Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Darmstädter Echo
01.07.2002
Vom 11. September und anderen Katastrophen

Die Tage der deutschsprachigen Literatur sind in die Jahre gekommen. Wetterfühlig schleppte sich der Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt über den ersten schwülen Tag. Die Jury war wenig inspiriert, launisch ohne kapriziös zu sein. Das Alter nimmt zu: Sechs der jeweils von einem Juror eingeladenen Autoren sind mehr als doppelt so alt wie die Jüngste: das war die am Literaturinstitut Leipzig studierende Melanie Arns, die mit ihren 22 Jahren eine mutige, nur vordergründig freche, leicht kokette Denunziation einer Familie vorlegte. „Die Geburt eines großen Talents“, befand der Schweizer Juror Thomas Widmer. „Mittwochs Sex: Vater pfeift, Mutter springt, er stöhnt, ich kotze. Donnerstags: Mutters Predigt. Tu was ... wir haben es auch nicht leicht. Mein Bruder ist tot. Ich habe aufgehört, meine Mutter zu schlagen.“ Das war die Erfrischung.
Private Katastrophen beherrschen die Texte, ewige Themen wie Geburt und Tod, Krankheit, Liebe und Selbstmord, Familie und Einsamkeit. Ausnahme: der Gewinner des mit 21 800 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preises. „Geschichte von nichts“ nennt der in Graz geborene Neuberliner Peter Glaser seine Erzählung, die in Kairo und Hamburg spielt. Damit begegnet Glaser dem 11. September literarisch angemessen und reflektiert den eigentlichen Beginn der Weltgeschichte mit der Globalisierung. Er erzählt eine schöne, doppelt geführte Sisyphusgeschichte. Der ernsthafte Text ist gut aufgelockert: „Henri schaute in die Wüste. Soviel Strand und kein Meer, sagte er. Eine österreichische Reisegruppe ging vorbei, und jemand fragte mich etwas. Ich sagte in sehr schlechtem Englisch, es täte mir leid, ich sei Finne und mir sei nicht kalt genug.“

Den mit 10 000 Euro dotierten Preis der Jury erhielt die in Freiburg lebende Kölnerin Anette Pehnt. „Diese Tante hat dort drei oder vier Liebhaber und blüht wie ein Flieder im Mai, ein kleines altes Persönchen doch eigentlich, aber ich sag dir, die soll Haare bis auf den Hintern haben und Brüste zum Reinbeißen, und abends kommen ihre Liebhaber, manchmal einer oder zwei, manchmal alle zusammen, die feiern die Nacht durch, und die Tante ist nicht die einzige auf der Insel, die es sich gutgehen läßt.“ Verheißungsvoll stimmt die Autorin in ihrem Text „Insel vierunddreißig“ auf einen ganzen Roman von der Insel ein. Sie schreibt kein Wort zu viel und damit gelingt alles: Das Stück vom begabten Kind, eine souveräne Vater-Tochter-Geschichte, eine Insel, die alles sein kann, die ungewohnte Art der Entstehung einer Leidenschaft.

Den dritten Preis erhielt der Tegernseer Mirko Bonné für „Auszeit“. Er erzählt von der Normalität, mit der Mutter und Bruder auf einen sich schon zum fünften Mal wiederholenden pathologischen Schub von Jenny reagieren und zugleich die Geschichte ihres Zwillingsbruders Rainer. Sympathisch unprätentös geht der Autor sprachlich kein Risiko ein. Seine Wortökonomie beeindruckt. „Jenny lehnte sich ans Fenster. Eine näher kommende Sirene war zu hören, ein paar Augenblicke später kam das Blaulicht herauf und fiel ins Zimmer. ‚Da werde ich gerade eingeliefert‘, sagte sie und drehte sich um in ihrem weißen Mireille-Darc-Mantel. Der Zustand war zu Ende.“

 

 


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