Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Neues Deutschland
01.07.2002

Private Katastrophen
Robert Schindel steigt in Klagenfurt in den EC »Carlo Goldoni« nach Wien, Burkhard Spinnen fährt in die andere Richtung mit dem EC »Hugo von Hofmannsthal« in Richtung München. Die Bahnen geben sich literarisch. Beide Fahrgäste gehören der Jury des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis an. Von Donnerstag bis Sonnabend vergangener Woche lasen 5 Autorinnen und 11 Autoren vor den laufenden Fernsehkameras von 3sat, einem Publikum, das aus Kärntner Schulklassen sowie Fachleuten aus Verlagen und Medien bestand, – und eben der Jury. Ihr gehörten vier Deutsche, zwei Österreicher und zwei Schweizer an.
Die Schiedsrichterkrise beschäftigte nicht nur die Fußball-WM, sie beschädigte auch die Literatur in Klagenfurt. Allerdings war nicht mangelnde Qualifikation der Jury-Mitglieder, sondern ihr konkurrierender Kampf um Medienpräsenz das Problem. In einer Zeit, in der Kritikermord literarisch möglich wird, findet die Selbstdarstellung leider nicht in eleganten Wortgefechten statt, sondern im Abwürgen des Kollegen, im Niedermachen seiner Vorschläge und Argumente. Dabei bildet die Lesebühne den Paukboden.
Die Literatur ist bei den Attacken gar nicht gemeint, erleidet aber gewissermaßen Kollateralschäden. So jedenfalls fing es am Donnerstag an. Die Tage der deutschsprachigen Literatur sind in die Jahre gekommen, sie sind wetterfühlig.
Nach dem großen Regen am Freitag wurde alles besser. Trotzdem: das Alter nimmt zu! Sechs der jeweils von einem Juror geladenen Autoren sind mehr als doppelt so alt wie die Jüngste: Das war die am Literaturinstitut Leipzig studierende Melanie Arns, die mit ihren 22 Jahren eine mutige, nur vordergründig freche, leicht kokette Denunziation einer Familie vorlegte. »Die Geburt eines großen Talents«, befand der Schweizer Juror Thomas Widmer.
»Mittwochs Sex: Vater pfeift, Mutter springt, er stöhnt, ich kotze. Donnerstags: Mutters Predigt. Tu was ... wir haben es auch nicht leicht. Mein Bruder ist tot. Ich habe aufgehört, meine Mutter zu schlagen.«
Fast kein politischer Text »stört« in diesem Jahr. Auch Haiders Anhänger sind in der Hauptstadt des österreichischen Rechts-Populismus nicht sichtbar. Ein trügerischer Frieden liegt über Stadt und Wettbewerb, die beide mit dem Namen Ingeborg Bachmanns verbunden sind. Private Katastrophen beherrschen die Texte, ewige Themen wie Geburt und Tod, Krankheit, Liebe und Selbstmord, Familie und Einsamkeit.
Aus diesem Rahmen fiel der Gewinner des mit 21 800 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preises. »Geschichte von nichts« heißt der Text des in Graz geborenen Neuberliners Peter Glaser. Es handelt sich um eine in Kairo und Hamburg spielende Erzählung. Der Autor begegnet dem 11. September »ohne all die Unerträglichkeiten«, so der Juror Burkhard Spinnen. Geschichte wird hier im Weltmaßstab wahrgenommen – auf eine so einleuchtende Weise, wie es wohl erst mit der mit der Globalisierung möglich wird. Peter Glaser erzählt eine schöne, doppelt geführte Sisyphusgeschichte. Dem diesjährigen »Verwandtensterben in Klagenfurt« – die Wiener Jurorin Konstanze Fliedl hatte diesen Wettbewerbs-Jahrgang treffend so benannt – erliegt hier Tante Nelly. »Wahid hatte in Erfahrung gebracht, dass Tante Nelly mit dem alten Wohnwagen abgereist war. Die vierundachtzigjährige Tante hatte keinen Führerschein und kein Auto.« Der ernsthafte Text ist gut aufgelockert: »Henri schaute in die Wüste. Soviel Strand und kein Meer sagte er. Eine österreichische Reisegruppe ging vorbei, und jemand fragte mich etwas. Ich sagte in sehr schlechtem Englisch, es täte mir leid, ich sei Finne und mit sei nicht kalt genug.«
Man kann auch Keltologie studieren und gute Literatur schreiben. Das bewies Anette Pehnt, die den mit 10000 Euro dotierten Preis der Jury erhielt. »Diese Tante hat dort drei oder vier Liebhaber und blüht wie ein Flieder im Mai, ein kleines altes Persönchen doch eigentlich, aber ich sag dir, die soll Haare bis auf den Hintern haben und Brüste zum Reinbeißen, und abends kommen ihre Liebhaber, manchmal einer oder zwei, manchmal alle zusammen, die feiern die Nacht durch, und die Tante ist nicht die einzige auf der Insel, die es sich gutgehen läßt.« So verheißungsvoll stimmt uns die Autorin in ihrem Text »Insel vierunddreißig« auf einen ganzen Roman über diese Insel ein. Anette Pehnt, 1967 in Köln geboren, lebt heute mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Freiburg im Breisgau. Ihr Roman »Ich muß los« ist im vergangenen Jahr im Piper Verlag erschienen und ihre nächster, aus dem sie Klagenfurt gelesen hat, verspricht, ein wundervolles Buch zu werden. Sie hat es klug gemacht. Sie las den Anfang ihres neuen Romans. »Der Anfang ist der Vater des Ausschnitts« – diesen Tipp gab die Jury künftigen Teilnehmern, hatte sie doch an diesen Tagen nicht selten Bruchstücken zu tun, die ohne Zugriff auf das Ganze unverständlich bleiben mussten. Anette Pehnt vereint das Jugendliche – Juror Denis Scheck (Deutschlandfunk) sprach von einem zuweilen etwas backfischhaften Ton – mit eine großer Ökonomie der eingesetzten sprachlichen Mittel. Kein Wort zu viel und damit gelingt alles zugleich: Das Stück vom begabten Kind, eine souveräne Vater-Tochter-Geschichte, eine Insel, die alles sein kann, die ganz ungewohnte Entstehung einer Leidenschaft.
Den dritten Preis erhielt der Tegernseer Mirko Bonné für »Auszeit«. Er erzählt von der Normalität, mit der Mutter und Bruder auf einen sich schon zum fünften Mal wiederholenden pathologischen Schub von Jenny reagieren und zugleich die Geschichte ihres Zwillingsbruders Rainer, die sich wie nebenbei nachdrücklich einprägt. Sympathisch unprätentiös geht der Autor sprachlich kein Risiko ein. Seine Wortökonomie beeindruckt. »Jenny lehnte sich ans Fenster. Eine näher kommende Sirene war zu hören, ein paar Augenblicke später kam das Blaulicht herauf und fiel ins Zimmer. ›Da werde ich gerade eingeliefert‹, sagte sie und drehte sich um in ihrem weißen Mireille-Darc-Mantel. Der Zustand war zu Ende.«
Als letzter las Raphael Urweider aus der Schweiz. Für »Steine« erhielt er den 3sat-Preis. Er gleicht in diesem Text Lebenszusammenhänge eines Ich-Erzählers mit dem Mineralreich ab. Die Hauptperson ist an einem Gehirntumor erkrankt. Lassen wir uns auf den Sound dieses Textes auf hohem sprachlichem Niveau ein, hören wir ein Requiem. Wir sehen pointilistisch gemalte Steine, erkennen die Metapher, lesen die Mineralogie geradezu homöopathisch. Hier nur ein Zitat, mit dem der Autor seine Werkstatttür ein wenig öffnet: »Steine mit geografien verbinden, mit miterlebten wetterlagen und lichteinfällen: kühles frühmorgenlicht wie rosenquarz in granitgegenden, pechblende schwärzester gewitternächte, milchquarz nördlicher strände an ostküsten, wenn es wärmer wird.«
Zum ersten Mal wurde ein Publikumspreis vergeben. Die Fernsehzuschauer konnten im Internet abstimmen. Sie waren für Christoph W. Bauer aus Innsbruck. »Ich geh dann, stummt sie, Rascheln schlägt ihr entgegen, der FC hat verloren, das weiß er doch längst, hat er doch morgens schon gelesen und ihr, ein Spiel bleibt uns ja noch, anstelle eines Guten Morgen ins Ohr kredenzt ...«, so liest sich der Auszug »Auf. Stummen« aus der gleichnamigen Erzählung von einer stagnierenden Ehe. Es ist eine konventionelle Geschichte, die, in Bildern erzählt, fast ohne Handlung aber auch ohne Klischee auskommt.
Daneben gab es noch eine Reihe überdurchschnittlicher Arbeiten und keine wirklichen Ausfälle. Die Jury schafft es also auch ohne Harmonie – aber vielleicht nicht immer!

 


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