Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

BR Online
01.07.2002
Immerzu ging's ins Spital

Das Podium hat die Form eines V. An dessen Spitze nimmt der Schriftsteller Platz. Er beginnt einen bislang ungedruckten Text zu lesen. Eine halbe Stunde hat er dafür Zeit. An den Flügeln des V, vom Autor wegführend, sitzt die achtköpfige Jury sich schräg gegenüber. Das hat den Vorteil, dass die Jury den Schriftsteller nicht ansehen muss. Wenn sie ihn in der folgenden halben Stunde zerpflückt, sitzt er wie übersehen und vergessen im Gelenk des V. Die Jurymitglieder schauen die anderen Mitglieder an oder ins Publikum, in der Erwartung, Nicken oder Lacher zu ernten. "Unheimlich ist die Geschichte", hört der Schriftsteller dann, "vor allem unheimlich langweilig." Oder: "Eine entsetzliche Orgie von Attributierungen." Oder: "Ich möchte nicht, dass ich so angelesen werde, so direkt, so dreist, so plump." Streitet sich die Jury, dann niemals mit dem Autor, sondern stets über ihn. Er, der gerade noch seinen Text verlas, ist das verstummte Thema.
Das ist die berühmte Klagenfurter Grausamkeit in Grundzügen; 16-mal, drei Tage lang, wird beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gelesen. Nach jeder Lesung geht die Jury ans Verwerfen, Verreißen und Bespötteln, ans Verteidigen und Beschützen, ans Gratulieren und Kondolieren. Dafür hat sie ebenfalls eine halbe Stunde Zeit. Erst dann verlässt der Autor schweigend seinen Platz. Ehrensache, dass er die Urteile nicht kommentiert. Nur einmal formulierte die Schriftstellerin Helga Glantschnig, deren Geschichte über einen abgebrochenen Selbstmordvorsatz heftig attackiert worden war, als spitzes Abschiedswort: "Ich empfehle Ihnen: Springen Sie öfter in den Wörthersee."

Der Wörtersee, den sie ausgoss, bot allerdings wenig Erfrischung und lud zum Hineinspringen so wenig ein wie viele der vorgetragenen Texte. Ein unentschlossen zärtelnder Ton prägte die meisten Geschichten, die durch einen seltsamen Zufall häufig um Krankheit und Tod von Verwandten kreisten, also um das geläufigste Sujet, das ein aufs Familiäre verengter Gesichtskreis zu bieten hat. Immerzu ging’s ins Spital. Fahrige Konstruktionen und Verrätselungen, zum Schutz der inhaltlichen Blößen errichtet, ließen die Jury lustlos ans Sezieren gehen. Dabei stand sie doch, was ihren Unterhaltungswert und ihre Intelligenz angeht, ebenso auf dem Prüfstand wie die Autoren.

Jurorin Birgit Vanderbeke, vor zwölf Jahren selbst Preisträgerin in Klagenfurt, hat sich zu ihren langen Kunstlehrerinnenhaaren den passenden Tonfall angewöhnt ("Ich würde der Autorin empfehlen, mit den Kommata etwas großzügiger umzugehen"). Immerhin ergab sich daraus ein Belehrungsangebot, während sich penetrant viele Äußerungen der Jury in Geschmacksurteilen und höflichen Fluchten ins Unbetroffene erschöpften: "Ich komme in den Text nicht hinein", hieß es dann. Der Schweizer Juror Thomas Widmer fand einen ungemütlichen Text von Norbert Zähringer "gmöckig", was, wie er erklärte, in seiner Heimat einen "liebenswerten, artigen Schmunzelstoff" charakterisiert. So fand man dies und fand man das - wirklich literarisch argumentiert und herauspräpariert wurde ganz selten. Wenn, waren fast immer Denis Scheck und Burkhard Spinnen daran beteiligt, die wieder einmal bewiesen, welche Produktivkraft die Eitelkeit darstellt. Ein fernsehgerecht inszeniertes Spektakel wie dieser Wettbewerb kommt ohne jene von Martin Walser im "Tod eines Kritikers" geschmähte Selbstdarstellungslust eben nicht aus.

Walser war in Klagenfurt selten Thema. Die meisten Autoren, Kritiker und Lektoren hatten den Roman, der am ersten Tag des Bachmann-Wettbewerbs erst im Handel erschienen war, ja noch kaum lesen können. Wo, wenn nicht hier, hätte man sinnvoller über die gegensätzlichen Unterhaltungsqualitäten von Literatur und Kritik diskutieren können, die ungleichen Mittel, die natürlichen Feindschaften und Allianzen im Kunstgewerbe der spitzen Formulierung? Doch schon bei Erwähnung des Namens Walser schlug jedermann genervt die Augen zum Himmel. Dass ein Roman über den Literaturbetrieb am Rande des Klagenfurter Betriebsausflugs so gut wie keine Rolle spielte, ist eine besonders groteske Folge der rechthaberischen Gespensterdebatte, die um ihn geführt wurde.

Man muss jeden Autor, der sich in Klagenfurt der Live-Kritik aussetzt, bewundern. Denn die Kritik ist der Literatur an mündlicher Spitzfindigkeit und Schlagfertigkeit fast immer voraus; die Kritikerwitze sind skrupelloser als die der Texte, weil Kritik fix das Ganze überblickt, wo die Literatur sich aufwändig ins Einzelne versenkt. Unter der Haut kracht es in Klagenfurt vermutlich lauter und öfter als in Ehrl-Königs Sprechstunde bei Walser. Martin Ramseier etwa baute um seine Sätze so lange Pausen, dass die Sätze im Text Platz nahmen wie römische Senatoren. Ausgerechnet er musste sich völlig zu Recht sagen lassen, seine Senatoren schwadronierten wie am Stammtisch.

Immerhin, es gab Augenblicke, da wurde das Klagenfurter ORF-Theater zum Interpretationsstudio. Und so unscharf die Jury auch argumentierte, letztlich traf sie bei der abschließenden Auszeichnung ziemlich ins Schwarze.

Den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt der 1957 in Graz geborene, in Berlin lebende Peter Glaser für eine Erzählung, die in schrägen, überzüchteten und doch stimmigen Metaphern erblühte. Seine auf 14 Seiten in Kairo, Piräus, Rimini und Hamburg spielende "Geschichte von nichts" ist unter anderem die Geschichte eines Mannes, der nach dem 11. September für eine Comedyshow Witze schreiben muss. Das gelingt ihm nicht wirklich, von postkatastrophalem Witz ist dagegen fast jeder Satz der Geschichte selbst: Jemand ist darin beispielsweise "ein Junge mit vielen Talenten, einer Frisur, die aussieht wie eine aus Kirschholz geschnitzte brennende Benzinpfütze".

Anette Pehnt aus Freiburg erhielt den zweiten, den "Preis der Jury", für den Anfang eines in Arbeit begriffenen Romans. "Insel Vierunddreißig" ist eine gut gebaute, etwas fantastische und dennoch kristallklare Exposition einer unwirtlichen, nordischen Küstenwelt, in der sich das Herz eines junges Mädchen für die noch kargere Insel 34 erwärmt, ein Eiland, das nicht einmal einen Namen und vermutlich auch nicht dessen Liebe verdient. Dieser Romananfang macht neugierig, auch wenn der Text etwas Mustergültiges, gegen alle Einwände Gefeites und deshalb Steriles hat. Faszinierend und preiswürdig ist er allemal, den zweiten Preis hätte der Berichterstatter jedoch lieber bei Raphael Urweider gesehen, der sich mit dem vierten, dem "3sat-Preis" begnügen musste. Urweider erzählte eine traurige und raffinierte Geschichte über Steine. Auf der Höhe der Gesteinskunde bewegte sie sich und kostete zugleich alle melancholischen Identifikationsmöglichkeiten aus, die Steine bieten: "Nicht arbeiten, nur befinden."

Den dritten, den "Ernst-Willner-Preis", erhielt überraschend Mirko Bonné, der in der Jury-Diskussion nach seiner Lesung bereits völlig versenkt schien, wie auch Christoph W. Bauer, der den Publikumspreis bekam.

 


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