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FR | 11.02 | 15:51
Martina Hefter (Bild: Johannes Puch)
Martina Hefter
Noch auf dem Bahnsteig . . .

Martina Hefter (Bild: Johannes Puch)
Martina Hefter

Noch auf dem Bahnsteig habe ich eine Gruppe junger Leute gesehen, die auf einer Bank saßen, bzw. es standen ein paar von ihnen auch davor, ein Knäuel jüngerer, lachender Menschen; von weitem hätten sie aussehen können, wie Jugendliche immer aussehen, die nachmittags die Bänke in der Bahnhofshalle als Aufenthaltsort nutzen, es fehlte nur ein Kassettenrekorder, und womöglich eine Flasche Schnaps, man hörte sie lachen und die jungen Männer manchmal grölen, sie klopften sich auf die Schultern beim Reden oder boxten sich in die Oberarme, sie deuteten im Sprechen in alle möglichen Richtungen und wendeten dauernd die Köpfe – eine einzige große überschießende Bewegung, hinter der die Jugendlichen beinahe ganz verschwunden wären, hätte es nicht in den Gesten eine leichte Verschiebung gegeben, eine Verschiebung ein paar Millimeter fort von den richtigen Gesten, die man so ähnlich ja schon oft gesehen hat; zum Beispiel verlief alle Bewegung in der Zeit verzögert. Ein Fingerzeig dauerte viel länger, als man es von einem Fingerzeig gewohnt war, und er streifte knapp am Wagenstandsanzeiger vorbei oder eine Handbreit über den Automaten mit den Süßigkeiten hinweg – als meinte so ein Fingerzeig, so ein Winken überhaupt nichts und als gäbe es auf dem Bahnhof, eigentlich in der Welt, auch gar nichts zu meinen und nichts zu bewinken, als eben die Luft selber. Außerdem gerieten die Handgriffe und Gesten zu groß, mit dem Arm wurde weit ausgeholt, um dann bei einem kleinen Händeschütteln zu enden. Es wirkte, als hätten die jungen Leute von der Welt ein paar landläufige Gesten für eine Stunde entliehen, um sie dann versuchshalber zu benutzen, als veranstalteten sie einen Glaubwürdigkeitswettbewerb, nur wußten sie nicht, in bezug auf wen oder was sie glaubwürdig erscheinen sollten. Vielleicht einfach in einer ehrlichen Mimik und Gestik so tun, als meinte man ernst, was man ohnehin ernst meinte. Nur als eine Taube kopfruckend an ihnen vorbeiging, wurden sie plötzlich alle zusammen still und bewegten sich ein paar Sekunden lang nicht. Der ruckende Gang des Tiers schien ihre Gedanken derart zu durchdringen, daß alle Gesichter auf einen Schlag ganz ähnlich aussahen, sämtlich hatten sie den gleichen rundlichen, staunenden Ausdruck, und da erst merkte ich, daß die jungen Menschen irgendeine leichte Form der Behinderung hatten, nur so ein minimales Hinterhersein, eigentlich, von außen gesehen, kaum der Rede wert. Nur der Betreuer der Gruppe stach plötzlich hervor – ihn hatte ich zuvor gar nicht bemerkt. In seiner Aufpassermiene reckte er das Kinn und ließ die Augen wachsam hin- und hergehen, was jetzt übertrieben aussah, vollkommen unangemessen. Er hatte den stillen Moment der Gruppe übersehen und auch die Taube übersehen; am meisten aber hatte er übersehen, daß es gerade ein paar Sekunden lang überhaupt nichts aufzupassen gab. Also eine große Verspätung des Betreuers, und das auch noch, ohne daß er etwas davon bemerkte. Dies zu beobachten war trauriger, als zu sehen, wie das Beobachten der gehenden Taube den jungen Leuten jede Möglichkeit zur Absetzung voneinander raubte.

Die Gruppe ist ebenfalls im Zug, vorher sah ich sie längst wieder lärmend und grölend am Abteil vorüberziehen. Die Taube schienen sie schon vergessen zu haben, jeder von ihnen war wieder ganz er selbst, im stillen Dahingleiten des Zuges, in der Geräuschearmut des Intercity, und ich habe ihnen kurz zugenickt, obwohl sie es gar nicht bemerkt haben, so sehr sind sie mit den Gesten beschäftigt gewesen. Ich schaute aus dem Fenster auf ein Nebeneinander aus Rapsfeldern und sah, wie ein kleinerer Raubvogel, ein Milan oder ein Falke, aus seinem beruhigendem Segeln plötzlich herausfiel und kopfüber in die Rapsfelder stieß. Ich überlegte, ob ich nicht vergessen hatte, den Herd auszuschalten. Die Überlegung stand kurz da und verschwand sofort wieder, und ich merkte, ich hatte die Überlegung bloß aus alter Gewohnheit angestellt, und vielleicht auch, um überhaupt an irgend etwas zu denken. Eine Frau und drei Kinder sitzen mit im Abteil, ein Junge, vielleicht schon ein Schulkind, und seine beiden kleineren Schwestern. Die Mutter hatte ihnen, während sie ihre Reisetasche auf die Ablage hob und einen großen Korb auf den freien Sitz stellte, mit knappen Handbewegungen die Sitzplätze zugewiesen. Die Kinder hatten sofort aus ihren Rucksäcken Buntstifte und kleine Blöcke und Radiergummis herausgeholt und zu zeichnen begonnen. Das Kratzen der Stiftmienen auf dem Papier ließ die Stille im Abteil nur noch deutlicher hervortreten – nichts ist so still wie die Stille um zeichnende Kinder herum. Ich weiß nicht mehr, wie es gewesen ist, wenn mein Bruder und ich früher mit den Eltern verreisten, ich kann mich überhaupt nur an eine einzige Zugfahrt mit ihnen nach Italien erinnern, daran, wie ich am Bahnsteig von einem Schaffner die Lok gezeigt bekommen habe, nur von außen, und daß meine Mutter meinen Bruder und mich ermahnte, nicht zu nah am Bahnsteigrand entlangzugehen, aber ich glaube, daß wir nicht halb so gut in den Organisationsformen aufgehoben gewesen sind, vielmehr glaube ich, daß die Organisationsformen noch nicht so weit entwickelt waren wie jetzt, daß es immer wieder Leerläufe und Leerstellen gab, niemand wußte, auch die Mütter in den Zügen nicht, was als nächstes zu tun sei. Die Frau holte aus dem Korb einen kleinen dunkelblauen Pullover und bedeutete dem kleinsten Mädchen, zu ihr herüberzukommen, sie streifte ihm den Pullover über, und das Mädchen ließ es ohne jede Regung geschehen, du mußt doch etwas Wärmeres anziehen, sagte die Frau, und sie schien sofort selbst zu merken, daß ihrer Äußerung gar keine Widerrede vorangegangen war. Sie setzte sich und schaute ein paar Sekunden lang an die Decke wie ertappt, und ich fühlte mich beim Anblick ihrer Verlegenheit selber verlegen, oder wurde verlegen wegen ihrer Äußerung, weil so eine Äußerung auch mich betrifft, alle Leute betrifft. Aber du mußt doch deine Milch trinken. Du mußt doch die Treppe wischen. Aber du mußt doch etwas Vernünftiges essen. Später: Etwas Vernünftiges arbeiten – alles Antworten, auf die es nie eine Vorrede gab, ein paar lose herumflatternde Sätze, die aus reiner Gewohnheit wieder und wieder in die Welt gestellt werden, bis heute; was soll man mit solchen Momenten anfangen, wo so ein Satz ein bißchen nachhallt und man innehält in der Beschäftigung und sich fragt, was fangen wir jetzt mit so einem Satz an, oder was fangen wir besser mit der Pause nach dem Satz an, womit wollen wir sie füllen, vielleicht kann man sie gar nicht füllen.

Lennart hat mir den Schlüssel zum Ferienhäuschen seiner Eltern gegeben und eine genaue Wegbeschreibung auf einen Zettel gekritzelt. Während es mir schwergefallen ist, das Angebot anzunehmen, und es mir fast schon ein bißchen davor graut, mich in ein Bett zu legen, das fremden Leuten gehört, ist es ihnen gleichgültig, sie haben Lennart, wie er sagte, ohne groß zu fragen den Schlüssel gegeben, selbstverständlich könne ich dort ein paar Tage bleiben. Ich hätte es aber gern gehabt, das merke ich jetzt, wenn sie gezögert und erst genau nachgefragt hätten, wer ich sei, was ich mache, woher ich komme. Sie kennen mich nicht, und das macht es schwer, in ihrem Ferienhaus zu wohnen: weil alles, jede Teetasse, jedes Besteck, nur in leisem Vergeblichkeitsgefühl angefaßt werden kann. Ich weiß, daß mein Aufenthalt nirgendwo langfristig Spuren hinterläßt; selbst wenn mir eine Tasse herunterfällt, wird zwar ihr Fehlen bemerkt werden und es wird ein leichtes Kopfnicken von Seiten der Mutter geben, aber dann ist die Sache erledigt und der Urlaub wird fortgesetzt in den niedrigen Räumen des Ferienhauses, in denen zeitweilig auch ich herumgegangen bin.

Meine Eltern haben mich einmal in meiner Wohnung in der Schnorrstraße besucht, als ich noch nicht lange dort wohnte. Sie zogen jeden Abend das Schlafsofa im Wohnzimmer aus und spannten ein Leintuch darauf und legten das Bettzeug zurecht. Dann baten sie mich, das Wohnzimmerlicht zu löschen, sobald ich selbst fertig mit dem Zähneputzen sei, und wenn ich später ins Zimmer kam, lagen sie auf dem Rücken und schauten an die Decke, und ich knipste das Licht aus und hatte ein paar Sekunden ein glühendes Nachbild ihrer Gesichter und des Bettzeugs vor Augen. Obwohl sie morgens immer schon wach waren, wenn ich aufstand (ich hörte sie durch die Wand, wie sie sich unterhielten), blieben sie so lange liegen, bis ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete und sagte, es sei Zeit aufzustehen; dann sah ich sie immer noch in der gleichen Haltung liegen, die sie am Abend zuvor eingenommen hatten, rücklings und mit angelegten Armen. Sie schauten aus den Augenwinkeln zu mir herüber, es war ihnen anzusehen, daß sie die ganze Nacht schlecht geschlafen hatten, und ich hütete mich jeden Morgen davor, sie zu fragen, weshalb sie in meiner Wohnung ihre Bewegungen auf ein Mindestmaß reduzierten. Vielleicht wollten sie so wenige Veränderungen wie möglich in meiner Wohnung verursachen, weil sie es gar nicht fassen konnten, daß ich darin lebte, und wenn ich schon darin lebte, sollte alles unveränderlich und damit wenigstens minimal begreifbar sein; wie wenn man nur einmal schnell die Augen öffnete und einen blitzlichtartigen Blick in die Zimmer würfe, dann die Augen wieder schlösse und mit diesem Bild unter den Lidern nach Hause führe.

Draußen sind überschwemmte Felder zu sehen, in den Wasserflächen wiederholt sich das Geschiebe der Wolken. Wir sind in der Ueckermünder Heide, das habe ich vorher auf der Landkarte nachgesehen, die im Gang hängt und auf der sämtliche Bahnstrecken verzeichnet sind; ich habe nicht gewußt, daß es so viele Bahnstrecken gibt im Land. Als der Zug ein weiter entfernt liegendes Dorf passiert, sehe ich auf einem Dach eine riesige weiße, schrägstehende Kochfigur aufragen, selbst aus der Entfernung ist sie gut zu erkennen, der Koch hält einen Kochlöffel im Arm und winkt mit einer Hand ins Weite hinein. Sehr lange ist er genau von vorne zu sehen, selbst als der Zug sich in eine ausgedehnte Kurve legt, so als ob die Figur sich mit der Fahrtrichtung des Zuges mitwendete. Als ich die Augen schließe, um ein wenig zu dösen, sehe ich ihn immer noch, allerdings jetzt in einer gelben Färbung, von Kopf bis Fuß getaucht in das von den Rapsfeldern abgeworfene Licht. Dann ein paar Leute, die auf einer Terrasse vor einem Haus sitzen: wie sie plötzlich in ihren Gartenstühlen die Arme hochreißen und dem Zug winken, aus dieser uralten Gewohnheit heraus, daß man eben den Zügen winkt, wenn sie vorbeifahren. Ich habe das Gefühl, noch vor zwanzig Jahren seien die Gewohnheiten insgesamt kindlicher gewesen; da war es viel häufiger zu beobachten, daß Spaziergänger den Zügen winkten, auch ich habe es als Kind gern und oft getan, habe mich überhaupt sehr häufig in der Nähe der Gleisanlagen herumgetrieben, die durch ein großes, verwildertes Wiesengebiet führten. Alle Johannisbacher Kinder spielten dort, wir warteten darauf, daß es in den Schienen zu surren begänne und sprangen so spät wie möglich vom Gleis zurück, eigentlich erst, wenn man das Fahrtgeräusch des Zuges schon sehr nah hören konnte, und dann sagten wir uns gegenseitig, daß es ziemlich knapp gewesen sei. Mir ist aufgefallen, daß fast alle meiner jetzigen Freunde und Bekannten häufig von genau der gleichen Erinnerung berichten: daß sie am Gleis gespielt hätten und immer sehr spät in die Böschung zurückgesprungen seien und dann gesagt hätten, wie knapp es gewesen sei. Oder daß sie ständig irgendwelche Verletzungen gehabt hätten (wie wir in Johannisbach sie gehabt haben), daß sie dauernd hingefallen seien und sich im Schotter die Knie aufgeschürft und die Wunden später mit großer Aufmerksamkeit behandelt hätten – z. B. den Verschorfungsgrad einer Wunde sorgfältig begutachtet; den Schorf habe man mit Daumen und Zeigefinger angehoben und habe darunter gespäht, um zu sehen, ob etwas nachgewachsen war. Was nachgewachsen? Vielleicht rechneten wir damals noch mit einem Wunder, habe ich einmal zu Lennart gesagt, daß es etwas zu entdecken gäbe, das uns wirklich überraschen könnte.

Es gibt eine alte Fotografie, die ich irgendwann in der Schublade einer Kommode gefunden habe, die bei meinen Eltern im Flur steht. Eine Gruppe Urlauber posiert an einem Strand, es handelt sich um eine dieser typischen Strandszenen, datiert auf das Jahr 1910, das Datum und die eigentlich ungenaue Ortsangabe ‚Ostsee‘ sind mit Bleistift in feiner Sütterlinschrift auf den gezackten weißen Rand geschrieben. Die Frauen tragen lange Kleider und große Hüte, und die Männer die für die Zeit typischen Badeanzüge mit mindestens knielangen Beinen, niemand lächelt richtig, es ist nur die Andeutung eines Lächelns, in einiger Verzagtheit hochgezogene Mundwinkel, oder jemand anderer, der nicht auf dem Bild ist, der vor ewigen Zeiten sein Gesicht der Gruppe zugewandt hat, könnte gelächelt haben, und auf dem Foto ist nur die leichte Spiegelung davon zu sehen. Wenn man das Foto länger betrachtet, kann man dem wahren Grund für das Nicht- oder das Nichtganzlächeln vielleicht näherkommen: es sind, sehr deutlich, die Hände der Leute sichtbar; sie schauen unter den Säumen der Kleider hervor, zusammengelegt aufeinander ruhend oder ineinandergefaltet, oder als Fäuste in die Männertaillen gestemmt: Ganz genau ist zu erkennen, daß alle Hände sehr dunkel sind. Viel dunkler als die Gesichter und dunkler als die übrige sichtbare Haut, sie wirken fast so, als wären sie von einem feinen Schwarz überzogen; als hätten die Leute eine Stunde vor der Aufnahme noch auf einem Kartoffelacker gearbeitet, und das Schwarz wäre Erde, die sich bis in die letzten Linien und Fältchen der Haut gefressen hat. Irgendwie bemitleidenswerte, womöglich abgearbeitete Hände, aber vollends ist ihr Schwarz nicht zu begreifen. Ein schwärzlicher Hauch von Andersartigkeit, eine fast schon friedhofshafte Fremdheit, die nicht zu den Kleidern und zu den Hüten und zu den Badeanzügen paßt, die auch nicht zur Ostsee und zum Urlaub paßt – und den Strandurlaubern muß zum Zeitpunkt der Aufnahme genau das gegenwärtig gewesen sein: das Unfaßbare dieser vielleicht ohne ersichtlichen Grund dunklen Hände. Oder ich täusche mich, und das Dunkel der Hände ist nur ein versehentlich entstandener Effekt, ein Fehler in der damals noch nicht ausgereiften Fototechnik. Ich weiß nicht, von wem das Foto stammt, ob jemand aus unserer Familie darauf zu sehen ist, auch meine Eltern konnten niemand Bekannten ausmachen, obwohl meine Mutter eine ganze Kiste voll mit uralten Fotografien von Urgroßvätern und Urgroßmüttern in jungen Jahren besitzt, auf denen im bräunlichen Halbdunkel ihre immer ernsten und fragenden Gesichter ausgeleuchtet sind. Vielleicht war eine meiner Urgroßmütter die Fotografin, und die Gruppe am Strand war ihr Freundeskreis, ein Freundeskreis, von dem rein gar nichts an Wissenswertem übriggeblieben ist, nur das nicht auflösbare Dunkel der Hände, das in die Kommode meiner Eltern auf fremden Wegen hinübergerettet wurde.

So ähnlich geht es mir, wenn ich an meine Wohnung denke. Ich kann den letzten Blick, den ich auf sie, oder in sie, geworfen habe, nicht mehr so richtig deuten. Ich sehe sie noch, wie ich sie frisch geputzt verlassen habe, mit einem Blick über die Schulter, sehe die Küchenzeile, wie sie blank und für eine Weile ungenutzt dasteht und wie alle Zimmer in ihrer plötzlichen Bleichheit, mit den geschrubbten Böden und den gereinigten Fensterrahmen fast knochenweiß der kommenden Tage harren, und das ist alles unbegreiflich, das zunehmende Verbleichen, oder Verblassen der Wohnung mit jedem Kilometer. Vielleicht ist das schon das Heimweh. Ich habe immer viel zu schnell Heimweh, aber weiß dabei nie, nach welchem Heim genau, im Lauf der Jahre hat man seine Heime, oder Häuser, so oft gewechselt, daß das Wort Heimweh irgendwann nicht mehr in Betracht kommt und man sich höchstens nach dem Haus sehnen kann, in das man hineingeboren worden ist, neben den Vater, die Mutter, den Hund und die Katze undsoweiter. Ich kann mir aber gleichzeitig nicht vorstellen, daß einmal jemand anderer in meiner Wohnung wohnen wird und wie die Wohnung diesen Menschen verändern wird und welche Sätze dann dort fallen, vielleicht wird eine Familie einziehen, wegen der Größe der Wohnung aber nur eine Familie mit einem Kind, und dann werden auch in dieser Wohnung diese unbegründeten, mit nichts verwobenen Sätze gesprochen werden, auf die es nie eine Vorrede gab: Aber du mußt doch Milch trinken. Du mußt doch wachsen.
Lennart und ich haben abends öfter Spaziergänge durch die Stadt gemacht und haben uns die Häuser in den Straßen angesehen, die geputzten Leipziger Gründerzeithäuser, und uns immer vorgestellt, wie es wäre, in einem dieser Häuser zu wohnen, in dem schönen Jugendstilbau auf der anderen Straßenseite zum Beispiel, was man dann womöglich für ein Mensch würde; vielleicht ist es ja tatsächlich so, und man wird erst durch die Häuser, in denen man wohnt, zu dem, was man ist, sagte Lennart, also eine umgekehrte Form der Beeinflussung, wir prägen nicht die Erscheinung unserer Zimmer, sondern die Zimmer prägen uns; zum Beispiel würde man in diesen herrschaftlichen Wohnungen mit Parkettfußboden automatisch jemand, der viel Platz benötigt, jemand mit hohem Verdienst und einem Arbeitszimmer und großer Familie, egal, ob man vorher nur ein armer Student gewesen ist; aber was, wenn einer diese Anforderungen nicht mit ganzem Herzen erfüllen kann? Was, wenn man in einer Wohnung für Ärzte nie ein begeisterter Arzt wird, in einem Haus für Programmierer nie ein manischer Programmierer? So jemand wirke geradezu lächerlich in seinen Zimmern, sagte Lennart, wie man in unangemessener Kleidung lächerlich wirke, wie jemand, der sich im Smoking in den Wochenendeinkauf stürzt, und mir fiel mein Bruder ein, der wirklich Programmierer geworden ist, eigentlich wollte er nie Programmierer werden, sagte ich zu Lennart, er wußte gar nicht, was er nach dem Studium überhaupt werden wollte, und dann zog er in eine Drei-Zimmer-Wohnung im Südwesten von München und war kurz darauf Programmierer. Es ging so schnell, daß es vielleicht tatsächlich mit der Wohnung zu tun gehabt hat, sagte ich. Aber irgendwo muß man ja wohnen, sagte Lennart, und ich sagte, man muß eine Wohnung finden, die einen nicht zum Oberarzt macht.

Die Jugendlichen, die vorher am Bahnsteig gewartet haben, kommen am Abteil vorbei, es muß die gesamte Gruppe sein, einer hinter dem anderen herstürzend, mit eigentlich unmöglichen Bewegungen in dem schmalen Gang hüpfen sie umeinander herum und fallen sich in die Arme im Gehen, ich weiß nicht, wie jeder einzelne so viele Verrenkungen gleichzeitig schafft. Vielleicht müssen sie die Fülle der Eindrücke ausgleichen, wie es ja eigentlich jeder tun sollte. Nur der Betreuer sticht wieder einmal heraus, er folgt dem Pulk, sein schmächtiger Körper kommt in einer einzigen alarmierten Habacht-Bewegung voran, und ich versuche, meinen Blick direkt in seine Augen zu schicken, ich sehe ihn tief an, fast schamlos, um zu erreichen, daß auch er zu mir herüberblickt, aber es gelingt mir nicht. Ich schaffe es nicht, ihn aus seiner großen Arbeit des Versenkens in die Arbeit herauszubekommen, obwohl es allen an diesem Moment Beteiligten sicher gutgetan hätte.
Wann sind wir endlich da, fragt der Sohn seine Mutter. Er ist aufgesprungen und zupft an ihrem Ärmel und deutet aus dem Fenster, und die Mutter sagt, wir sind bald da, es dauert nicht mehr lang, und der Junge sagt, du lügst, es dauert noch drei Stunden, und plötzlich fallen die jüngeren Schwestern in die Unterhaltung ein, es soll nicht mehr so lange dauern, rufen sie, wann sind wir endlich da, und ich spüre, wie ich zwischen allen in diesem Abteil Anwesenden übriggeblieben bin und auf meinem Sessel sitze und eigentlich keine Fragen habe und keine Antworten geben kann. Die Jacken der Kinder, die an den Kleiderhaken über den Sitzen hängen, fallen mir auf, solche Jacken haben wir nie gehabt. Überall sind Taschen, in denen sich etwas verstauen läßt, und es gibt abknöpfbare Kapuzen und beidseitig zu öffnende Reißverschlüsse, die Jacken hüllen die Kinder in ein Geflecht aus komplizierten Systemen ein. Sie tun ein übriges, um ihnen die Welt vom Leib zu halten, denke ich, und dann frage ich mich, welche Auswirkungen das auf die Welt hat. Einmal fange ich den Blick der Frau ein, einen nicht zu deutenden Blick irgendwo an meinen Augenbrauen vorbei, wie man ihn bei Müttern manchmal sieht, wenn die Kinder gerade beschäftigt sind: einen Blick, ohne die Stimmungslage preiszugeben, eigentlich ist es sogar ein Herausnehmen des Schauens aus allen Angelegenheiten, sogar aus dem Schauen selbst, eine komplette Verweigerung, insgesamt zu schauen. Als wüßten die Mütter ziemlich genau, was von dieser Welt zu halten ist, wo man immer ein bestimmtes Gesicht aufsetzen muß, um selbst von anderen angeschaut zu werden.

Wenn man nur diesen einen stillstehenden Moment einmal mit Worten beschreiben könnte, überhaupt über die stillstehenden Momente mehr sagen könnte als über die vorangekommenen Stunden; wenn z. B. der Zug hier anhielte und im Gras liegenbliebe und nichts zu hören wäre als das leichte Zischen seiner Mechanik an der Unterseite der Waggons, und die Luft schwelte über dem Metall und man könnte nichts anderes tun, als sich in einen Atemzug zu versenken, wo alle Welt doch gerade mit festem Ziel umherreist und wo sich die Wege auf den Abend zu beschleunigen, was könnte man von so einem Moment sagen. Die Kinder zeichnen noch immer, sie führen ganz genaue Striche über das Papier, und ich erkenne gelbe Rapsfelder und braune Häuser, eine Sonne und Bäume und einen mit vielen ineinandergeschachtelten Strichen ausgebreiteten Himmel; warum zeichnen Kinder immer genauer und gezwungen realistischer, je älter sie werden. Die Frau hat eine Zeitschrift aus dem Korb genommen und zu lesen begonnen, sie drückt sich in die rechte Ecke ihres Sessels, das Gesicht hinter der aufgeschlagenen Zeitschrift verborgen, man merkt ihren verschwundenen Blick, spürt eine leichte Leere im Abteil, ungefähr ein Gefühl, wie wenn man beim Spazierengehen am Abend plötzlich die Kühle eines Schattens auf dem Gesicht wahrnimmt. Immer wenn meine Mutter die Wohnung putzte, drückte ich mich am Rande der Zimmer herum und machte nichts Besonderes, während sie durch die Räume ging und mit einen Lappen die Möbel abwischte, ich schaute einfach nur zu und umschlich meine Mutter in einigem Abstand, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah ihren gebeugten Nacken und die rotgewaschene Haut an den Händen, und sah, wie manchmal ein paar graue Wassertropfen auf den Fingern standen. Gemeinsam schauten wir auf die Stelle auf den Möbelstücken, die sie gerade abrieb, und die Vorstellung, daß an dieser Stelle sich unsere Blicke trafen, machte mich traurig, weil ich im Grunde nicht wußte, was ich mit dieser Vorstellung anfangen sollte. Immer nach ungefähr einer halben Stunde entschuldigte sich meine Mutter bei mir für das Putzen, tut mir leid, daß ich saubermachen muß, sagte sie, ohne dabei allerdings mit dem Saubermachen aufzuhören, und gemeinsam versenkten wir uns weiter in das stille und ruhige Putzen meiner Mutter.
Ein anderes Foto fällt mir ein, es zeigt meinen Vater und mich, ich bin etwa drei Jahre alt und habe das für kleine Kinder typische weißblonde Flusenhaar, erst später wird es dunkler werden, und widerständiger, bei manchen Kindern wird das Haar sogar borstig; das sind die Erfahrungen, die man macht, sagte meine Mutter einmal, oder besser, das Gefühl, das beim Machen der Erfahrungen entsteht, es lasse die Haare dunkler werden. Auch das Haar meines Vaters ist damals noch heller als jetzt, und voller natürlich, und beide blicken wir in die Kamera mit zusammengekniffenen Augen, als wollten wir vorgeben, in die Sonne zu blinzeln. In Wahrheit aber, so kommt es mir jetzt vor, schauen wir schon die kommenden Betrachter des Bildes an, mit einem ziemlich finsteren Blick, schauen streng vorwärts aus dem schönen Hintergrund, eine Bergkette, deren Kuppen noch mit Schnee überzogen sind, und darüber ein abendlicher alpiner Himmel. Ich muß daran denken, wie sich in Johannisbach am Abend die Wolken eilig in kleinen Flusen hinter die Berge zurückgezogen haben und daß über die Gipfel noch etwas Tageslicht herüberleuchtete und die Wolken glühen ließ, sogar, wenn es schon dunkel war, leuchteten sie noch taghell und rosig vom Rand des Gebirges her. Während hier auf der Strecke sich kein Abend ankündigen will, es scheint ein festgebackener Nachmittag zu bleiben mit großen Wolkenballen, und wir befinden uns mitten im Abglanz der Rapsfelder, wo irgendwo ein riesenhafter Koch aus Pappe steht und immerzu winkt. Ich weiß gar nicht, an was ich eigentlich denken soll. Das Abteil ist zu eng, um an etwas zu denken, die Gedanken breiten sich in Zugabteilen immer viel zu schnell aus. Wenn man nicht mehr weiß, was man denken soll, ist der Blick in die Landschaft das einzig Rettende, denke ich.
Die Mutter der Kinder kramte im Korb und hielt mir eine Tüte mit Keksen hin, die müssen Sie mal kosten, sagte sie, und ich nahm ein kleines, halbmondförmiges Gebäckstück: Ein holzig-säuerlicher Geschmack breitete sich im Mund aus. Eine neue Sorte aus dem Naturkostladen, sagte die Frau, Rosmarin-Zitronen-Kekse, und ich griff noch einmal in die Tüte und nahm gleich eine Handvoll heraus. Während ich kaute, dachte ich, daß dieser Geschmack eigentlich ein Geschmack aus der Zukunft sei. Sonst spricht man ja immer davon, daß man gerade Geschichte erlebe, aber wenn man die Rosmarin-Zitronen-Kekse probiert, wird man nicht erinnert, sondern man wird mit seinen Gedanken vorausgeschickt, hinaus in die offene Landschaft, in die Rapsfelder und eine Straße hinunter, und zwischen die Häuserecken des mir noch unbekannten Ortes Grantzow, an dem ich aussteigen werde, um eine Woche dort zu verbringen. Ich trat hinaus in den Gang, in einiger Entfernung schnüffelte ein Hund an einem Häusereck und verschwand dann in einem geheimen Wegnetz im Raps. Ein Jugendlicher aus der Gruppe leicht oder kaum Behinderter kam vorbei, sehr groß und ein bißchen schwerfällig, ich wollte gerade gegen die Abteiltür ausweichen, da machte er einen Schritt auf mich zu und umarmte mich. Er spielte ein bißchen in meinen Haaren, ließ mich dann wieder los und ging weiter, und als der Betreuer hinterherkam, lächelte er mich an und sagte, wir freuen uns alle so auf unseren Urlaub. Daß er zumindest im Reden eines ist und im Reinen mit den jungen Leuten, versöhnte mich mit ihm, ich wünschte ihm einen schönen Aufenthalt. Dann wieder zurück ins Abteil, wo die Zukunft fortfährt, und ich mit ihr. Über einem Getreidefeld fächelt Wind, die Ähren beugen sich in einer wellenförmigen Bewegung. Zur gleichen Zeit weht kühle Luft aus der Klimaanlage über meine unbedeckten Unterarme – als wollte die Bahn im Abteil eine Nachahmung der Verhältnisse draußen mit allen Mitteln erreichen. Aber umsonst. Die Härchen auf der Haut stellen sich auf, sie ragen in den Bereich, wo schon die Welt beginnt, wo bald auch das Wetter beginnt, wo es anfängt, kalt zu werden oder warm zu werden.