Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Frankfurter allgemeine Zeitung
26.08.2002
Die große Lord-Chandos-Roßkur

Vier Schritte zur Bekämpfung der Blockade / Von Georg Klein


Der Brief, den Hugo von Hofmannsthal vor hundert Jahren den jungen Lord Chandos schreiben ließ, ist eines der zentralen Dokumente der Moderne. Er beschreibt eine Erfahrung, die uns nach wie vor vertraut ist: Die Welt zerfällt in Fragmente, und auch Sprache und Dichtung können sie nicht mehr zu einer Einheit fügen. Wir haben Schriftsteller gebeten, Chandos zu antworten. Entstanden sind dabei vielfältige Reflexionen über die Leere hinter den Worten und die Angst des Dichters vor dem Verstummen. Heute schreibt Georg Klein an Lord Chandos. Der Ingeborg-Bachmann-Preisträger, geboren 1953 in Augsburg, wurde bekannt mit seinen Romanen "Libidissi" und "Barbar Rosa". In diesen Tagen erscheint der Erzählungsband "Von den Deutschen".

F.A.Z. Wer heutzutage mit dem Verfertigen von Literatur beschäftigt ist, kennt zwangsläufig andere, die auch schreiben. Und jeder, der sich dabei plagen muß, weiß, daß sich vielerorts viele wie er von Zeile zu Zeile quälen. Selbst der, der restlos paralysiert vor der Tastatur seines PC sitzt, kann davon ausgehen, daß bundes- und weltweit ähnlich Leidgeprüfte zuletzt an der Sprache selbst verzweifeln und gleich ihm ein Königreich für ein Patentrezept gegen ihre Schreibblockaden gäben.

Nun, ich kenne eines! Zumindest für jeden betroffenen Geschlechtsgenossen unter den so Gelähmten habe ich das gesuchte Wundermittel parat.

Lieber Kollege,

falls Du, von subtilen Skrupeln geschüttelt, wirklich nicht mehr weißt, aus welchem Finger Du Dir einen weiteren Roman oder auch nur den Mut für seine erste Zeile saugen sollst, es kann Dir durchaus geholfen werden. Du mußt Dich nur meiner Lord-Chandos-Kur unterwerfen, die allerdings, ich sage es frei heraus, eine rechte Roßkur ist. Aber wenn Du willst, daß Dein Pegasus wieder fliegt, solltest Du, Poesie hin, Poesie her, ausnahmsweise einmal nicht so empfindlich, nicht so schrecklich professionell empfindsam sein.

Erster Schritt der Lord-Chandos-Kur:

Besorg Dir den sogenannten Chandos-Brief, die Erzählung "Ein Brief" von Hugo von Hofmannsthal. Ich rate zum Internet, auf der Website der Mauthner-Gesellschaft findest Du ihn, isoliert von anderen Texten des Meisters, zum Gratis-Herunterladen. Druck ihn in einer gut lesbaren Schrift aus! Schneide den Kopf des ersten Blattes mit dem Porträt Hofmannsthals ab, und vernichte den Schnipsel zusammen mit dem wahrscheinlich versehentlich mit ausgedruckten Nachwort!

Zweiter Schritt der Lord-Chandos-Kur:

Verwandele Deine Dichterklause für 12 Stunden in eine Chandos-Kur-Zelle, indem Du die üblichen Schlupfwege aus dem Schreiben unbegehbar machst: Trenne Deinen PC, das Telefon und das Fax von der ISDN-Buchse, mach desgleichen Fernseher, Musikanlage und Spielkonsole unbenutzbar! Schaff alle Druckwerke, Text wie Bild, aus dem Raum! Nur der Chandos-Brief in der oben beschriebenen Form darf bleiben. Beseitige ebenso alle Drogen, mit deren Hilfe Du bislang Dein Werk beziehungsweise dessen Vermeidung befördert hast! Keinen Kaffee, kein Bier, keinen Wein, keine Zigaretten, keine Schokolade, keinen Nasenpuder! Für 12 Stunden müssen Dir Wasser, trocken Brot und der Chandos-Brief genügen.

Deine Lebensgefährtin, deren Fürsorge Du bisher dazu mißbraucht hast, das ewige Sorgenkind, Deine Schreibkrise, zu hätscheln und zu päppeln, kann sich nun um deren radikale Beseitigung verdient machen. Sie soll die Tür Deiner Kur-Zelle für besagte 12 Stunden von außen verschlossen halten.

Dritter Schritt der Lord-Chandos-Kur:

Beginn damit, Dir Chandos vorzulesen! Du darfst schreien, murmeln, flüstern. Du kannst Wörter verschlucken oder vernuscheln, Du darfst sämtliche Sätze verkehrt betonen. Zerleiere meinetwegen jeden Zusammenhang, oder stoß, wenn Dir eher nach Stimmung ist, ins pathetische Horn wie bei den Salzburger Festspielen! Die Vortragsweise ist, um es alpenländisch grob zu sagen, Wurscht. Das einzige, aber absolut unumgehbare Gebot heißt: Lies Dir den Text laut vor, bring Dir den Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals selbst zu Gehör!

Sei unbesorgt, der Kerl war wie Du vom Fach. Es erwartet Dich Prosa erster Güte, raffiniertes Räsonnement, ein Stil, der jagdhundscharf anschlägt, um schon im nächsten Halbsatz so seidenzart zu zerrascheln wie der Schlafrock eines Lords. Nichts eignet sich besser zum Hadern mit der Sprache als eine Sprache, die so possierlich die Fäustchen zu ballen und dann gleich wieder graziös den kleinen Finger abzuspreizen weiß. Vermutlich wirst Du zunächst begeistert sein und Dir den Chandos-Brief, wie es die Kur verlangt, nach einem kurzen Räuspern und einem Schluck Mineralwasser, nun mit entspanntem Vergnügen, ein zweites Mal zu Gehör bringen. Vielleicht findest Du sogar Gefallen an der eigenen Vortragskunst und bedauerst, daß Dir hier, im Abseits der Kur-Zelle, niemand zuhören kann.

Im Lauf der Stunden, nach dem ersten, spätestens nach dem zweiten Dutzend Deiner Vortragsrunden, wird sich allerdings Heiserkeit einstellen. Auch mit Schluckbeschwerden oder, was noch schlimmer ist, mit einem kurztaktigen Schluckauf mußt Du rechnen. Etwa zeitgleich bilden sich in der Regel die Überzeugung, einen solchen Brief eigentlich viel besser schreiben zu können, und eine tiefe Verärgerung darüber, daß einem ausgerechnet dieser schnöselige Hofmannsthal damit zuvorgekommen ist. Langsam erweist sich die Chandos-Kur als Ochsenkur. Und keinem, der sich ihr bedingungslos unterwirft, bleibt die brachialste Beschwernis, ein mörderischer Brechreiz, erspart. Halte deshalb für die Abschlußphase einen Eimer oder eine feuchtigkeitsfeste Tüte bereit!

Vierter und letzter Schritt der Lord-Chandos-Kur:

Du hast zwölf einsame Stunden durchgestanden. Dafür gebührt Dir mein halber kollegialer Respekt! Und auch die zweite Hälfte meiner Anerkennung kommt Dir zu, wenn Du nun die noch fehlenden Schritte in ein neues Autoren-Dasein tust: Verschling den Chandos-Brief! Dein gereizter Gaumen, Dein sensibilisiertes Rachenzäpfchen, Dein trockener Schlund mögen Einspruch erheben. Das verfluchte Ding - längst haßt Du Hofmannsthal und alle seine Werke! - muß hinunter! Ist auch dies vollbracht, begibst Du Dich unverzüglich an Dein Schreibgerät.

Aber Vorsicht! Eine allerletzte Gefahr droht! Jetzt, wo Dir jede Art von Chandos-Brief, aus welcher Feder auch immer, ein Greuel geworden ist, jetzt mußt Du gegen eine besondere Versuchung gefeit sein. Schreib, was Du willst, einen neuen Roman, Deine Autobiographie, einen Sonettenkranz, ein Versepos, meinetwegen auch ein Pamphlet gegen Deinen arroganten Kollegen G. K., aber verfasse jetzt um Gottes willen keinen Anti-Chandos-Brief! Der elitäre Sprachzweifel, dieser alberne und kokette Geck, ist, sobald man ihn aus dem Fenster geworfen hat, doch immer schlau und kaltblütig genug, um einem durch die Hintertür wieder ins Haus zu schlüpfen.

Versteh mich nicht falsch, endgültig loswerden wirst Du diesen Dandy wahrscheinlich nie. Denn leider Gottes gehört er in unauflösbarer Blutsverwandtschaft zu der Sippe, die da kollektiv in Dir schreibt. Wie einen mißratenen Cousin, der sich regelmäßig in den Vordergrund spielt, um, halb miesepetrig-verstockt, halb wehleidig-geschwätzig, den anderen manch froh begonnenes Fest zu verderben, kann man ihn nicht aus der Familienrunde verbannen.

Soll er doch in Zukunft im Hintergrund jammern. Schenk ihm gelegentlich einen mitfühlenden Blick und ein Schulterklopfen, aber gib ihm nicht einmal den kleinen Finger Deiner Schreibhand, und laß Dich nie mehr auf ein Tänzchen mit ihm ein! Heutzutage kann sich die Literatur diese Pirouetten, die Endlosschleifen des Sprachzweifels, nicht mehr leisten. Der noble Anspruch, den Zeitgenossen in diesem Tonfall etwas vorzudenken, ist in den medialen Stürmen des letzten Jahrhunderts zum Dünkel einer überprivilegierten Kulturkaste verkommen.

Die Kur ist zu Ende. Sei kein Lord! Schreib!

Nachtrag/Haftung:

In seltenen Fällen kann die Lord-Chandos-Kur versagen. Wenn dies nachweisbar der Fall war, übernimmt der Verfasser der vorliegenden Zeilen die entstandenen Kurkosten, allerdings nur bis zur Höhe des Kaufpreises dieser Tageszeitung.

Bevor Du jedoch solche Ansprüche geltend machst, bedenk bitte folgendes: Auch in dem Fall, wo die Kur keine neue Autorschaft zu schenken vermag, kann sie zumindest zu der schlichten Erkenntnis verhelfen, daß ein Autor-Sein sein natürliches Ende erreicht hat. Nirgends steht geschrieben, daß einer sein Leben lang Schriftsteller bleiben muß.

Das könnte ein Grund zur Freude sein! Abseits des Schreibens steht einem eine ganze Welt offen: Hofmannsthal-Rezitator, Roß- oder Jagdhundzüchter, Schlafrockdesigner! Dies wären nur vier willkürlich herausgegriffene Beispiele aus der Fülle der ehrenwerten Betätigungen, die Du und ich gegebenenfalls ins Auge fassen sollten. Ja, sogar so etwas Ähnliches wie Lords könnten wir beide noch werden, wenn uns wortgewandt und zäh, wie wir als ehemalige Autoren immer noch wären, die Einheirat in ein Adelshaus glückte!


von @hc


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