Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Kölner Stadt Anzeiger
21.07.2002

Nur Langeweile ist nicht erlaubt

Dürrenmatt, Süskind, Schlink, Loriot - Bei den Bestseller-Listen steht das Zürcher Unternehmen unangefochten auf Platz Eins.

Ein literarischer Verlag wird häufig metaphorisch als ein Haus verstanden, das allerlei Autoren Dach und Heimstatt bietet. Wer ist, in solchem Licht betrachtet, nicht alles im Diogenes Verlag zu Hause - von Dürrenmatt bis Simenon, von Patrick Süskinds Parfumeur Grenouille bis zum „Vorleser“ von Bernhard Schlink, Janosch, Tomi Ungerer und Loriot nicht zu vergessen. Dass der Namensgeber dem Vernehmen nach in einer Tonne hauste, wird dabei oftmals übersehen. Doch in seiner Frühzeit als Verleger wohnte Daniel Keel, Gründer und Patron des Zürcher Verlags, zur Untermiete, und die Manuskripte der Autoren, die bei ihm nach Dach und Heimstatt fragten, verwahrte er in einem Pappkarton unter dem Bett.

50 Jahre später ist Keels Unter- nehmen, zu dem zwei Jahre nach der Gründung ein Schulfreund des Ver- legers stieß, Rudolf C. Bettschart, bis heute zuständig für die Finanzen, der größte belletristische Verlag Europas, ein mittelständisches Unternehmen mit sechzig Mitarbeitern in der Zürcher Innenstadt, bei einem Jahresumsatz von zuletzt 39 Millionen Euro finanziell gesund, in einem Umfeld wachsender Konzentration noch immer ein Familienbetrieb.

Anders ausgedrückt: Der etwas andere Verlag, beliebt beim Publikum, und deshalb so beliebt beim Handel. Denn auch bei den Bestseller-Autoren steht Diogenes unangefochten auf Platz eins. Das wäre Grund genug für Pomp und Circumstances auf den entsprechenden Messen. Keel gab das Geld stattdessen für ferne Kinderhilfswerke her und feiert lieber eine Jahreshälfte lang reihum im kleinen Kreis mit Buchhändlern, Autoren, Mitarbeitern.

So auch im Kölner Schokoladenmuseum am Samstagabend: Zu Häppchen und Aperitif gab es Grüße, eine 20 Jahre junge Rede Loriots, von Verleger-Stellvertreter Winfried Stephan aufgebürstet und bis in die Gegenwart verlängert, und schließlich wieder „Häppchen“, nämlich Mini-Lesungen von zehn Minuten Dauer von Hans Werner Kettenbach, Leon de Winter und Jessica Durlacher sowie dem Autorinnen-Duo Borger & Straub. Kostproben, kein Querschnitt, der für das Ganze stehen sollte: Denn dieses Ganze, 3347 bisher erschienene Titel, davon mehr als die Hälfte noch lieferbar, erstaunliche 1809 Titel von 350 Autoren - dieses Ganze steht für Daniel Keels literarische Sendung. Nur nennt das der Verleger ungern so. Er sagt stattdessen lieber: „Meine Nase“, wenn er seinen Maßstab meint.

Noch immer ist es Keel, der das Programm bestimmt, und noch immer gilt der Leitsatz von Voltaire: „Jede Art zu schreiben ist erlaubt - nur die langweilige nicht.“ Wer derart an die Leser denkt, dem sagt man leicht ein Faible für das bloß Pläsierlich-Populäre nach. In der Tat: Die Büchner-Preisträger sind - mit Dürrenmatt als Solitär - in Keels Verlagshaus dünn gesät, und von den Ingeborg-Bachmann-Laureaten ist er gar zu 99 Prozent sicher, dass sie nicht zu Diogenes passen.

Dennoch räumen die Verlagsautoren reihenweise internationale Preise ab, Leon de Winter zuletzt gar den „Weltliteraturpreis“. Und Cechov, den Diogenes-Keel als seinen

„Hausheiligen“ betrachtet mit ei- nem Ehrenplatz zwischen Montaigne und Fellini, stand zuletzt mit erstmals übersetzten Prosastücken zwei Monate lang auf der SWR-Bestenliste. Trotzdem: Drei Viertel seiner Titel, rechnet der Verleger, stecken in den roten Zahlen, das vierte Viertel sichert ihre Existenz, am zuverlässigsten als Schullektüre wie Süskinds „Parfum“, Dürrenmatts „Physiker“ und Anderschs „Sansibar“-Roman (dem Taschenbuch sei Dank, das 1971 als detebe-Biotop für die Backlist eingerichtet wurde). Vor allem das Prinzip, Autoren zu verlegen, nicht bloß Bücher, geht mächtig in die Kosten: 200 Simenons am Markt zu halten, kostet Geld, Patricia Highsmith neu zu übersetzen und edieren, „lohnt“ sich nicht.

Vor 25 Jahren, ebenfalls zum Jubiläum, wuchtete Diogenes 40 Bände Balzac in einer Bordeaux-Kiste in die Regale, wo sie schwer und lange standen. Auch wenn inzwischen alle abgesetzt sind, wollte man doch diesmal zeigen, wie die jüngeren Verlagsautoren ihre Spur gezogen haben, und so erschien die bibliophile weiße „Jubiläums-Edition“: zwölf Leinenbände in Kassette mit Titeln von Andersch und Paulo Coelho über Donna Leon und Ingrid Noll bis Szczypiorski und Urs Widmer, 100 Euro en bloc. Wie man hört, ist die Kassette so gut wie ausverkauft.

VON MICHAEL BENGEL


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