Elfriede
Kern las den Text "tabula rasa" über die Bewältigung
einer Schuld.
"Sehr beeindruckt"
Pia
Reinacher: Ich bin sehr beeindruckt. Und zwar sowohl wegen
der plastischen Bildkraft, auch wegen ihres Baus. Zunächst
denkt man, das ist eine schlichte Geschichte, aber sie kippt
in ein inneres Geschehen. Es fällt auf, dass die Frau
im Text nachtaktiv ist, es ist alles in einen dunklen Raum
getaucht. Die Autorin hat das Problem, dass sie das innere
Geschehen für den Leser finden muss, das löst sie.
Sie findet das Bild der Puppe, das Heiligenbild, sie findet
den Lebensbaum, den Koffer. Was mich beeindruckt ist die Bildhaftigkeit,
mit der sie Räume und Figuren aufbaut. Zum Beispiel das
apokalyptische Schlussbild.
"Symbole grauenhaft überdeutlich"
Denis Scheck meinte, Frau Reinacher
beschreibt, was im Text geschieht. Darin liege für ihn
die Schwäche der Geschichte. Er fühle sich an die
TV-Serie "Am Laufenden Band" erinnert. Die Symbole
im Text darf man sich merken und interpretieren, er finde
sie grauenhaft überdeutlich. Wenn man das Symbol der
Spindel in der Literatur nehme, brauche man den Begriff nur
in den "google" eingeben und findet unzählige
Treffer. Es sei übercodiert
Birgit
Vanderbeke hängte sich an Denis Schecks Meinung an. Es
gebe nur ein einziges Motiv über das sie länger
nachdachte, das mit den Gesichtern plattdrücken. Das
sei ihr unklar, warum die Kinder sich die Gesichter plattdrücken.
Alle anderen Motive seien mühelos entzifferbar. Sie frage
sich, warum sie in einer Geschichte eingesetzt werden, die
gezielt auf eine Asozialität hinsteuere.
Hauptsätze aneinandergereiht
Thomas Widmer: Die Autorin reiht
fast ausschließlich Hauptsätze aneinander. Die
Geschichte würde nicht funktionieren, wenn sie länger
wäre. Man würde sich dann langweilen. Warum verzichtet
die Autorin auf Nebensätze - die
Geschichte hat die Struktur eines Alptraums. Es ist ein Tanz
der Motive, entwickelt die Struktur eines Videoclips. Widmer
falle Madonnas Video "Papa, dont preach" ein. Vanderbekes
Hinweis auf Asozialität ist für Widmer nicht negativ.
Die Alptraumstruktur mit dem Kommen und Verschwinden von Symbolen
funktioniere auch auf der psychologischen Ebene. Die Kinder
sind die Voyeure, die sich die Gesichter plattdrücken.
Das Ende ist ein exorzistischen Ritual
"Hexengeschichte"
Konstanze Fliedl meinte, sie bewerte
den Text ganz anders. Es sei eine Hexengeschichte. Elfriede
Kern sei eine Expertin für das Unheimliche aus dem Alltäglichen
heraus. "Ich denke, dass die Geschichte die gängigen
Symboldeutungen unterläuft". Die Deutung erfolge
nach einer hexerischen Logik, die alle Bestandteile neu ordne.
Der Titel "tabula rasa" bedeute für sie, dass
die Symbole weggeräumt werden. Zeichen und Briefe werden
vernichtet, es sei eine Herabsetzungen von Symbolbedeutung.
Es ist eine magische, eingängige Geschichte über
den Zauber der Dinge. Geglückt und Beeindruckend.
Direktheit nervt Denis Scheck
Scheck
stimmte zu, "die Geschichte ist unheimlich, aber unheimlich
langweilig". Der Besuch in der Grotte mit der Heiligenstatue
sehe er als Phallussymbol. Sie lasse sich nicht vom Sockel
stoßen. "Das ist einfach zu direkt", das löse
einen Pawlowschen Reflex aus, der ihn nerve. Das sei am Reißbrett
geschrieben, zu mechanisch.
Schindel: "Ausgezeichnet und gut
gelungen"
Robert Schindel: Man sollte genau
hinsehen. Es bringe nichts, dass man Dinge, die man in einem
Text finde, sofort nach der Symbolik untersuche. Wichtig sei,
in welchen Zusammenhang stehe es im Geschehen des Textes.
Die Frau macht nach dem Tod der Schwester eine Zeitreise in
die Kindheit. Sie fühlt sich schuldig am Tod der Schwester
und beginnt den Weg zurück. Über den Hund und die
Puppe geht sie den Weg der tabula rasa. Sie versucht sich
aller Verantwortung und Schuld des Erwachsenenlebens zu befreien.
Das sehe er aus dem inneren Geschehen. "Den Text sehe
ich ausgezeichnet gebaut", er sei in der Sprache ganz
klar. "Ausgezeichnet und gut gelungen, ich gratuliere".
Fliedl sagte noch zu Scheck, er
hätte wohl gerne, dass sich das Phallussymbol nicht vom
Sockel stürzen lasse. Gelächter im Publikum.
"Erzählstil im Perfekt maniriert"
Burkhard Spinnen: "Jetzt wird's
schwierig". Er mache den unmöglichen Versuch, diesen
Text zu lesen. An Frau Friedl meinte er, dass sich das Unheimliche
aus Alltäglichem entwickle
lese er auch gern, aber die Situation sei nicht alltäglich.
Die Geschichte beginne in der Katastrophe. Zur Sprache meinte
er, er widerspreche Schindel, die Sprache sei nicht sparsam.
Der Text werde im Perfekt erzählt, das habe einen distanzierten
Sound, aber innerhalb der Sätze gebe es eine Orgie konventioneller
Attribuierung. Das klinge wie ein Polizist, der einen Verkehrsunfall
beschreiben muss. Das sei eine Manier, die Durchführung
einer bestimmten Idee ohne Rechts oder Links. Was die Symbole
betreffe, stimmte er Herrn Scheck zu, auch wenn im das Wider
die Natur gehe. Das ist keine fremde Hexenwelt, sondern Mainstream
dessen, was sich an Zeichenhaftigkeit abspielt. Sein Einwand
gegen den Text: Er lässt die Figur so auf den Wahnsinn
zugehen, dass er sich schon früh abgewandt habe.
Belehrung von Fliedl
Fliedl wandte ein, die beanstandete
Erzählform halte sie für stilvoll. In Österreich
sei das Perfekt als Erzählform nicht maniriert, belehrte
sie die Jurykollegen. Die Unheimlichkeit komme nicht daher,
dass Wahnsinn oder Schrecken in der Sprache ausgedrückt
werde, sondern er komme in den Spalten der Syntax vor.
Thomas Widmer schloss, dass
die Sprache zum Text passe.
Redaktion: Petra Haas, Dolores Hibler
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