Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Berliner Tageszeitung
08.07.2002
Das Ächzen der Lego-Steine
Die Geschichte, die Peter Glaser während des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs vor einigen Tagen in Klagenfurt las, hieß "Geschichte von nichts". Das war treffend und unzutreffend zugleich. Unzutreffend, weil die "Geschichte von nichts" nur so strotzte von wild blühenden Vergleichen und Einfällen. Es war nach Urteil einiger Juroren sogar die "welthaltigste" der vorgetragenen Geschichten. Auf jeden Fall war es die kilometerfressendste. Wenn sie nicht im Flugzeug oder auf der Autobahn spielt, dann immer auf Durchreise, in Kairo, Rimini oder Hamburg. Deshalb ist "Geschichte von nichts" andererseits treffend getitelt: Man weiß nie recht, wovon sie handelt. Mit jedem Satz verschwindet der vorangegangene, als wolle der Text ein einziges Händeschütteln sein, ein beständiges Verabschieden und Begrüßen blendender Formulierungen.
Das wird manieriert finden, wer jeden Einfall rückübersetzen will in eine naturalistische Vorstellung. "Auch das Nichts sollte eine Identität haben", verlangte in Klagenfurt pikiert die Jurorin Pia Reinacher. Das Nichts dürfe nicht so zerflocken. Würden die Flocken aber immer so aussehen wie bei Glaser, man käme gut ohne Heiles aus. Da gibt es zum Beispiel "eine Frau, die aussah, als hätten ihre Kleider sie gekauft und nicht umgekehrt." Oder "die Schatten der Hitze, die aus den Lüftungsschlitzen des Toasters stieg, flossen wie winziger Autoverkehr über die Tischplatte." Wer da nicht hinschmilzt, ist für das Züchten von Metaphern ganz verloren, für jene von Bild zu Bild wuchernden Vergleiche, die vom großzügigen Einsatz des Raymond Chandler’schen Kitsch- und Kunstdüngers zeugen.

Das Werk des 45-jährigen Glaser liegt verstreut in Hunderten von Kolumnen vor, einige in harten Buchrücken versammelt, und einem Erzählband. Keines seiner Bücher ist noch im Handel erhältlich; der Roman, an dem Glaser seit fünfzehn Jahren schreibt, rückt hoffentlich durch den Bachmann-Preis in greifbare Nähe. Als Journalist ist das Internet Glasers wichtigstes Terrain. Durch eine schwere rheumatische Krankheit schlecht zu Fuß, berichtet er seit vielen Jahren aus der Welt des Cyberspace, er hat die Computer-Zeitschrift Konr@d entwickelt und leitete die Vereinszeitschrift des Chaos-Computer-Clubs, der wohl bekanntesten Hacker-Vereinigung. So elektrifiziert Glaser auch sein mag, seine sinnliche Wahrnehmung leidet darunter nicht.

Glaser hat unter den deutschen Schriftstellern das absolute Gehör. In der "Geschichte von nichts" landet beispielsweise ein Flugzeug. Als es "auf das Terminal zurollt, prasselt das Klicken der Gurtschnallen wie Hagelschauer durch die Sitzreihen". Vor vielleicht fünfzehn Jahren beschrieb Glaser in einer Kolumne des Lifestyle-Magazins "Tempo", inzwischen längst eingegangen, ein vergessenes Geräusch, das doch zu den eindrücklichsten und befriedigendsten der Kindheit gehört (zumindest der West-Kindheit, pardon). Es ist das Geräusch, das entsteht, wenn man ein Haus aus Lego-Steinen errichtet hat, ganz am Schluss die Hand aufs Dach legt und mit letztem, sanftem Druck die Steine ächzend sich setzen lässt. Das Schluss-Geräusch.

 

Harald Jähner


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