Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Berliner Morgenpost
01.07.2002
Aus der kleinen Welt der Sehnsüchte

Gestern mittag, just an Peter Glasers 45. Geburtstag, verkündete die Jury ihre Entscheidung, dass Glasers «Erzählung von Nichts» mit vier zu drei Stimmen knapp in Führung vor Annette Pehnt lag, mit deren Sieg die Mehrzahl der Anwesenden gerechnet hatte. Ihr Text, «Insel vierunddreißig», war in drei Tagen zäher Lesungs-Arbeit der einzige gewesen, der alle Jury-Mitglieder zu entzücken vermochte.

Ob nun aber Glaser oder Pehnt, die schließlich den mit 10 000 Euro dotierten Preis der Jury gewann: In beiden Fällen lässt die Entscheidung Rückschlüsse zu auf die Ursache der nachgerade katastrophalen Qualität der 26. Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur. Weder Glasers «Geschichte von Nichts», noch Annette Pehnts «Insel vierunddreißig» nämlich sprengten den engen Rahmen inhaltlicher wie formaler Wohlanständigkeit. Bei Glaser wie bei Pehnt berichten - wie in 80 Prozent aller gelesenen Texte - liebenswerte Ich-Erzähler aus der kleinen Welt ihrer Sehnsüchte. Für Glaser habe man sich, so ein Juror in seiner Begründung, letztlich entschieden aufgrund der «Welthaltigkeit» seines Textes, mit der er einer Forderung nachkam, die der Schriftsteller Hugo Loetscher in seiner Eingangsrede gestellt hatte. Besagte Welthaltigkeit liegt in Glasers Geschichte primär darin, dass sie vom Zerbrechen einer Liebe in den Tagen um den 11. September handelt und abwechselnd in Kairo, Athen und Hamburg spielt.

Bei allem Wohlwollen trägt sein Sieg jedoch den schalen Geschmack des Kompromisses nach einem Wettbewerb, in dem kein Text nur ansatzweise Wagnisse einging. Die Erzählungen unterschieden sich wie einzelne Modelle einer literarischen Ikea-Möblierung: Je nach Vorliebe bevorzugten Kritiker wie Hörer das Modell Ivar, Billy oder Sven. Zu den wenigen Ausnahmen gehörte etwa Mirko Bonné, der 36-jährige Autor, dessen Romane «Der junge Fordt» und «Ein langsamer Sturz» in den vergangenen Jahren bei DuMont erschienen sind. In seiner Erzählung «Auszeit» bot Bonné das verblüffend dichte Porträt eines inhaltsleeren Lebens und erhielt den mit 8500 Euro dotierten Ernst-Willner-Preis der Verlage.

Die eigentliche Überraschung aber stellte der Text der erst 22-jährigen Melanie Arns dar. Auch «Heul doch!», ein Romananfang, siedelt in bedrückender familiärer Enge, kontrastiert jedoch eine aufreizend freche Prosa von beißender Komik mit dem knapp skizzierten Abgrund bodenloser Existenznot einer Halbwüchsigen. Über die Veröffentlichung ihres Romans steht Melanie Arns mit S. Fischer in Verhandlung, in Klagenfurt ging sie leer aus. Den letzten zu vergebenden Preis der Jury, den 3sat-Preis, erhielt der junge Schweizer Lyriker Raphael Urweider.

Angesichts des offensichtlichen Desinteresses der überwiegend altgedienten Jury stellt sich nach diesen tristen Tagen wieder einmal die Frage, ob nicht eine zeitliche Begrenzung der Jury-Mitgliedschaft auf zwei Jahre sinnvoll wäre. Die überraschende Entscheidung des Publikum, das den erstmals verliehenen Publikumspreis via Internet dem jungen österreichischen Lyriker Christoph W. Bauer und seiner hochstilisierten Erzählung «Auf. Stummen» zuerkannte, jedenfalls verriet eines: Es existiert durchaus ein Interesse an sprachlicher Virtuosität - möge es künftig wieder eine Jury geben, die ihre Augen offen hält.

Von Cornelia Niedermeier


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