Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Frankfurter allgemeine Zeitung
06.07.2002
Geschichte von Nichts
Peter Glasers "Geschichte von Nichts", die wir leicht gekürzt abdrucken, wurde am vorigen Wochenende in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

I. SÜDEN

Ich wachte von meinem eigenen Lachen auf und konnte damit eine ganze Weile nicht aufhören, obwohl ich vom ersten Augenblick an nicht mehr wußte, weshalb ich lachte.

Henri sagte, er sei einmal blutend aufgewacht, aber das Schlimmste wären Träume, in denen man sich langweilt. Vor dem offenen Fenster leuchtete Kairo. Es war vier Uhr früh.

Im Vorbeigehen zog ich, ohne nachzudenken, an der Schublade des alten Holztischs. Sie ging einfach auf. Den ganzen Sommer über klemmt sie. Es hat damit zu tun, wie die Sonne steht und das Holz wärmt. Mit dem Tag, an dem die Schublade sich das erste Mal ganz einfach öffnen läßt, erklärt Tante Nelly gewöhnlich den Sommer für beendet. Wir hatten den zehnten September.

Henri, der jüngere Bruder von Stella, hatte mir zu dem Job hier verholfen. Ich hätte mir die Reise nicht leisten können, und ich brauchte das Geld. Ich brauchte es für Stella. Geld gehört sich nicht. Aber ich weiß, daß sie es braucht.

Und ich hatte mich darauf gefreut, Tante Nelly wiederzusehen. Sie lebt seit langem hier. Ich war schon als Kind gern zu Besuch, inzwischen kenne ich die Stadt und ein paar Leute, so kann ich dem Mann, für den Henri die Technik macht, helfen.

Aber Tante Nelly ist verschwunden. Als Wahid uns in die Wohnung brachte und mir sagte, daß die Tante weg ist, ließ er eine Knospe aus Fingern aufblühen und wog eine große Sorge in seiner Hand.

Kairo ist ein Triumph über die Stille. Mit dem Lieferverkehr erheben sich aus dem Reifenraunen der Nacht die Geräusche einer Art Güterdämmerung. Vor dem Haus fuhr eine Straßenbahn an wie ein Rasenmäher, den jemand durch Eisendrehspäne schiebt.

Ich hatte ihn geweckt, nun schälte ich eine Orange für Henri. Die Säure sprühte aus den Schalen, und die Schatten der Hitze, die aus den Lüftungsschlitzen des Toasters stieg, flossen wie winziger Autoverkehr eilig über die Tischplatte.

Henri ist ein Junge mit vielen Talenten, einer Frisur, die aussieht wie eine aus Kirschholz geschnitzte brennende Benzinpfütze, und einer kleinen Narbe unter dem rechten Auge. Er arbeitet unter anderem als Killer. Wer als Einsteiger bei einem Online-Spiel sein Glück versucht, wird in der ersten Zeit chancenlos von versierten Kämpfern weggeblasen. Wen das stört, der kann jemanden wie Henri mieten. Die Narbe stammte von einem Weggeblasenen, dem er auf einem Spielertreffen begegnet war.

Als ich Stella vor zwei Jahren kennengelernt habe, hat sie mir ihre Lieblingsstelle im Großen Gatsby erzählt. Jay Gatsby sitzt in einem Auto und weint, weil er weiß, daß er nie wieder in seinem Leben so glücklich sein wird wie in diesem Moment. Als Stella mir das erzählte, war ich sehr glücklich mit ihr, aber nicht bereit, uns die Chance auf ein noch größeres Glücklichsein zu nehmen.

Nun las ich das Buch endlich. Während Henri seinen Toast aß, las ich den Großen Gatsby zu Ende, und was sich bereits abgezeichnet hatte, wurde zur Gewißheit. Die wunderbare Stelle, von der Stella erzählt hat, gibt es in dem Buch gar nicht.

WAHID BRACHTE UNS zu einem Goldschmied, dem ich erklärte, was ich brauchte: Aus Gold und Platin doubliert eine Einfassung für eine Südseeperle, einer japanischen Dame zugedacht. Ich mußte alles Ziselieren untersagen und um klarste Eleganz bitten.

Dann kamen, noch im Dunklen, die Glutverkäufer, von denen die Schmiede gute, fertige Glut bekommen können. Wir sahen, wie die aschebedeckten Männer einen der großen Töpfe von ihrer Karre hoben, wie die Glut aus ihrem Aschenest in die Esse rollte, und ich sah, wie der ganze Raum erglühte, als der Blasebalg anging.

"Ich geh' mal beten", sagte Wahid. Von den vielen Malen, die sie schon den Boden berührt hat, war auf seiner Stirn eine verhornte Stelle zu sehen, die Rosine.

Ich wußte, daß Stella um diese Zeit zur Arbeit unterwegs war. Sie ist Krankenschwester auf einer Intensivstation. Ich schickte ihr als Kurznachricht zwei Leerzeichen. Nach einer Weile kamen drei Leerzeichen als Antwort, und ich fand, daß sie etwas für mich übrig hatte. Dann sah ich, daß der Schmied bereits ein neues Stück abzuschroten begann, und wir fuhren hinüber nach Giseh und auf das Pyramidenfeld.

HENRI SCHAUTE IN die Wüste. Soviel Strand und kein Meer, sagte er. Eine österreichische Reisegruppe ging vorbei, und jemand fragte mich etwas. Ich sagte in sehr schlechtem Englisch, es täte mir leid, ich sei Finne und mir sei nicht kalt genug.

Herr Shirakawa hatte wieder ein kleines Wunder zuwege gebracht. Wir hatten die Geräte und die Genehmigungen für Schwetz. Das Unternehmen, für das Shirakawa arbeitet, bemüht sich seit langen darum, ein Atomkraftwerk in Ägypten zu bauen, und ich wußte, daß er sich über jede Gelegenheit freuen würde, die fantastische Technik zu demonstrieren, über die sie verfügten. Er hatte eine mikrogravimetrische Apparatur heranschaffen lassen, mit der Schwetz die Steine durchmessen konnte.

Ich hatte dabei geholfen, daß jemand aus dem Tourismusministerium sich mit jemandem aus der Altertümerverwaltung darüber verständige, daß der Fremdenverkehr sich seit den letzten Anschlägen noch nicht wieder richtig erholt hatte und daß eine unentdeckte Grabkammer von der internationalen Presse zweifellos mit freundlichem Interesse wahrgenommen würde.

Schwetz, der Henri und mich bezahlte, hatte vor, das Geheimnis der Pyramiden zu lüften. Er war auch aus Hamburg, er war ein Spinner, und er stand mit Shirakawa neben den Kisten mit der Schwerkraftwaage. Eine rosa Plastiktüte tanzte die Große Pyramide hoch.

Schwetz gab mir die Hand, die gleich wieder verschwand, wie eine Flüssigkeit. Er rührte mich, aber es war etwas an ihm, daß es schwierig machte. Er erzählte etwas über seine Theorie, und es war, als ob einem jemand Geld gibt und man sagt nichts, und er gibt einem mehr Geld. Furchtbar.

Ich erkannte sofort den Dilettanten, einer wie ich. Seine Hypothesen waren haarsträubend, aber sorgsam gearbeitet, und ich spürte das Bedürfnis, diesen Menschen und sein Gebilde, so sacht und wie aus Ascheflocken gebaut, zu beschützen. Ein Touristenbus mit der Aufschrift "Christen Transporte" hielt. Unten in der Ebene brannten abgeerntete Zuckerrohrfelder.

Gegen Mittag kam Wahid aus der Stadt. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß Tante Nelly mit dem alten Wohnwagen abgereist war. Die vierundachtzigjährige Tante hatte keinen Führerschein und kein Auto. Sie hatte herumgefragt, und der Bevollmächtigte einer Firma für Haarteile hatte sie und den kleinen Wohnwagen mit nach Alexandria genommen und ihr auf die Fähre nach Athen geholfen. Wahid schüttelte den Kopf, so leicht, daß man es nur fühlte, und dieser zarte Ausdruck der Verzweiflung brachte die Entscheidung.

Ich ging mit Shirakawa an der Sphinx vorbei zu einem der alten Steinbrüche. Ein Stück vor uns war ein hohes Gerüst an den Felsen gebaut. Ein Mann am Fuß des Gerüsts hob aus der steilen Geröllhalde einen Stein von der Größe einer Wassermelone in eine Schubkarre und schob sie hoch bis vor das Gerüst. Ein Mann aus der zweiten Etage ließ an einer Rolle ein Seil herunter, das, je länger es wurde, immer träger baumelte, und am Ende des Seils hing wie ein großes totes Fragezeichen ein dicker Stahlhaken. Zwei Männer zogen die Schubkarre mit dem Stein darin hoch und schwenkten sie auf die Bretter. Einer fuhr ein paar Meter damit, und die Bretter unter dem Karrenrad schlugen hölzerne Wellen. Der andere kletterte zu einem weiteren Mann auf die nächste Gerüstetage. Die Schubkarre wurde ein weiteres Mal hochgezogen, und ein Mann fuhr mit dem Stein bis an das Ende des Gerüsts. Dann kippte er ihn in die Halde. Der Stein rollte mit dumpfen Aufschlägen abwärts, bis er ungefähr dort zu liegen kam, wo der Mann am Fuß des Gerüsts ihn aufgenommen hatte.

Wir beobachteten das Teamwork, und ich gab Shirakawa die Schachtel mit der Perlenbrosche, Empfehlung an die Frau Gemahlin, so wirkte es am ehesten wie ein Geschenk. "Ich brauche nochmal ihre Hilfe", sagte ich, "es ist dringend."

Zurück in die Stadt fuhr ich mit Wahid an der Universität vorbei. Vor dem Eingang liegt auf einem Sockel eine steinerne Sphinx, und neben ihr steht eine Frau, die den Schleier von ihrem Gesicht nimmt. Als wir diesmal vorbeifuhren, sprang die Plastik um wie ein Vexierbild: eine Frau, die gerade den Schleier vor ihr Gesicht hebt.

ABEER - EINE NICHTE von Wahid, die als Travel Agent arbeitet - schaffte es, mir einen der Reserveplätze in der letzten Maschine nach Athen zu besorgen. Henri borgte mir Geld, da Schwetz offenbar knapp bei Kasse war. Abeer brachte mit einem Kollegen ein paar Kanadier in einem Kleinbus zum Flughafen, ich konnte mitfahren. Man resümierte, Superlative fielen wie Laub. Ich sprach mit Abeer Arabisch.

"Klingt eigenartig", sagte einer der Kanadier anerkennend.

"Kommt daher, daß Araber von rechts nach links sprechen", sagte ich.

Abeer ist zweiundzwanzig, und sie lebt mit ihren Eltern, zwei Brüdern und einem Onkel in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Neulich sollte sie auf einem Schiff einspringen. Das hieß: Sie würde die Nacht nicht zu Hause verbringen können, ein Unding für eine unverheiratete Ägypterin. Ihr Job ernährt die halbe Sippe, nach langem Hin und Her stimmte der Familienrat zu. Als ein Steward sie auf dem Schiff in ihre Kabine brachte und sie die Tür zumachte, war sie das erste Mal in ihrem Leben allein in einem Zimmer.

Das nächtliche Athen aus der Luft ist ein gewaltiger, glitzernder Tiefseeorganismus. Fahrzeuge fließen durch Lichtadern. Während des Landeanflugs hielt ich einen leeren Plastikbecher. Als das Flugzeug auf das Terminal zurollte, prasselte das Klicken der Gurtschnallen wie ein Hagelschauer durch die Sitzreihen. Um jeden meiner Fingerabdrücke auf dem Becher lag eine Aura aus Feuchtigkeit.

HERRN UND FRAU Pantidis, an die er mich empfahl, hatte Shirakawa kennengelernt, während er in den achtziger Jahren einmal die Woche von Kairo nach Athen geflogen war, um zu telefonieren. Damals konnte bereits der Versuch, jemanden innerhalb Kairos telefonisch zu erreichen, einen ganzen Nachmittag in Anspruch nehmen.

Die Pantidis wohnten in Piräus, und ich bekam Essen und Wein und ein frisches Bett. Um fünf Uhr morgens führte mich Frau Pantidis zu den Quais, an denen die Fähren anlegen, und ich lernte ein Netzwerk aus alten Damen kennen, das die streunenden Katzen von Piräus mit Futter und Liebe versorgt und die menschliche Umgebung gewissenhafter als jeder Geheimdienst beobachtet.

An der Nordseite der Mole saß auf einer kleinen Mauer eine Galerie alter Männer. Einer von ihnen ertrank fast in seinem Fett, und in seinen kleinen Augen glomm die Angst des Schiffbrüchigen. Eine alte Frau in einer grünen Jacke wies ihn offensichtlich auf seine Maßlosigkeit hin. Sie hatte vor zwei Tagen mit Tante Nelly gesprochen. Man war über einen der Hafenarbeiter ins Gespräch gekommen, er hatte damit gedroht, die Katzen zu vergiften, weil sie sich auf sein Auto setzten, die Dame hatte ihm eine Plane für sein Auto genäht. Tante Nelly sagte, sie wolle auf den Peloponnes und nach Patras.

Ich nahm den Bus. Während der Fahrer in einem Dorf seine Mittagspause machte, ging ich an einer Wand von Feuerdorn vorbei in üppige Kissen heller, wilder Zyklamen und sah auf das Meer von Korinth und einen großen Lichtschauer darauf. Henri rief an und sagte, das Welthandelszentrum in New York sei eingestürzt. Auf der Überfahrt nach Italien sah ich, daß an einer wie von Hand gezogenen Linie das dunkelblaue Wasser der Ägäis übergeht in das grüne Wasser der Adria, und manchmal war mir, als könnte ich am Geschmack der Gischt die Tiefe des Wassers schmecken.

IN ITALIEN FRAGTE ich an Tankstellen nach meiner Tante. Ich schaute auf das Land und sah das Grün und dachte, für Stella könnte ich da mehr herausholen als nur ein Grün. So schrieb ich einen Brief.

"Da ist Weinlaub. In der Wand aus Ranken und Blättern ist eine grüne Düsternis verstreut, und in kleinen Hohlräumen liegt das unsichtbare Licht, das die Gesichter auf den Gemälden von Vermeer und Rembrandt beleuchtet. Da ist das Dunkelgrün der Kirschbaumblätter, mit einem Schwarz darin, das man fühlen kann und im Sommer in den Früchten essen konnte. Da ist das Allerweltsgrün der Nußbäume. Aus einer Krone ragen Blätter wie Vögel, aber sie werden fallen. Das Grün überflutet alle Grundstücksgrenzen. Es gibt uns die Weite zurück. Das ist ein Blumenstrauß, Stella. Das Grünzeug von mir, und die Farbe, das Schöne, bist Du."

Es begann zu regnen, dann stieg ein Rauschen aus dem Grün. Auf den Pfützen öffneten sich sanft Tropfenringe. Dann ließ der Regen nach; es knisterte auf einem Vordach, wie wenn sich zusammengeknüllte Plastiktüten wieder ausdehnen.

Einmal fragte ich dann sogar auf einer Autobahnpolizeiwache. Bei Rimini gab ich auf. Ich hatte Tante Nelly verloren und gerade noch genug Geld für eine Zugkarte und einen Regenschirm.

II. NORDEN

IN DER HALLE des Hamburger Hauptbahnhofs kam ich spät abends an. Auf dem Bahnsteig stand eine Frau, die aussah, als hätten ihre Kleider sie gekauft und nicht umgekehrt. Sie hielt mit einer Hand ihre Schulter fest. Ich ging hinüber auf dem unbeleuchteten Weg am Alsterufer.

"Politisier mich, los!", schrie jemand hinter mir.

Dann spürte ich einen harten, wie von einer Maschine ausgeführten Schlag auf dem Kopf. In Hamburg einen Regenschirm zu tragen ist eigentlich Defätismus; vielleicht ging man deswegen auf mich los. Ich ließ meine Reisetasche fallen und spannte den Schirm auf und hielt ihn zwischen mich und einen Mann, der den linken Arm in Gips hatte, mit einem schwarzen Streifen darauf. Ein zweiter Mann und eine Frau standen ein Stück entfernt, dann war der Schirm kaputt.

"Welche Maßnahmen planen Sie zur Eindämmung des Konflikts im Nahen Osten?"

Ich kletterte auf ein Verkehrszeichen und trat nach unten. Ich wollte das alles nicht. Aber man hält auf einem Verkehrszeichen nicht lange durch. Ich spürte erneut die meteorische Gipswucht, dann gab es ein vollkommenes Durcheinander, und dann war nur noch die Frau da.

"Bist du das?"

"Hallo, Stella", sagte ich.

"Gar nicht gesehen, daß du das bist", sagte Stella.

"Waren das Freunde von dir?"

"Jemand", sagte Stella. Sie war ein wenig betrunken.

Als wir auf dem Radweg an die Straßenbeleuchtung kamen, sah ich, daß ich eine breite Krawatte aus Blut trug.

Zu Hause merkte ich, daß ich nicht geblutet hatte. Ich war aufgebracht über den unerwünschten Sieg. Stella rieb Creme in ihre Handflächen, und ich sah eine Spiegelung davon am Hals einer Glasflasche, ein Flammenzüngeln. Dann sah ich sie nackt. In der Liebe ist sie direkt. Ihr Atem, jede Regung spricht zu mir, ich antworte. Etwas beginnt, mit einem weichen Geräusch, wie wenn der Rücken eines neuen Buchs behutsam gebrochen wird.

Ozeanschmiegsamt.

Sind wir das, oder Tiere im Kampf?

Behagen in der Kiste. Kinder unterm Küchentisch, Katzen im Karton. Ich hätte gern einen Film von Jacques Tati gesehen, den ich noch nicht kenne, aber ich kenne sie alle, und Tati ist tot. Stella erzählte von einem Altersheim für Tiere, in dem ein pensioniertes Schwein lebt, das glaubt, ein Pferd zu sein. Es läuft mit den alten Gäulen in der Koppel und ist eins von ihnen. Meine Oberlippe war angeschwollen.

"Da ist irgendwas", sagte Stella.

"Da isch überall etwasch", sagte ich und ließ meine Oberlippe los. "Das ist das Schöne an der Realität. Stell dir vor, an einer Stelle wäre nichts. Du hättest sofort die Wohnung voller Philosophen."

Später saßen wir in der Küche, und eine Kürbishälfte lag auf einem großen Teller. Nachdem sie umgedreht war, schieden sich die Geister. Stella fand, daß die Rückseite aussah wie toter Fisch, ich: wie ein Lebkuchen mit weißem Zuckerguß. Wir begannen spielerisch zu streiten, dann ernster. Man darf Kristallglas nicht zum Klingen bringen, es speichert die Schwingungen in seiner Struktur. Noch Monate später kann das ganze Gebilde durch einen leichten Stoß zerbrechen.

DA HENRI LÄNGER in Ägypten blieb, sollte ich ihn hier vertreten. Es war Humorarbeit zu leisten. Ich brauchte das Geld; ich brauchte es für Stella. Geld gehört sich nicht, aber es ist ein Unterschied, ob man etwas macht oder ob man etwas für jemanden macht.

Wir schrieben Drehbücher fürs Fernsehen, Comedy. Henri hatte mir in Kairo, während wir mit Wahid in einem Stau standen, beigebracht, wie das geht.

"Was will der Mensch?" sagte Henri. "Er will einen glücklichen Tag. Was ist ein glücklicher Tag? Ein Tag, an dem nichts passiert. Also denkst du dir etwas aus, das passiert."

Das Nichts ist das Glück; man bezahlte uns, es zu stören. Es gab wohl einen unaufschiebbaren Termin, deshalb akzeptierte die Firma auch, daß ich für Henri einsprang.

Die Nachbarn sollten nicht wissen, was wir tun; es hätte keinen guten Eindruck gemacht, nicht in diesem September. Wir waren zu acht, immer zwei in einem Team. Einer von uns hatte sich den Knöchel gebrochen, und als wir den Verletzten wie jeden Tag die drei Stockwerke in die Firma hochtrugen, fragte einer aus seiner Tür heraus, was wir machten.

"Wir machen Witze", sagte Roland. Er und ich sind ein Team.

"Sie sollten keine solchen Witze machen", sagte der Mann an der Tür.

"Er findet das doch auch komisch", sagte ich und wies auf den von uns, der getragen wurde. Er hatte Schmerzen und fand es nicht komisch. Ich war das eingeblendete Gelächter. Es funktioniert auch, wenn, wie zumeist, was gesagt wird, gar nicht komisch ist.

An dem Tag rief Stella mich an und sagte, daß sie meine Tante gefunden hätte, sie läge im Krankenhaus, es ginge ihr einigermaßen. Nach der Arbeit fuhr ich hin.

"Ich wollte nach Hause", sagte Tante Nelly.

Sie war sehr schwach. Ihre Haut war weiß und fast durchsichtig. Sie hatte mir einmal erzählt, daß sie als Kind in Hamburg gelebt hatte und daß es eine schöne Zeit gewesen war.

Sie hat mir viel erzählt. An einem der Fenster in der Wohnung in Kairo gibt es ein Fensterbrett aus hellem Holz, in das sie im Lauf der Jahre eine dunkle, seidige Mulde hineingelehnt hat. Als Kind konnte ich nicht verstehen, wie jemand an einem Fenster lehnen und auf eine Straße sehen kann, auf der es nichts zu sehen gibt als eine Straße und Leute. Dann zeigte Tante Nelly mir, was es zu sehen gibt.

Ich sah, daß nur ihr Bett in dem Zimmer stand, und daß keine Medikamente auf dem Nachttisch waren. Stella kam mit einem jungen Arzt, und wir gingen langsam den Flur vor dem Zimmer entlang. Ich spürte, daß er eigentlich sehr schnell gehen wollte, weil er dringend gebraucht wurde, und wie freundlich es war, daß er so langsam mit mir diesen Flur entlangging.

ROLAND UND ICH arbeiteten in einem kleinen Zimmer vor einem Rechner. Roland sagte, daß es ein wunderbares Gefühl ist, wenn die Maus saubergemacht ist und wieder läuft wie neu. Ein Anschein von Licht lag auf dem Bildschirm, darin schwamm der Mauspfeil, am Rand von nichts.

Die Lage: Pärchen in einer Wohnung, Fernseher läuft.

"Er muß jetzt etwas sagen", sagte Roland.

"Das Universum ist wie Liz Taylor", sagte ich. "Es ist unergründlich, und es dehnt sich aus."

Ronald nickte und schrieb das auf. Er war Engländer, Mitte fünfzig, und ein feines Haus. Er machte diese Arbeit seit über zwanzig Jahren.

Als der Boß das Skript las, sagte er: "Wer ist Liz Taylor?"

"Kann man das Universum retten?" fragte Roland.

"Liz Taylor ist zu alt. Die Zielgruppe geht bis vierzig."

Ich stellte mir vor, daß man statt Gelächter auch ein weinendes Publikum einblenden könnte. Aber mit traurigen Menschen ist es wie mit Königen. Wenn zu viele davon an einem Ort sind, verliert sich die Majestät.

AM TAG ARBEITETE ICH, die Nächte verbrachte ich auf einem Stuhl an Tante Nellys Bett. Ich las den Großen Gatsby nochmal, vielleicht hatte ich etwas übersehen. Ab und zu kam Stella. Wir lehnten aneinander wie Spielkarten. "Dinge, für die es keine Lösung gibt", sagte sie einmal, "sind keine Probleme".

In einer Nacht im Oktober träumte mir. Strahlungsarm und Schwenkarm. Einzelgängerische Mikrowelle, Mikrowellenherde. Weshalb gibt es keine Noteingänge? Eine Schwester weckte mich, der junge Arzt stand neben dem Bett. Tante Nelly war tot.

DAS KREMATORIUM WAR eine Halle aus hellem, sauberem Beton, in der zwei Verbrennungsöfen standen. Sie waren rosa, und vor einem lag auf dem Boden der Sarg mit Tante Nellys Leichnam. Dann sah ich die gelben, kräftigen Flammen im Inneren des Ofens, und dann erschrak ich, als sich in einer insektenhaft schnellen Bewegung unter dem Sarg zwei Schienen aus dem Betonboden hoben und ihn in den Ofen hievten. Nach kurzer Zeit roch ich den warmen Duft von brennendem Holz; eine letzte Nähe.

In den Tagen darauf war auch die Arbeit zu Ende, dann kam das Geld, und ich überwies es an Stella. Ich ging zu ihr nach Hause, und ihre Katze schmiegte sich mir in den Handteller, daß ich lachen mußte vor Freude.

DANN WAR HENRI zurück; die Pyramiden hatten ihr Geheimnis gewahrt. Wir gingen in die vielen Möglichkeiten eines Abends. Gezeiten der Unruhe schwemmten, wie uns, Gäste in ein Restaurant oder trugen sie fort. An der Decke des Restaurants spielten die blauen Reflexionen von Uhrgläsern und Schmuckstücken.

Wir wollten Wasser.

"Club Soda", fragte der Kellner.

"Klappsoda", sagte Henri.

"Sofa Water", sagte ich.

Eins zu eins, und wir waren beide zu faul, zu gewinnen. In den Schatten der Stielgläser mit dem Wasser leuchteten fein geschwungene Brechungen auf dem weißen Tischtuch, Libellenflügel aus Licht. Zum Essen lag Silberbesteck mit englischen Suppenlöffeln auf. Dann aß ich das erste Mal Maniok. Es schmeckt auf angenehme Art nach nichts, nicht so weich nach nichts wie Mozzarella.

Für die Einladung zum Essen versuchte ich mich mit einem Trick bei Henri zu bedanken und sagte, wie bemerkenswert ich es gefunden hatte, als mir neulich jemand erzählte, daß die alten Ägypter Angst davor gehabt hätten, jemand könne ihnen ins linke Ohr ejakulieren, weil es der Durchgang für die Seele sei, und Henri machte mich erfreut darauf aufmerksam, daß tatsächlich er das gewesen sei.

Dann sagte er, daß Stella das Geld von mir Schwetz gegeben habe und daß sie früher mit ihm zusammen gewesen sei.

Der Stein rollte mit dumpfen Aufschlägen abwärts, bis er ungefähr dort zu liegen kam, wo der Mann am Fuß des Gerüsts ihn aufgenommen hatte:

"Das wußte ich nicht", sagte ich.

"Tut mir leid", sagte Henri. "Wußte ich nicht, daß du das nicht weißt."

Man muß manchmal trinken, um das Nichttrinken nicht überhandnehmen zu lassen. So tranken wir, Brände.

Ich nahm ein Taxi nach Hause. Der Fahrer war aus Bosnien, er war Rechtsanwalt in Tusla gewesen. Als er nach acht Monaten Krieg der Kinder und seiner Frau wegen geflohen war, hatte er seine Bibliothek zurücklassen müssen.

"Es ist nicht so schlimm, daß die Kanzlei weg ist und das Haus", sagte er. "Aber mit meiner Bibliothek habe ich alles verloren." Eintausenddreihundertundsiebenundzwanzig Bücher, viele noch von seinem Vater und Großvater, jedes gelesen.

"Aber wir leben", sagte er freundlich.

So fuhren wir. Es war die letzte milde Nacht in diesem Jahr, und wir fuhren mit offenem Schiebedach, und es war nicht nur, als würden wir mit einem Auto über die Erde fahren, sondern mit der Erde wie mit einem Cabrio durch die Unendlichkeit, das Zarte und Offene der Atmosphäre über uns, und unser Haar wehte hinaus in die kalte Weite des Weltraums.

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