Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Die Welt
29.06.2002
Dichter und ihre Henker

Hymne oder Hinrichtung? Das ist die Frage, wenn in Klagenfurt die Literaturrichter tagen. Mal nicht in den Reservaten des Feuilletons, sondern live, vor den Kameras von ORF und 3sat. Seit Donnerstag sind sie wieder im Einsatz: Sieben Eingeweihte - Germanistik-Professoren, Schriftsteller und Kritiker, die die neue deutschsprachige Literatur sezieren; die loben, nörgeln, verreißen, gelegentlich den Durchblick verlieren, wie mancher Zuschauer bei diesem seltsamen Spektakel auch. Heute nun, um elf Uhr, spricht das "Literarische Septett" sein Urteil, verkündet den Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises 2002 - auch das vor laufenden Kameras.

Show-Time am Wörthersee. Seit 26 Jahren wird in Klagenfurt neue Prosa verhackstückt. Und der Laden läuft immer noch. Zwar ist das einstige Spektakel inzwischen zum Ritual verblasst, doch die Kärntner Mixtur aus Dichterwettstreit, Telezirkus, Workshop und Eitelkeitsparade ist bis heute das meistdiskutierte Literaturmeeting, der größte Talentschuppen im deutschsprachigen Raum - und das einzige Germanistik-Seminar, das tagelang live im Fernsehen übertragen wird. Ein idealer Tummelplatz für Newcomer und Hintermänner, die auf unentdeckte Talente und lukrative Geschäfte lauern.

Sechzehn Autoren haben seit Mittwoch auf der Bühne des ORF-Theaters aus ihren unveröffentlichten Manuskripten um die Wette gelesen, mal theatralisch, mal gelassen, meistens nervös, jeder 30 Minuten lang: Melanie Arns aus Leipzig, Lukas Bärfuß aus Zürich, Elfriede Kern aus Linz, Daniel Zahno aus Basel ... kaum bekannte Größen. Die meisten werden es wohl bleiben. Der erste am Start, Jörg Matheis aus Ingelheim, wurde gleich zu Beginn routiniert erledigt. "Impotenzsignale" meinte etwa Professorin Fliedl, eine der Jurorinnen, in seiner Architekten-Erzählung "Schnitt" zu orten. So weit, so schlecht. Der Dichter-Delinquent schluckte und verließ frustriert die Anklagebank.

Ein schwacher Trost, dass auch seine Kollegin Nina Jäckle nicht besser wegkam. Der wurde die "Artigkeit" ihrer Kindheitsreflexion vorgehalten, allenfalls geeignet als "Lesebuchgeschichte für die Unterstufe". Den metaphorischen Text des Österreichers Heinz D. Heisl, der bei seinem Vortrag vor Leidenschaft vibrierte, kommentierte Autorin Birgit Vanderbeke, selbst Bachmann-Preisträgerin, genervt: "Wortschwaden, Wortsucht, Wortwut - ich passe." Trotzdem - einer wird, einer muss ihn heute gewinnen, den Ingeborg-Bachmann-Preis: 21800 Euro und vielleicht den Sprung in die Popularität. Außerdem gibt's drei Trostpreise und erstmals auch noch einen Publikumspreis, ermittelt per Internet.

Die Krux von Klagenfurt: Literatur ist dort nur Mittel zum Zoff. Autoren tragen hoffnungsvoll ihre Prosa zu Markte. Action aber ist erst nach der Lesung angesagt, wenn die Juroren so richtig in Fahrt kommen. Dann unterscheidet sich das Gerangel und Gespreitze der sieben Eitlen zwar in Wortwahl, Gehabe und Diktion von nachmittäglichen Talk- und Gerichts-Shows. Doch auch hier kennt man kaum Gnade. Die Richter sind die Stars. Sie versuchen in 30 Minuten, die optisch einer Fraktionssitzung im Bundestag ähneln, sich gegenseitig an Urteilsartistik, Bonmots, Lob- und Vernichtungsfinesse zu überbieten. Kurz: ihre "Schlachtungs- und Begönnerungsbedürfnisse" medial auszuleben, wie Adolf Muschg einmal zuspitzte. Kein leichter Job, aber wer spielt sich vor mehr als 100.000 Zuschauern nicht gern in den Mittelpunkt?

Ein junge österreichische Autorin beobachtete vor einigen Jahren die Juroren nach getaner Arbeit bei der Schlacht am Büfett im Szene-Restaurant "Maria Loretta": "Da zerteilten sie die Krebse so genussvoll wie vorher mich ..." Die Frau hatte Humor, bekam aber keinen Preis.

Die Idee zum Wettstreit, dem ersten literarischen Medienspektakel, hatte der damalige ORF-Intendant Ernst Willner gemeinsam mit dem Reiseschriftsteller und Kärntner Lokalmatador Humbert Fink im Jahr 1977, vier Jahre nach dem Tod der Klagenfurter Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Fink wollte als prominenten Juroren Elias Canetti engagieren. Doch der weigerte sich, im Namen einer Autorin zu urteilen, die er nicht besonders schätzte. Kein Problem. Marcel Reich-Ranicki sprang ein, zwar auch kein uneingeschränkter Bachmann-Verehrer, dafür passionierter Literaturrichter. Er ernannte nach eigenem Gusto Juroren und Schriftsteller und brachte die Show auf Touren.

Mal riefen österreichische Schriftsteller zum Boykott der Veranstaltung auf, wetterten gegen das "würdelose Wettlesen" oder gegen das "degoutante Schnappen von Autoren nach dem Geldbündel an der Angel". Ernst Jandl hielt die Veranstaltung gar für einen "Verstoß gegen die allgemeine Verschwiegenheitspflicht von Jurys".

Doch Miesmacher haben in Klagenfurt keine Chance. Eine bessere Bühne zur Selbstinszenierung gibt es nirgends. Die nutzte auch der schreibende Mediziner Rainald Goetz, als er sich 1983 ein Rasiermesser in die Stirn rammte, um seinem Text "Subito - ein Wutausbruch" Nachdruck zu verleihen. Die Jury hielt die Aktion für eine Farbbeutel-Farce und eröffnete ungerührt die Textdebatte. "Blutiger Zwischenfall bei Literaturwettbewerb", meldete eine Nachrichtenagentur. "Eine literarische Leistung", kommentierte ironisch Reich-Ranicki.

Der Bachmann-Wettbewerb hat bisher alle Eklats überlebt - und wird, so antiquiert es auch wirkt, weiter brav übertragen. Trotz Kritikerschelte und Nörgelei über das Niveau der Texte. Gegen diesen Vorwurf spricht, dass die meisten Schreibtalente der letzten 20 Jahre in Klagenfurt gesichtet wurden: etwa Sten Nadolny, Birgit Vanderbeke oder Wolfgang Hilbig.

Der größte Garant für den Erhalt des Klagenfurter Literaturwettstreits aber ist der Voyeurismus des Publikums. Und der wird auch in diesem Jahr wieder bestens bedient.

Bachmann-Preis 2002, Sonntag, 11.00 Uhr, 3sat

Von Susanne Kunckel


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