Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt |
|||
Die Zeit | |||
Februar 2002 | |||
Über Schnee | |||
Antje Ravic Strubel, 27, Schriftstellerin, zuletzt: "Unter Schnee" von Antje Ravic Strubel "Der is ja gar nicht echt", sagt die
Frau und schüttelt enttäuscht ihre Hand aus. Sie ist nackt,
und wir stehen zu dritt im Schneesturm. "Besser als nüscht!",
brüllt ihr Mann in das Flockentreiben, das eher ein Zischen ist,
und zielt. "Und siehste, für 'ne Schneeballschlacht reicht's
ooch!" Wir stehen in einer Kühltruhe, die mit Schneeflöckchen
auf einer Grundierung aus Frau-Holle-Blau bemalt ist, in der Sauna von
Bad Saarow. Wie ein Tauchbecken funktioniert dieser Schneeraum, während
man durch das Fenster die Sonne draußen sieht. Der Schnee kommt
aus einer Düse in der Wand und hat romantische Häubchen auf
dem Schlitten gebildet; eine Sensation hier im Flachland, wo Schnee schon
immer der weihnachtliche Unsicherheitsfaktor war. Wenn ich mich als Kind
wieder so trübgrau fühlte wie der Heiligabendhimmel, aus dem
kein Schnee kam, dachte ich an Ludwig XIV. Der hatte sich sogar im Sommer
mit Kutschen den Schnee anfahren lassen, um sich vom Lustgetümmel
in seinem Pariser Schloß abzukühlen. Das lernten wir im Geschichtsunterricht
der 7. Klasse. Der Sonnenkönig war der Inbegriff von zu verteufelnder
Dekadenz. Gegen ihn wurde die Revolution ins Feld geführt, die meist
von Jan Hus, Büchner, den Webern und, je nach Lehrerveranlagung,
auch Goethe angezettelt wurde. Schnee im Sommer: das war Kapitalismus
in seiner verderbtesten Stufe. Das ignorierte den natürlichen Geschichtsverlauf.
Folgte man dagegen dem Lauf der Jahreszeiten wie das Gemüseangebot
in den Auslagen, dann war man im Sozialismus, und nicht mal zu Heiligabend
fiel Schnee. Deshalb hat mir der Sonnenkönig so gut gefallen. |
|||
Nächste Woche schreibt an dieser Stelle: Moritz Rinke |
|||
Kontakt Webmaster:
|