Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Leipziger Volkszeitung
01.07.2002

Literatur muss zeigen, was sie uns sagen will

Die hinreißende Birgit Vanderbeke trägt gern Rot und argumentiert, wie sie schreibt: in spröder Sinnlichkeit, detailversessen, mit ausgesuchtem Eigensinn, nur notfalls akademisch. Das (unter anderem) lernte, wer sich die 26. Klagenfurter Literaturtage zumutete. Zum Beispiel über 18 (!) Stunden TV-Live-Übertragung. Dank 3sat ein Ausflug in eine Art Paralleluniversum; zumal in Fußballzeiten.


Apropos "Ausflug". Das Treffen, das mit dem Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis eine der edelsten Auszeichnungen für Autoren im deutschsprachigen Raum rahmt, hat wirklich was von Klassenfahrt, inklusive Oberseminar. Oder Klosterschule, allerdings ganz ohne fromme Harmoniesucht. Logisch, wenn 16 teilweise bereits erfolgreich publizierende Schriftsteller(innen) gegeneinander antreten, in aller Öffentlichkeit. Gleich den sieben Juroren, die, wie Birgit Vanderbeke und Burghard Spinnen, auch als ewig charmant dozierende Lehrkraft vomLeipziger Literaturinstitut bekannt, oder dem wunderbaren Österreicher Robert Schindel, selbst Texte produzieren, beziehungsweise als Redakteure und Kritiker vom Umgang mit Geschriebenem existieren.


Das Verfahren selbst ist unspektakulär, aber hoch spannend. Jedenfalls für Leute, die Sinn für die Überlebensübung Entschleunigung besitzen. Spielort ist ein in mehr oder minder kühle Blautöne getauchter Theatersaal, vorn residiert an einem Y-förmigen Tisch die Jury. Quasi umzingelt, dort, wo sich der Weg gabelt, findet der jeweilige Vorleser seinen Platz. Er hat eine halbe Stunde: wenig oder sehr viel, wie man will. Jedenfalls die Frist, in der die Kandidaten den Versuch wagen, von der Schönheit, Originalität, Sprachkraft, vom Witz oder von der Melancholie ihrer Story zu überzeugen. Ab und an ein Schluck Wasser, wenn die Stimme zu belegt ist, das ist alles.


Und es steht einiges auf dem Spiel. Nicht nur stolze 21 800 Euro. Vor allem Renommee: Und mit dem Signet "Ingeborg-Bachmann-Preisträger 2002" darf sich der aus Graz stammende Großstadtromantiker Peter Glaser seit Sonntag schmücken. Der als Internet-Journalist bekannte Wahlberliner siegt per Stichwahl und mit seiner leise und tapfer klagenden "Geschichte über das Nichts", die in Kairo beginnt, Meere kreuzt, Liebe in Leerzeichen ausdrückt, Bilder für ratlose Trauer findet. Und den 11. September wie den Nahen Osten weder auslässt, noch mit politisch korrektem Pathos zukleistert.


Die Jury, der ansonsten einige Verzweiflung anzumerken ist - angesichts der lähmenden Mittelmäßigkeit vieler Texte -, gerät bei Glaser beinahe ins Jubeln. Gemessen natürlich, denn literarische Exekution hat bei allem Verreißen und Bezweifeln, Nachfragen, Erklären und Bestehen mit gezügelten Emotionen zu tun. Während die Autoren bleich auf die Verkündung des penibel diskutierten Urteils warten, geht es um Fiktion und Realität, darum, dass Literatur zeigen muss, was sie uns sagen will, um die Kraft der Sprache, in der Poesie sich abmüht, um die sich verändernden Menschen in einer sich verändernden Welt - die (abgesehen von allem anderen) Gegenstand von Dichtung sind und bleiben. Oder um die Frage, ob gute Autoren beim Schreiben auf den Markt schielen dürfen oder Karrieredenken in poetischen Zusammenhängen schlicht verwerflich sei. Schließlich: Warum Pop-Helden wie Benjamin von Stuckrad-Barre eher nicht nach Klagenfurt geladen werden.


Denn auch die neben Glaser favorisierte Anette Pehnt (die dann immerhin den Jury-Preis und 10.000 Euro heim nach Süddeutschland bringt), bedient brav das Klischee einer ernst zu nehmenden Autorin. Ihre Fantasie indes ist alles andere denn brav, vielmehr aufmüpfig sezierend, respektlos, böse. Folglich auch ihr utopiefähiger Entwurf einer Insel, auf der alles anders ist, ein Ort für begabte Kinder und einer, wo noch Frauen über 50 blühen wie Flieder im Mai ...


Globalisierung des Geistes, also auch der Literaturen - etwas, das sich wie ein Roter Faden durch die vier Klagenfurt-Tage zieht. Auf den Spuren von Ingeborg Bachmann, deren Dichtung und Vita grenzenlos waren. Und im Jahr 2002, da die 90er schon sehr von fern grüßen und die Zukunft Alltag wird. Samt Attacken. Auch als Chance, über die nachzudenken, zu reden lohnt. So gesehen sind 18 Fernseh-Stunden weiß Gott nicht zu lang.

Gisela Hoyer


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