Susanne Riedels Roman über Liebe, Fernsehen
und poetische Außenseiter ist ein Streitfall und ein großes
Versprechen
Von Iris Radisch
© Susanne Schleyer
Wer die Prosa des Lebens in der Literatur noch einmal nachschmecken möchte,
geht in diesem außergewöhnlichen Roman leer aus und ist verärgert.
Wer liest, um überrascht, gar erschüttert und nicht um verköstigt
zu werden, ist diesem Buch sofort verfallen. Es geht um die einfach komplizierteste
Sache der Welt: ihn und sie. Die beiden sind füreinander bestimmt.
Er: ein abgedankter Journalist, Eremit, wohnhaft in einem einsamen Haus
an der Biegung irgendeines Flusses, in irgendeinem Land, das als Deutschland
nicht einwandfrei zu erkennen ist. Sie: eine Fernsehmoderatorin, hat die
große Liebe schon hinter sich, stellt jeden Abend in irgendeinem
Fernsehstudio irgendwelche Millionenfragen. "Lassen Sie uns über
die Dummheit der Menschen reden", schnarrt sein Anrufbeantworter,
als sie ihn anruft.
Das erste Mal ruft sie ihn mitten in der Show an. Er ist ihr Kandidat,
sieht die Show jeden Abend und weiß alles über Pilze. Die Million
gewinnt er ohne Schwierigkeit. Die Frau dazu will er nicht haben.
Alakar und Verna sind sich für die Liebe zu ähnlich. Beide stehen
mit den Füßen fest auf dem Boden unserer Medienunwirklichkeit,
doch im Kopf haben sie nichts als Gedichte. Er kennt The Waste Land von
T. S. Eliot auswendig, sie verkehrt ständig mit Anne Sexton (beide
Dichter dichten ständig dazwischen und stören den reibungslosen
Romanverlauf). Ihm fehlt ein Bein, ihr eine Zwillingsschwester. Beide
haben verblüffendes Spezialwissen auf den Gebieten Astrophysik, Naturkunde
und Lyrik. Das macht sie eigenbrötlerisch, wenn nicht solipsistisch.
Um sie weht der Wind der angelsächsischen und amerikanischen Lyrik
von Robert Frost, John Donne, Sylvia Plath, e. e. cummings und Philip
Larkin. Das macht sie und den Roman offen für jeden schrillen Lyrismus.
Man kann dieses hohe poetische Paar und seine Welt für eine überflüssige
Konstruktion halten, die nichts der Wirklichkeit und alles einem literarischen
Inzest verdankt. Dann geht man jedoch an einigen bis heute ungelösten
Millionenfragen des Lebens achtlos vorbei: Kann man lyrisch leben? Kann
die Lyrik das Leben verändern? Gibt es eine poetische Existenz?
Die 42-jährige Susanne Riedel stellt diese Urfragen der Romantik
und der klassischen Avantgarde in ihrem zweiten Roman von neuem. Das macht
ihr Buch von der ersten Zeile an zu einem Streitfall. In der Lesart des
Neorealismus, den wir uns aus Vergesslichkeit gegenüber der Literaturgeschichte
angewöhnt haben mit Literatur gleichzusetzen, wird man die poetischen
Figuren und Bilder dieser Prosa nachrechnen und zu keiner Deckung kommen.
In dieser Lesart kann ein Haus unmöglich wie eine glitzernde grüne
Weintraube in der Biegung des Flusses liegen. Man wird die in der Finsternis
atmenden Posthornschnecken nicht für eine Improvisation über
Eichendorff, sondern für prätentiös halten. Und dass die
Heidelerche Lullula arborea heißt und gerne im Rüttelflug über
den Eiben steht, wird sicher nicht als Versuch anerkannt, das Poetische
im Botanischen zu heben. Leider. Denn das Lesen mit dem Rechenschieber
bringt den solcherart Lesenden um den Genuss eines der originellsten Bücher
der neueren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Dennoch stelle sich dieses Buch niemand als ein papiernes Aquarium voller
dichtender Zierfische vor. Verna und Alakar leben in unserer Welt, sie
sind dieselben Medien-Zombies, die wir alle sind, einsame TV-Idioten vor
der Kamera und vor der Mattscheibe. Einzig der "dunkle Drang"
(Eliot) zum Dichterischen, das "geheime Rufen der Dinge" (Riedel,
sehr gewagt) ist es, der kompliziert macht, was einfach sein könnte:
die späte Liebe, die Quizfragen und die Quizantworten einer reproduzierbaren
Welt.
In der Ratesendung Brainonia sehen sie einander zum ersten Mal in die
Augen: Verna, die Quoten-Queen mit den sieben gefärbten Weizentönen
im Haar, und Alakar, der unbekannte Dichter. Der Chef der Produktionsfirma
Telefun glaubt, ein invalider Pilzexperte sei das Einzige, was seiner
Show noch fehlt. Auch diesem Ruf folgt der Dichter, reist im Schiff in
die Stadt und "erkennt" sie im Fernsehstudio, wie sich Mann
und Frau sonst nur im Alten Testament zu erkennen pflegen. Die jäh
ausbrechende Liebe, von der es dennoch heißt, sie sei in den "Beschwörungen
zu vieler Romane verloren gegangen", führt dazu, dass Verna
vor laufender Kamera in Tränen ausbricht und entlassen wird, während
Alakar zum Telefun-Dichter avanciert und (alle Gegensätze aus der
Frühzeit der Kulturindustrie sind längst vom Erdboden verschwunden)
mit großem Erfolg Lyrik im Fernsehen vortragen wird.
Universale Symmetrie: Wie im Himmel, so auch in der Familie
Was folgt, ist die grandiose Inszenierung einer romantischen Liebe, die
ohne romantische Ironie und Reflexion literaturgemäß nicht
auskommt. Warum sollte es dieser Literaturliebe anders gehen als so vielen
anderen zuvor? Geht es ihr natürlich nicht, und deshalb verwirrt
und spiegelt sich die eine Liebesgeschichte, um die sich alles zu drehen
schien, wahlverwandtschaftsartig in babylonische Vor-, Unter- und Nebengeschichten.
Verna sieht durch Alakar hindurch auf einen Mann, den sie geliebt und
verloren hat, Alakar erkennt in Verna seine dümmliche Geliebte Doris
Knöchel wieder, deren unerkannte Halbschwester sie ist. Und durch
eine Fügung des Himmels, in der sich die romantische Hoffnung auf
den großen psychophysikalischen Zusammenhang der Welt noch einmal
oder plötzlich wieder neu zu Wort meldet, sind am Ende auch wirklich
alle irgendwie verwandt, bekannt und verbunden. "Die versteckten
Symmetrien des Universums", von dem das astrophysikalisch bewanderte
Personal der Riedel gerne redet, kehren in dieser Beziehungskiste wieder,
wie im Himmel, so auch in der Familie. Und wie in der Physik, so auch
in der Poesie. Letztlich hängt alles mit allem zusammen. Denn bescheiden
wird man die neoromantische Transzendentalpoesie der Susanne Riedel nicht
nennen dürfen.
Dem TV-Lyriker und der dichtenden Moderatorin bringen diese romantischen
Vervielfachungen und Spiegelungen kein Glück. Wie in der Tragikomödie,
in der sich das Liebesglück, das sich bei den Herrschaften nicht
einstellen will, zumindest auf der Bedienstetenebene verschwenderisch
zeigt, finden die beiden nur bei den niederen Chargen eine bescheidene
irdische Erfüllung. Verna überlässt sich einer öden
Fernsehfratze, Alakar einer schwitzenden Hobbyphysikerin, die, wie er
behauptet, außen so ist wie er innen und die überdies die verehrte
Moderatorin aus Pappmaché als romantische Doppelgängerin im
Schlafzimmer stehen hat. Das Poetische und das Profane treffen aufeinander,
und es darf gelacht werden. Die Ausgangsfrage nach der Überführung
von Poesie in Lebens- und Liebespraxis geht in diesem Gelächter unter.
Die Wahrheit, sagt der Fernsehdichter, hat eben ein paar Seiten zu viel.
"Wir werden nichts mehr miteinander anfangen", fügt er
müde hinzu, als Verna sich verliebt, doch irrtümlicherweise
nur an seinem Holzbein zu schaffen macht: "Wenn man erst mal so weit
ist, ist die Realität nur noch Schund." Und weil dieses Buch
sehr weit kommt in der poetischen Realitätsvermeidung, wird Alakar
ein Kind nicht mit der Idealfrau Verna, sondern mit deren prosaischen
Nachbildung und Halbschwester zeugen. Wird er seine heiligen amerikanischen
Verse im Fernsehen feilbieten, wo sie ihm wie schlecht geschluckte Kopfschmerztabletten
in der Kehle stecken bleiben, und wird am Ende jeder mit sich, den Schattenbildern
und dem Fernseher allein sein.
Zum Abschied haben sie sich doch einmal geküsst, und der Kuss schmeckte
nach Pfefferminz, Eisen und Pyrit, aus Elba, Spanien oder Peru, da ist
sich die Autorin nicht ganz sicher. Dann liegen sie still in seinem Haus,
das noch immer daliegt wie eine glitzernde grüne Weintraube in der
Biegung des Flusses. Und weiter, sagen sie, kann man wirklich nicht kommen.
Und sollte man auch nicht. Denn wie in jedem besseren Liebesroman geht
es auch hier nicht um Liebe, sondern um das Sprechen über die Liebe.
Und nicht wegen der Liebesakrobatik der Darsteller, sondern wegen der
Wortakrobatik der Autorin ist dieses Werk - das nebenbei den romantischen
Reflexionsroman wunderbar modernisiert und persifliert - so rühmenswert.
Die Autorin vollbringt schließlich, was ihrem Personal vorsätzlich
missglückt: Sie versöhnt das Banale und das Poetische, sie redet
in fremden Zungen, sie verwandelt, was sie berührt, sie ist botanisch
gelehrt, kosmisch geschult, schnoddrig und bildreich, manchmal bis zur
Schmelzgrenze kitschig, manchmal an den Sprachnerven sägend, manchmal
exaltiert, immer überraschend, immer geistreich und lakonisch, in
jedem Fall: mit Begabung gesegnet. Ungezählt sind die Dichter, die
ihre Versköpfe durch diese Prosamaschen stecken, genannt und ungenannt,
ganz nach dem großen Vorbild T. S. Eliot, der wie niemand zuvor
aus Lyrik Lyrik zu machen verstand. Dass Bücher nicht nur zwischen
Sommerhaus und jetzt, sondern in einem literarischen Raum, in einer literarischen
Zeit entstehen, ist eine vergessene Selbstverständlichkeit, an die
lange nicht so hinreißend erinnert wurde.
|