Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Märkische Allgemeine, Potsdam
5. April 2002

Michael Lentz' physische Poesie

Sprache, nicht glatt gebügelt

STEFFEN RICHTER

Manchmal erfüllen Literaturpreise einen wirklich guten Zweck. Dann nämlich, wenn ein Schriftsteller seiner Arbeit in einer Weise nachgeht, dass sie sich am Ladentisch niemals in klingende Münze verwandeln lässt. Michael Lentz ist so einer. Auf hohem Niveau schreibt er meilenweit an einem literarischen Markt vorbei, der nach flott fabulierten und erfahrungsgesättigten Geschichten dürstet. So etwas gehört gefördert. Das dachte sich auch die Jury, als sie Lentz im letzten Jahr den Bachmann-Preis verlieh.

Nun liegt mit dem Band "Muttersterben" eine Sammlung vor, die neben dem Klagenfurter Siegertext noch zwei Dutzend andere Arbeiten enthält. Von Geschichten kann nur selten die Rede sein. Denn eine Geschichte müsste von etwas handeln, "ein unternehmen so ganz mit entfaltung entwicklung oder vergangenheit wie es so schön heißt". Lentz traut dieser biederen Vorstellung nicht. Ob er aus Rom, Berlin oder dem Flugzeug berichtet, stets gehen seine Sätze ihre eigenen Wege.

Das innere Stimmengewirr überträgt er kalkuliert aufs Papier - eine Form äußerst kontrollierter Anarchie. Oft schert er sich einen Teufel um Punkt und Komma. Man sollte diese Texte laut vor sich hin lesen, um in ihren Sound einzutauchen. Seine eigene Form des Vortrags nennt Lentz "physische Poesie". Nicht zufällig wird zugleich mit dem Buch das Hörbuch ausgeliefert.

Obwohl er nur zu genau weiß, dass sie allesamt verbraucht sind, nimmt Lentz die Wörter ernst und versucht zu ergründen, wozu sie dennoch taugen. "Ihm komme es aber so vor", heißt es einmal, "als seien die von ihm gebrauchten wörter seine eigenen als habe er diese wörter soeben erst erfunden". Zugegeben, das ist oft sperrig und ein runder Sinn will sich nicht einstellen.

Man kann nun mäkeln, die Kategorie der Provokation gehöre einer anderen Zeitrechnung an. Man kann zu bedenken geben, dass Sinnzertrümmerung häufig an ein antibürgerlich-ideologisches Projekt gebunden war, das längst obsolet geworden ist. Man würde übersehen, dass Lentz' programmatisches "Es sehnt mich nach unverständlichem" in vielen der Texte einen ganz konkreten Kern besitzt. Seine Sätze kreisen mit dem Furor Thomas Bernhards oder der Abgeklärtheit Samuel Becketts um die Mutter und deren Sterben. Ein Ereignis, das unbegreiflich bleibt, sich mit Sprache nicht glatt bügeln läßt. "Einer stirbt. Was tun? Man weint sich blass."

Anders als Heerscharen von Jungschriftstellern, die die Leserschaft mit mehr oder weniger rasanten oder einfältigen Romanen beglücken, verweigert der 1964 geborene Lentz der Sprache, sich die Wirklichkeit zurecht zu biegen. "Die Mutter, das fremde denken. Nie reichst du heran!" Das ist anachronistisch, aber lobenswert. Hier besitzt noch einer ein literarisches Gedächtnis und erinnert sich an Avantgarden, die es schwer hatten im Nachkriegsdeutschland.

Michael Lentz: Muttersterben. S. Fischer, 186 Seiten, 18 Euro.


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