26. Tage der deutschsprachigen Literatur

Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Tage der deutschsprachigen Literatur 2002 - die aktuellen Informationen

Pressespiegel

Diskussion nach Lesung von Elfriede Kern

Elfriede Kern las den Text "tabula rasa" über die Bewältigung einer Schuld.

"Sehr beeindruckt"

Pia Reinacher: Ich bin sehr beeindruckt. Und zwar sowohl wegen der plastischen Bildkraft, auch wegen ihres Baus. Zunächst denkt man, das ist eine schlichte Geschichte, aber sie kippt in ein inneres Geschehen. Es fällt auf, dass die Frau im Text nachtaktiv ist, es ist alles in einen dunklen Raum getaucht. Die Autorin hat das Problem, dass sie das innere Geschehen für den Leser finden muss, das löst sie. Sie findet das Bild der Puppe, das Heiligenbild, sie findet den Lebensbaum, den Koffer. Was mich beeindruckt ist die Bildhaftigkeit, mit der sie Räume und Figuren aufbaut. Zum Beispiel das apokalyptische Schlussbild.

"Symbole grauenhaft überdeutlich"

Denis Scheck meinte, Frau Reinacher beschreibt, was im Text geschieht. Darin liege für ihn die Schwäche der Geschichte. Er fühle sich an die TV-Serie "Am Laufenden Band" erinnert. Die Symbole im Text darf man sich merken und interpretieren, er finde sie grauenhaft überdeutlich. Wenn man das Symbol der Spindel in der Literatur nehme, brauche man den Begriff nur in den "google" eingeben und findet unzählige Treffer. Es sei übercodiert

Birgit Vanderbeke hängte sich an Denis Schecks Meinung an. Es gebe nur ein einziges Motiv über das sie länger nachdachte, das mit den Gesichtern plattdrücken. Das sei ihr unklar, warum die Kinder sich die Gesichter plattdrücken. Alle anderen Motive seien mühelos entzifferbar. Sie frage sich, warum sie in einer Geschichte eingesetzt werden, die gezielt auf eine Asozialität hinsteuere.

Hauptsätze aneinandergereiht

Thomas Widmer: Die Autorin reiht fast ausschließlich Hauptsätze aneinander. Die Geschichte würde nicht funktionieren, wenn sie länger wäre. Man würde sich dann langweilen. Warum verzichtet die Autorin auf Nebensätze - die Geschichte hat die Struktur eines Alptraums. Es ist ein Tanz der Motive, entwickelt die Struktur eines Videoclips. Widmer falle Madonnas Video "Papa, dont preach" ein. Vanderbekes Hinweis auf Asozialität ist für Widmer nicht negativ. Die Alptraumstruktur mit dem Kommen und Verschwinden von Symbolen funktioniere auch auf der psychologischen Ebene. Die Kinder sind die Voyeure, die sich die Gesichter plattdrücken. Das Ende ist ein exorzistischen Ritual…

"Hexengeschichte"

Konstanze Fliedl meinte, sie bewerte den Text ganz anders. Es sei eine Hexengeschichte. Elfriede Kern sei eine Expertin für das Unheimliche aus dem Alltäglichen heraus. "Ich denke, dass die Geschichte die gängigen Symboldeutungen unterläuft". Die Deutung erfolge nach einer hexerischen Logik, die alle Bestandteile neu ordne. Der Titel "tabula rasa" bedeute für sie, dass die Symbole weggeräumt werden. Zeichen und Briefe werden vernichtet, es sei eine Herabsetzungen von Symbolbedeutung. Es ist eine magische, eingängige Geschichte über den Zauber der Dinge. Geglückt und Beeindruckend.

Direktheit nervt Denis Scheck

Scheck stimmte zu, "die Geschichte ist unheimlich, aber unheimlich langweilig". Der Besuch in der Grotte mit der Heiligenstatue sehe er als Phallussymbol. Sie lasse sich nicht vom Sockel stoßen. "Das ist einfach zu direkt", das löse einen Pawlowschen Reflex aus, der ihn nerve. Das sei am Reißbrett geschrieben, zu mechanisch.

Schindel: "Ausgezeichnet und gut gelungen"

Robert Schindel: Man sollte genau hinsehen. Es bringe nichts, dass man Dinge, die man in einem Text finde, sofort nach der Symbolik untersuche. Wichtig sei, in welchen Zusammenhang stehe es im Geschehen des Textes. Die Frau macht nach dem Tod der Schwester eine Zeitreise in die Kindheit. Sie fühlt sich schuldig am Tod der Schwester und beginnt den Weg zurück. Über den Hund und die Puppe geht sie den Weg der tabula rasa. Sie versucht sich aller Verantwortung und Schuld des Erwachsenenlebens zu befreien. Das sehe er aus dem inneren Geschehen. "Den Text sehe ich ausgezeichnet gebaut", er sei in der Sprache ganz klar. "Ausgezeichnet und gut gelungen, ich gratuliere".

Fliedl sagte noch zu Scheck, er hätte wohl gerne, dass sich das Phallussymbol nicht vom Sockel stürzen lasse. Gelächter im Publikum.

"Erzählstil im Perfekt maniriert"

Burkhard Spinnen: "Jetzt wird's schwierig". Er mache den unmöglichen Versuch, diesen Text zu lesen. An Frau Friedl meinte er, dass sich das Unheimliche aus Alltäglichem entwickle lese er auch gern, aber die Situation sei nicht alltäglich. Die Geschichte beginne in der Katastrophe. Zur Sprache meinte er, er widerspreche Schindel, die Sprache sei nicht sparsam. Der Text werde im Perfekt erzählt, das habe einen distanzierten Sound, aber innerhalb der Sätze gebe es eine Orgie konventioneller Attribuierung. Das klinge wie ein Polizist, der einen Verkehrsunfall beschreiben muss. Das sei eine Manier, die Durchführung einer bestimmten Idee ohne Rechts oder Links. Was die Symbole betreffe, stimmte er Herrn Scheck zu, auch wenn im das Wider die Natur gehe. Das ist keine fremde Hexenwelt, sondern Mainstream dessen, was sich an Zeichenhaftigkeit abspielt. Sein Einwand gegen den Text: Er lässt die Figur so auf den Wahnsinn zugehen, dass er sich schon früh abgewandt habe.

Belehrung von Fliedl

Fliedl wandte ein, die beanstandete Erzählform halte sie für stilvoll. In Österreich sei das Perfekt als Erzählform nicht maniriert, belehrte sie die Jurykollegen. Die Unheimlichkeit komme nicht daher, dass Wahnsinn oder Schrecken in der Sprache ausgedrückt werde, sondern er komme in den Spalten der Syntax vor.

Thomas Widmer schloss, dass die Sprache zum Text passe.

Redaktion: Petra Haas, Dolores Hibler


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