Brustbein, wie man es manchmal mit sehr kleinen Kindern tut, Babys, Säuglingen, die sich in etwas hineingeschrieen haben, aus dem sie allein nicht mehr herausfinden.
Dass er sie anfasst. Dass er sie anfasst ist das Letzte, womit sie gerechnet hat und es ist das Einzige, was hilft.

Später liegen sie zwischen den Kartons und Tüten auf dem Boden unter dem Bild und Isa sucht ihr T-Shirt, findet es aber nicht. Sie fragt:
 „Hast du dieses Foto gemacht?“
 „Ja, das ist von oberhalb der Station, wir sagen Station, es ist weniger, eine Hütte und Zelte. Wir arbeiten da, ein paar Geologen im Wechsel, seit fast zwei Jahren.“
 „Und?“
 „Nichts. Unsere Gelder wurden gestrichen, ich werde mir neue Steine suchen müssen.“
 „Ich stelle es mir sehr gut vor, oben zu sein wo nichts mehr ist.“
 „Das ist es auch, erst mal.“
 „Und dann?“
 „Dann denkt man ans Ficken.“

Anschließend sind sie eingeschlafen, wie ohnmächtig. Als sie aufwachen, wird es bereits dunkel, Hoffmann fragt:
„Und was tust du eigentlich?“
„Nichts besonderes. Ich sitze in einem Büro, nicht mal das, ein Schreibtisch in einem Vorzimmer, in jeder Wand eine Tür.“
„Und was tust du nun da? Doch nicht nur sitzen.“
„Nein, aber ich denke auch nicht. Es ist wirklich sehr uninteressant, ich sitze und schreibe, was ich schreiben soll.“

Hoffmann hat den Sekt geholt und ein paar Teelichte, hier ist noch keine Lampe; Isa hat die Decken aus den blauen Säcken gezerrt und ausgebreitet so gut es geht. Sie trinken aus den Kaffeetassen, Gläser zu suchen ist ihm zu mühsam gewesen, es macht nichts.
 „Ich trinke nie Sekt“, sagt Isa und nimmt einen Schluck, Hoffmann reibt sich die Augen und meint, Bier wäre ihm auch lieber jetzt, er habe nur an den Sekt gedacht beim Einkaufen und an wenige andere Dinge, Kaffee zum Beispiel, Kaffee sei das Wichtigste und er, Hoffmann, sei noch nicht recht wieder angekommen in der Welt, Höhenunterschied, Jetlag, er habe bis auf eben noch keine Minute geschlafen und auch einen Kater gehabt, zugegeben. Isa betrachtet im Flackerlicht den bleichen, ausgemergelten Körper Hoffmanns, über den sich ein Netz aus blauen Adern legt, etwas zu lässig übergeworfen findet Isa, man weiß auch so, dass Körper beim kleinsten Anlass anfangen zu bluten, muss er das derart vorzeigen?
 „Was ist mit deinen Augen?“, fragt sie, um nicht nach den Zehen zu fragen.
 „Etwas schneeblind,“ antwortet er, „ich habe die Brille verloren. Die ganze Aktion war ein Dreck. Ich habe Kopfschmerzen, ich müsste noch etwas schlafen.“
 „Ich war nur einmal oben, ein paar Tage wandern, es war gut, fest irgendwie. Ja, fest. Das Meer mit seinem ständigen Vor und Zurück und dem ganzen Gewimmel, Wälder sind auch nicht besser, immer knackt und huscht es irgendwo, ein Dschungel, ein Albtraum.  Berge stehen einfach da, schon immer für immer, und rühren sich nicht.“
„ Nicht ganz.“ Hoffmann stützt sich auf, Isa zieht die Knie an,
„Wieso? Ach, Lawinen.“
„Nein.“
„Das gilt nicht, das ist nur Schnee.“
„Nein, das meine ich nicht.“
„Was denn, Geröll? Aber das ist doch nur Abnutzung, oder?“
„So kann man es auch sagen.“
„Also.“ Isa streicht sich über die Stirn, der Sekt bekommt ihr nicht, schon gar nicht bei der Hitze, „ich meine es nur als Idee, irgendwann ist das alles entstanden, du weißt es besser als ich, ich meine jetzt, jetzt steht dieser Himalaya da, oder etwa nicht?“
„Sicher, aber er wächst.“
Hoffmann redet vom Auseinanderreißen, vom Aufeinanderstoßen und vom Auffalten. Er redet von Platten, von Kontinenten, die kollidieren und wie Indien sich gegen Asien drückt, immer noch, und wie deshalb die Berge wachsen, immer noch, zwei bis drei Zentimeter im Jahr, manchmal sogar fünf. Isa versteht nicht, sie fürchtet sich vor seiner Begeisterung, fünf Zentimeter. Er springt auf und schaut in einen Karton, dann in noch einen, dann hat er das Buch gefunden. Er zeigt ihr Linien und Schraffuren, die ‚eine Auffassung geben von dem großartigen Zusammenschub Hochasiens’, er liest es vor, er fährt mit dem Finger die Linien nach, Isa schaut ihm über die Schulter auf das Foto an der Wand, Hoffmanns Schatten liegt darauf, er ist mit dem Buch nah an die Kerzen gerückt. Sie verlässt ihn, der Vortrag hat ihn erst sehr wach, dann umso müder gemacht.

Isa macht Fotos von sich, alle drei Monate eins. Dabei bemüht sie sich, immer gleich auszusehen: Sie kämmt sich die Haare aus dem Gesicht und bindet sie im Nacken zusammen, sie legt die Polaroid-Kamera auf den Fernseher und setzt sich genau in die Sofaecke unter das Licht der Leselampe, sie hat sich sogar auferlegt, immer nur die Worte ‚Ich heiße Isabell’ zu denken im Moment der Aufnahme. Dann schreibt sie ihren Namen und das Datum auf den weißen Rand des Bildes und klebt es in ein Album, immer nur eins pro Blatt. Schlägt man nun ein oder zwei Seiten um, blättert also drei Monate oder ein halbes Jahr zurück, ist praktisch kein Unterschied festzustellen. Vergleicht man aber das erste Portrait mit dem letzten, ergibt sich eine Differenz, die mit dem Begriff Älterwerden nur unzureichend beschrieben ist. Isa muss sich noch gedulden, sie dokumentiert sich erst seit drei Jahren in dem Album, es gibt noch nicht viel her. Aber es gibt ihr einen gewissen Halt, es ist ein Beweis ihrer Existenz über Jahre hinweg. Meistens jedenfalls, heute hat der Blick ins Album nichts genützt, Isa hat es gleich genommen, als sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt ist. Die Frau auf den Fotos ist ihr unbekannt, sie legt das Album zurück an seinen Platz und lässt kaltes Wasser in die Wanne laufen. Dann steht sie frisch und mit schwarzgerahmten Augen vor dem Kleiderschrank. Die zwei Türen haben innen Spiegel und vervielfältigen Isa bis in die Unendlichkeit, wobei immer nur jede zweite Isa ihren Blick erwidert, die andere Hälfte wendet sich ab und zeigt den Hinterkopf. Isa geht zurück ins Bad, nimmt die Wachsstreifen und beginnt, sich die Körperhaare abzureißen, dann steht sie nackt im vom Mondlicht gefluteten Treppenhaus und klingelt gegenüber.
 Die neue Aussicht überrascht Hoffmann, er bezieht es auf sich und glaubt, er habe nun das Recht, ausführlich zu schauen, Isa lässt es dabei, sie hat ihm nichts mehr entgegen zu setzen. Er sagt etwas, aber zu leise. Isa geht an ihm vorbei einen Schritt in die finstere Wohnung, sie glaubt, sie sei schon hundert Mal einen Schritt an ihm vorbeigegangen. Sie streicht ihm über den Unterarm und verfolgt den komplizierten Weg einer großen Vene, es ist zu dunkel, sie kann sie nicht sehen aber das sich verästelnde Gefäß lässt sich leicht ertasten unter der dünnen Haut, sie kann ihm die Fingerspitzen ins Leben tunken. Und dann ist es anders, Hoffmann benimmt sich weniger bullig als die vorherigen Male, Isa hämmert das Herz von der Anstrengung als wolle es sie aufbrechen, sie sagt, das sei nicht wiederholbar und Hoffmann sagt: „Nein.“
Lange beobachtet sie den Schlafenden, wie der Brustkorb sich hebt und senkt, sie versucht, in seinen Rhythmus zu kommen, es misslingt, man kann den Atem eines Schlafenden nicht finden, er ist zu weit weg. Hoffmann sieht nicht schön aus, das Mondlicht bleicht ihm das Gesicht zur Maske, aber je länger sie hinsieht, desto mehr gewöhnt sie sich und als sie sicher ist, dass sie ihn jederzeit wieder erkennen würde, so wie man eine Tasse oder einen Tisch jederzeit wieder erkennt, wenn man einmal einen Begriff davon bekommen hat, steht sie auf geht zum Bergbild. Sie löst es vorsichtig von der Wand ab und nimmt es mit zu sich hinüber.

Isa hat nicht geschlafen, es war nicht nötig. Sie hat aus dem Küchenfenster in den Hof hinunter geschaut, die Teppichstange stand hell vor einem Dunkel, das sich mit großer Langsamkeit in die Ecken verzog und in die Gegenstände hinein. Dann standen die Fahrräder, die Biotonne, die Teppichstange dunkel im diffusen Blaugrau des beginnenden Tags bis gerade eben. Jetzt kommt die Sonne hinter den Häusern hoch, unerbittlich, wie die ganzen Tage schon. Isa löscht das Licht im Flur und geht einkaufen.
Sie ist sehr früh, das Geschäft hat eben erst geöffnet, aber sie ist dennoch nicht die Erste, die Hitze hat die Menschen zu Frühaufstehern gemacht. Vielleicht war es aber auch immer schon so, vielleicht sind immer diese paar Leute hier die ersten Kunden, Isa kommt normalerweise erst nach Büroschluss her, ein angenehmes Geschäft, in dem nicht ständig die Waren durcheinander geworfen werden. In allen Geschäften wird fortwährend etwas verräumt, um die Stammkundschaft zu verwirren, vom Weg abzubringen und zu Notkäufen zu zwingen. Hier ist es besser, bestimmte Produktgruppen bewegen sich in einem Reigen durch den Laden, die Abfolge der Haltepunkte ist Isa mittlerweile bekannt. Das ist bestenfalls lästig, aber nicht verstörend und Isa kauft von Zeit zu Zeit etwas nie zuvor Gekauftes, freiwillig, ein stilles Abkommen zwischen ihr und den Angestellten. Zu Hause wirft sie es gleich unten in den Müll, weil es doch zu aufwändig wäre, für eine Sache, die sie eigentlich nicht braucht, einen neuen Platz zu schaffen bei den Vorräten oder im Kühlschrank. Die Getränke stehen ganz hinten in einem sogenannten Getränkebereich, für die Flasche Wasser muss man durch das ganze Geschäft, und nach dem Wasser kommt das Bier, so weit ist Isa noch nie gegangen. Sie fährt den Einkaufswagen den Biergang hinunter, die Auswahl ist beeindruckend, ganz oben stehen Einzelflaschen, darunter Mehrfachpacks, am Boden die Kästen. Isa nickt einer Angestellten zu, einer älteren Frau, die immer da zu sein scheint und dabei nichts tut, außer ihren Kittel zu tragen und ein Auge auf die Dinge zu haben. Es ist sicher auffällig, dass der Wagen immer noch leer ist, Isa legt ihre Handtasche hinein, das macht es auch nicht besser, jetzt muss es so aussehen, als wolle sie etwas unter der Tasche verbergen. Wäre es doch so, sie ist schon am Ende des Gangs angekommen, kehrt um und geht zurück. Der Schlafmangel macht sich bemerkbar und es gibt kein Kriterium, nach dem etwas beurteilt werden könnte. Der feste Vorsatz, mit dem sie hergekommen ist, die Entscheidung, etwas Zukünftiges zu tun, zersplittert an der Fülle der Möglichkeiten. Es gibt einfach zuviel Bier auf der Welt. Isa bleibt stehen. Sie reckt sich nach oben, greift nach irgendetwas, greift ins Leere, die einzelnen Flaschen sind minimal außer Reichweite, sie bückt sich, um eine aus einem Kasten zu ziehen und Müdigkeit flutet ihr die Stirnhöhle, sodass sie die Augen schließen muss und sich abstützen auf dem Bierkasten und verharren, vornüber gebeugt, als wolle sie hineintauchen. Die Angestellte kommt und greift Isa unter den Arm, es ist unangenehm, Isa hat geschwitzt, die Achseln sind nass und die Frau fasst hinein.

Der Bürotag ist lähmend zäh. Isa ist nicht in der Lage, die morgens verpasste Zeit einzuholen, sie muss sie hinten anhängen. Sie war nicht viel zu spät, zehn Minuten vielleicht, aber nun sitzt sie schon bald eine Stunde allein an ihrem Schreibtisch, die Kollegen sind überpünktlich gegangen aus Angst, der Sommer könnte vorbei sein und die schönen Abende ohne Jacke. Heute erschienen kleine Wölkchen am Himmel, gegen Mittag stand einer in der Tür, ein Papier in der Hand, und sagte, oh, Wolken. Isa sagt es vor sich hin, oh, Wolken und es beunruhigt sie überhaupt nicht, oh, Wolken, sie muss lächeln, wie so ein kleiner Satz einem die Leute vom Hals schaffen kann. Eine Putzfrau schiebt ihren Utensilienwagen an der Türöffnung vorbei, Isa sagt, oh, Wolken und glaubt, die Frau wird sie für nicht ganz dicht halten, aber sie lächelt einfach zurück, beflissen, und nickt mit dem Kopf, wahrscheinlich spricht sie kein Wort deutsch. Isa tippt die Briefe, die das Diktaphon ihr vorsagt und die Putzfrau stülpt die Mülleimer um.

Er klingelt diesmal nicht, er klopft. Isa steht hinter der Tür, deshalb kann sie es gut hören. Sie wartet. Es ist spät, sie hat schon lange hinter der Tür gestanden. Als der Abend kam, ist sie durch die Wohnung gegangen, hat Licht gemacht, das Afrikabuch vom Nachttisch geräumt und sich wieder hinter die Tür gestellt und gewartet. Er klopft nochmals und er fragt „Isabell?“ und sie öffnet ihm. Sie geht vor und er folgt ihr in die Küche. Sie holt eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnet sie und gibt sie ihm. Sie sieht sie beide stehen, etwas konturlos im Doppelglas des Fensters, eine Frau und ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand stehen in einer Küche wie schon immer Frauen und Männer in Küchen stehen. Ein großer Falter prallt gegen das Insektennetz und wird zurückgeworfen in die Nacht, er kommt wieder, er kann ja nicht anders, er bleibt an der Gaze hängen und beginnt, nach oben zu krabbeln. Isa setzt sich und Hoffmann rückt sich seinen Stuhl zurecht und setzt sich zu ihr unter den Lichtkegel, der nur wenig kleiner ist als der Küchentisch, nur die Kante bleibt ein Schattenkreis in dem der Tisch erst recht behaupten kann, rund zu sein. Hoffmann stellt das Bier ab und streckt die Beine aus, Fußknöchel übereinander geschlagen ragen sie in die Küche wie der Ausleger eines Boots. Er legt einen Ellbogen auf den Tisch, dann nimmt er noch einen Schluck, behält die Flasche in der Hand und beginnt, das Etikett zu lösen, indem er den Daumennagel darunter schiebt. Das Kondenswasser der Flasche hinterlässt einen glänzenden Kringel auf der Tischplatte. Hoffmann sagt:
 „Es zieht sich zu.“
„Ja“, sagt Isabell, „es sieht nach Regen aus.“