Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Hannoversche Allgemeine
30.06.2002
Muttertod und Onkelsterben

Auch in der Literatur können Zwerge über sich hinaus wachsen, Favoriten schon in der Vorrunde straucheln und Außenseiter ins Finale vordringen: Das Klagenfurter Wettlesen ist die Weltmeisterschaft der deutschsprachigen Literatur. Die Sieger reißen sich nicht das Trikot vom Leib; die Betreuer und Schlachtenbummler auf den harten Bierbänken im ORF-Theater feiern ihre Helden nicht mit Gebrüll und Autokorsos. Aber der Ball ist rund, und auch in der Literatur geht es selten um Schönheitspreise. Vorbereitung, Einsatz, mannschaftliche Geschlossenheit, mentale Stärke und Glück sind oft wichtiger als Sprach- und Spielkultur. Vorschusslorbeeren und Heimvorteil bedeuten wenig; die Wahrheit liegt auf dem Platz. Tagesform geht über Papierform, und die Tatsachenentscheidung der Schiedsrichter schlägt Augenschein und 3sat-Fernsehbeweis.

Heuer gab es wieder viel Kampf und Krampf, Blutgrätschen und Befreiungsschläge und wenig brasilianischen Wort- und Spielwitz. In solchen Fällen wiegen die neuen deutschen Erzähltugenden schwer. Die Freiburger Autorin Annette Pehnt verpasste nur knapp die Siegespalme und gewann mit ihrem leichtfüßigen, frisch-fröhlichen Text über das Drama eines begabten Kindes auf der „Insel Vierunddreißig“ den Preis der Jury. Mirko Bonné bekam für seine fein gesponnene, diskrete Parabel über psychotische Schübe und andere „Zustände“ flexibler Angestellter den Ernst-Willner-Preis. Norbert Zähringers skurrile, tragikomische Groteske um einen Grenzschützer, der den Schießbefehl mit einem Völkerballspiel verwechselt, ging zu Unrecht leer aus. Nina Jäckle konnte mit ihrem artigen Familienidyll zwar nicht bei der Jury („Lesebuchgeschichte für die Unterstufe“), aber doch beim Publikum punkten; ähnliches gelang der Leipzigerin Melanie Arns mit einem görenhaft frech dahingerotzten, vergifteten Familienidyll.

Die Österreicher, traditionell ball- und sprachverliebt, hatten dieser robusten Erzählkunst nur ziselierte Wortkaskaden, Jelinek-Sound und hölzernen Voodoozauber entgegenzusetzen. Helga Glantschnig wurde für eine bleiern langweilige Selbstmordfantasie von der Jury so harsch abgewatscht, dass sie hinterher schwor, „öfters in den Wörthersee zu springen“. Am Ende gewann der Wahlberliner Peter Glaser nach zwei Stichwahlen mit seiner abenteuerlich verspielten, witzigen und bildmächtigen „Geschichte von nichts“ den mit 21800 Euro dotierten Bachmann-Preis. Glaser verknüpft in den beiden Teilen „Süden“ und „Norden“ eine Liebesbegegnung mit einer Reise, die den Ich-Erzähler über den Mittelmeerraum nach Norddeutschland führt. Die Jury sah in dem Text eine „Geschichte über die Leerzeichen der Liebe“, verbunden mit einer „Parodie auf Globales“ und einen „Abschied von den 90er Jahren“.

Die Schweizer Fünferkette scheint den Anschluss an die internationale Spitze vollends verloren zu haben: Geheimfavorit Lukas Bärfuss fiel mit einem erschreckend braven Mutter-Sohn-Drama, Markus Ramseier mit seiner Stein erweichenden Meditation über Grottenolme und kastrierte Indianer, Roger Monnerat mit seiner „Wie-recht-wir-doch-1968-hatten“-Nostalgie durch. Immerhin gewann Raphael Urweider mit einem lyrisch-musikalischen Requiem über Steinformationen und Tumor-Sedimente, die zu Sand und Erinnerungen zermahlen werden, den 3sat-Preis.

Muttertod und Onkelsterben, Metzgerwaren und Schlachthöfe als Memento mori, gynäkologische Kaiserschnitte, aus denen Steine, Trümmer und Traumata hervorquellen, Einsamkeit, Angst und Kommunikationsstörungen: Der ideelle Gesamtroman von Klagenfurt las sich diesmal ziemlich trübsinnig. Keine Spur von Popliteratur, kaum Autobiographisches, wenig Innovatives, allenfalls zaghafte Abgesänge auf die Spaßgesellschaft und Hymnen an das nichtende Nichts. Und jede Menge klassischer Ehedramen und Papa-Mama-Kind-Triaden, mal mädchenhaft kess aufgerüscht, mal ästhetisch aufgedonnert, mal elegisch verquält. Die Zeit der epischen Weltentwürfe ist offenbar vorbei; das erzählende Subjekt zieht sich wieder in die familiäre Intimität, ins lyrische Wispern oder auf den bös-naiven Kinderblick zurück.

Bei den Urteilen der Jury kam der Inhalt meist vor der Form, der Stoff vor der Sprache, um von taktischen und gruppendynamischen Faktoren zu schweigen. Bezeichnend, dass der erstmals vergebene Publikumspreis an den Sprachkünstler Christoph W.Bauer ging: eine Ohrfeige für die sieben Juroren, die sich dem durchwachsenen Niveau der Veranstaltung nahtlos anpassten: Robert Schindel mit pastoraler Sensibilität und kollegialer Solidarität, Birgit Vanderbeke mit eher befremdlichen außerliterarischen Geschmacksurteilen, Burkhard Spinnen, Star der glorreichen Sieben, mit luziden, pointierten Analysen und einer Spur narzisstischer Selbstgefälligkeit, Konstanze Fliedl mit germanistischer Pedanterie und weiblichem Gespür für „exotische Potenzsignale“, Denis Scheck mit Ironie und journalistischer Verve.

Einst suchten die Juroren nach „Subtexten“, heute nach „Geheimnissen“. An der Methodik der Interpretation hat sich wenig geändert: Man verstecke Symbole wie Ostereier im Text und grabe sie mit triumphierender Gebärde wieder aus. Zu viel Geheimnis ist von Nachteil, zu wenig auch; auf dem goldenen Mittelweg liegen genau so viele „irritierende“ Rätsel, wie die Jury lösen kann oder will. Der auf einer Podiumsdiskussion gesuchte „Ronaldo der Literaturkritik“, der kühlen Kopf und heißes Herz vereint und auch aus unmöglichem Winkel trifft, war jedenfalls nicht in Sicht.

Der ORF-Informationsdirektor nannte Klagenfurt eine „Entschuldigung des Fernsehens ans Buch“. In mancher Hinsicht ist es eher seine Rache. Die Veranstaltung wird mittlerweile in Fernsehen und Internet so lückenlos dokumentiert, dass man sich die Echtzeit-Fahrt an den Wörthersee sparen kann. Schon früher sollen professionelle Beobachter den Wettbewerb vom Hotelzimmer aus verfolgt haben und nur zum Baden oder beim abendlichen Plausch im „Maria Loreto“ aufgetaucht sein; diesmal verzichteten etliche von der Konjunktur gebeutelte Verlage und Zeitungen ganz auf die Entsendung von Vertretern. Wer spektakuläre Kicks und konkrete „Events“ suche, hatte Schindel in seinem Grußwort gewarnt, sollte ohnehin besser zum Damenboxen gehen.

Martin Halter


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