Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Die Zeit
8. Jänner 2002
Kann man lyrisch leben?

Susanne Riedels Roman über Liebe, Fernsehen und poetische Außenseiter ist ein Streitfall und ein großes Versprechen

Von Iris Radisch

© Susanne Schleyer

Wer die Prosa des Lebens in der Literatur noch einmal nachschmecken möchte, geht in diesem außergewöhnlichen Roman leer aus und ist verärgert. Wer liest, um überrascht, gar erschüttert und nicht um verköstigt zu werden, ist diesem Buch sofort verfallen. Es geht um die einfach komplizierteste Sache der Welt: ihn und sie. Die beiden sind füreinander bestimmt. Er: ein abgedankter Journalist, Eremit, wohnhaft in einem einsamen Haus an der Biegung irgendeines Flusses, in irgendeinem Land, das als Deutschland nicht einwandfrei zu erkennen ist. Sie: eine Fernsehmoderatorin, hat die große Liebe schon hinter sich, stellt jeden Abend in irgendeinem Fernsehstudio irgendwelche Millionenfragen. "Lassen Sie uns über die Dummheit der Menschen reden", schnarrt sein Anrufbeantworter, als sie ihn anruft.
Das erste Mal ruft sie ihn mitten in der Show an. Er ist ihr Kandidat, sieht die Show jeden Abend und weiß alles über Pilze. Die Million gewinnt er ohne Schwierigkeit. Die Frau dazu will er nicht haben.
Alakar und Verna sind sich für die Liebe zu ähnlich. Beide stehen mit den Füßen fest auf dem Boden unserer Medienunwirklichkeit, doch im Kopf haben sie nichts als Gedichte. Er kennt The Waste Land von T. S. Eliot auswendig, sie verkehrt ständig mit Anne Sexton (beide Dichter dichten ständig dazwischen und stören den reibungslosen Romanverlauf). Ihm fehlt ein Bein, ihr eine Zwillingsschwester. Beide haben verblüffendes Spezialwissen auf den Gebieten Astrophysik, Naturkunde und Lyrik. Das macht sie eigenbrötlerisch, wenn nicht solipsistisch. Um sie weht der Wind der angelsächsischen und amerikanischen Lyrik von Robert Frost, John Donne, Sylvia Plath, e. e. cummings und Philip Larkin. Das macht sie und den Roman offen für jeden schrillen Lyrismus.
Man kann dieses hohe poetische Paar und seine Welt für eine überflüssige Konstruktion halten, die nichts der Wirklichkeit und alles einem literarischen Inzest verdankt. Dann geht man jedoch an einigen bis heute ungelösten Millionenfragen des Lebens achtlos vorbei: Kann man lyrisch leben? Kann die Lyrik das Leben verändern? Gibt es eine poetische Existenz?
Die 42-jährige Susanne Riedel stellt diese Urfragen der Romantik und der klassischen Avantgarde in ihrem zweiten Roman von neuem. Das macht ihr Buch von der ersten Zeile an zu einem Streitfall. In der Lesart des Neorealismus, den wir uns aus Vergesslichkeit gegenüber der Literaturgeschichte angewöhnt haben mit Literatur gleichzusetzen, wird man die poetischen Figuren und Bilder dieser Prosa nachrechnen und zu keiner Deckung kommen. In dieser Lesart kann ein Haus unmöglich wie eine glitzernde grüne Weintraube in der Biegung des Flusses liegen. Man wird die in der Finsternis atmenden Posthornschnecken nicht für eine Improvisation über Eichendorff, sondern für prätentiös halten. Und dass die Heidelerche Lullula arborea heißt und gerne im Rüttelflug über den Eiben steht, wird sicher nicht als Versuch anerkannt, das Poetische im Botanischen zu heben. Leider. Denn das Lesen mit dem Rechenschieber bringt den solcherart Lesenden um den Genuss eines der originellsten Bücher der neueren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Dennoch stelle sich dieses Buch niemand als ein papiernes Aquarium voller dichtender Zierfische vor. Verna und Alakar leben in unserer Welt, sie sind dieselben Medien-Zombies, die wir alle sind, einsame TV-Idioten vor der Kamera und vor der Mattscheibe. Einzig der "dunkle Drang" (Eliot) zum Dichterischen, das "geheime Rufen der Dinge" (Riedel, sehr gewagt) ist es, der kompliziert macht, was einfach sein könnte: die späte Liebe, die Quizfragen und die Quizantworten einer reproduzierbaren Welt.
In der Ratesendung Brainonia sehen sie einander zum ersten Mal in die Augen: Verna, die Quoten-Queen mit den sieben gefärbten Weizentönen im Haar, und Alakar, der unbekannte Dichter. Der Chef der Produktionsfirma Telefun glaubt, ein invalider Pilzexperte sei das Einzige, was seiner Show noch fehlt. Auch diesem Ruf folgt der Dichter, reist im Schiff in die Stadt und "erkennt" sie im Fernsehstudio, wie sich Mann und Frau sonst nur im Alten Testament zu erkennen pflegen. Die jäh ausbrechende Liebe, von der es dennoch heißt, sie sei in den "Beschwörungen zu vieler Romane verloren gegangen", führt dazu, dass Verna vor laufender Kamera in Tränen ausbricht und entlassen wird, während Alakar zum Telefun-Dichter avanciert und (alle Gegensätze aus der Frühzeit der Kulturindustrie sind längst vom Erdboden verschwunden) mit großem Erfolg Lyrik im Fernsehen vortragen wird.
Universale Symmetrie: Wie im Himmel, so auch in der Familie
Was folgt, ist die grandiose Inszenierung einer romantischen Liebe, die ohne romantische Ironie und Reflexion literaturgemäß nicht auskommt. Warum sollte es dieser Literaturliebe anders gehen als so vielen anderen zuvor? Geht es ihr natürlich nicht, und deshalb verwirrt und spiegelt sich die eine Liebesgeschichte, um die sich alles zu drehen schien, wahlverwandtschaftsartig in babylonische Vor-, Unter- und Nebengeschichten. Verna sieht durch Alakar hindurch auf einen Mann, den sie geliebt und verloren hat, Alakar erkennt in Verna seine dümmliche Geliebte Doris Knöchel wieder, deren unerkannte Halbschwester sie ist. Und durch eine Fügung des Himmels, in der sich die romantische Hoffnung auf den großen psychophysikalischen Zusammenhang der Welt noch einmal oder plötzlich wieder neu zu Wort meldet, sind am Ende auch wirklich alle irgendwie verwandt, bekannt und verbunden. "Die versteckten Symmetrien des Universums", von dem das astrophysikalisch bewanderte Personal der Riedel gerne redet, kehren in dieser Beziehungskiste wieder, wie im Himmel, so auch in der Familie. Und wie in der Physik, so auch in der Poesie. Letztlich hängt alles mit allem zusammen. Denn bescheiden wird man die neoromantische Transzendentalpoesie der Susanne Riedel nicht nennen dürfen.
Dem TV-Lyriker und der dichtenden Moderatorin bringen diese romantischen Vervielfachungen und Spiegelungen kein Glück. Wie in der Tragikomödie, in der sich das Liebesglück, das sich bei den Herrschaften nicht einstellen will, zumindest auf der Bedienstetenebene verschwenderisch zeigt, finden die beiden nur bei den niederen Chargen eine bescheidene irdische Erfüllung. Verna überlässt sich einer öden Fernsehfratze, Alakar einer schwitzenden Hobbyphysikerin, die, wie er behauptet, außen so ist wie er innen und die überdies die verehrte Moderatorin aus Pappmaché als romantische Doppelgängerin im Schlafzimmer stehen hat. Das Poetische und das Profane treffen aufeinander, und es darf gelacht werden. Die Ausgangsfrage nach der Überführung von Poesie in Lebens- und Liebespraxis geht in diesem Gelächter unter.
Die Wahrheit, sagt der Fernsehdichter, hat eben ein paar Seiten zu viel. "Wir werden nichts mehr miteinander anfangen", fügt er müde hinzu, als Verna sich verliebt, doch irrtümlicherweise nur an seinem Holzbein zu schaffen macht: "Wenn man erst mal so weit ist, ist die Realität nur noch Schund." Und weil dieses Buch sehr weit kommt in der poetischen Realitätsvermeidung, wird Alakar ein Kind nicht mit der Idealfrau Verna, sondern mit deren prosaischen Nachbildung und Halbschwester zeugen. Wird er seine heiligen amerikanischen Verse im Fernsehen feilbieten, wo sie ihm wie schlecht geschluckte Kopfschmerztabletten in der Kehle stecken bleiben, und wird am Ende jeder mit sich, den Schattenbildern und dem Fernseher allein sein.
Zum Abschied haben sie sich doch einmal geküsst, und der Kuss schmeckte nach Pfefferminz, Eisen und Pyrit, aus Elba, Spanien oder Peru, da ist sich die Autorin nicht ganz sicher. Dann liegen sie still in seinem Haus, das noch immer daliegt wie eine glitzernde grüne Weintraube in der Biegung des Flusses. Und weiter, sagen sie, kann man wirklich nicht kommen.
Und sollte man auch nicht. Denn wie in jedem besseren Liebesroman geht es auch hier nicht um Liebe, sondern um das Sprechen über die Liebe. Und nicht wegen der Liebesakrobatik der Darsteller, sondern wegen der Wortakrobatik der Autorin ist dieses Werk - das nebenbei den romantischen Reflexionsroman wunderbar modernisiert und persifliert - so rühmenswert. Die Autorin vollbringt schließlich, was ihrem Personal vorsätzlich missglückt: Sie versöhnt das Banale und das Poetische, sie redet in fremden Zungen, sie verwandelt, was sie berührt, sie ist botanisch gelehrt, kosmisch geschult, schnoddrig und bildreich, manchmal bis zur Schmelzgrenze kitschig, manchmal an den Sprachnerven sägend, manchmal exaltiert, immer überraschend, immer geistreich und lakonisch, in jedem Fall: mit Begabung gesegnet. Ungezählt sind die Dichter, die ihre Versköpfe durch diese Prosamaschen stecken, genannt und ungenannt, ganz nach dem großen Vorbild T. S. Eliot, der wie niemand zuvor aus Lyrik Lyrik zu machen verstand. Dass Bücher nicht nur zwischen Sommerhaus und jetzt, sondern in einem literarischen Raum, in einer literarischen Zeit entstehen, ist eine vergessene Selbstverständlichkeit, an die lange nicht so hinreißend erinnert wurde.

Susanne Riedel: Die Endlichkeit des Lichts Roman; Berlin Verlag, Berlin 2001; 320 S., 19,90 €


Kontakt
ORF Kärnten Ingeborg-Bachmann-Preis
Sponheimer Straße 13,  A- 9020 Klagenfurt
Tel: 0463-5330-29528 (Binia Salbrechter)
e-mail: bachmann.preis@orf.at

Webmaster:
ORF ON Redaktion Kärnten
Sponheimer Straße 13,  A- 9020 Klagenfurt
Tel: 0463-5330-29191, 29192
e-mail: kaernten.online@orf.at


© 08.03.2002
ORF ON Kärnten Aktuell Jet2Web - Telekom