Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Online-Meldungen
27.07.2002

Kein Zuhause mehr

Mit der Zeitungskrise scheint auch das Ende der journalistischen Popstars gekommen

Als die Zeitschrift "Tempo" im April 1996 eingestellt wurde, schrieb ein Leser an die Redaktion: "Wo wohnt Gott jetzt?" Wahrscheinlich hat ihm keiner der damals frisch entlassenen "Tempo"-Redakteure zurückgeschrieben. Dabei war die Antwort klar: Gott wohnte nun bei "jetzt", dem Jugendmagazin der "Süddeutschen Zeitung." Hätte, als der Süddeutsche Verlag vor kurzem "jetzt" einstellte, ein Leser gefragt, wohin dieser Gott denn nun gezogen sei, wäre die Antwort nicht mehr so leicht gefallen: Gott hat womöglich kein Zuhause mehr.
Und mit ihm viele junge Journalisten. Kurz vor "jetzt" wurden die "Berliner Seiten" der "FAZ" eingestellt, davor "Spiegel Reporter" und "Konrad" - alles, wie man in der Pressewelt sagt, Formate, die einem ähnlichen Stil folgten. Ist eine Journalistengeneration gescheitert?

Nicht, dass "Tempo" (und auch nicht ihm folgenden Magazine wie "jetzt") religiös war, auch wenn viele der "Tempo"-Autoren Gott und den Teufel sehr gerne in ihren Texten auftreten ließen. Grund für die Frage nach Gott war, dass "Tempo" für einen Journalismus stand, den es in dieser Form in Deutschland nicht so oft gab. Die Autoren wollten anders schreiben als ihre Kollegen bei den großen Magazinen, beim "Spiegel" oder beim "Stern".

Aus der "Ich"-Perspektive

Sie wollten einen neuartigen Stil finden. Sie schrieben zumeist aus der Ich-Perspektive; sie benutzten klares, einfaches Deutsch, kein Satz sollte eine Formulierung aufgreifen, die es schon einmal gab, denn die Autoren hatten Leidenschaft und Fantasie, auch in der Themenwahl. Sie schrieben über den Cheeseburger so wie über Rudolf Scharping und über Kassetten, die sie für ein Mädchen aufgenommen hatten. Ihre Texte strahlten etwas aus, das die Theologie und offenbar auch jener fragende Leser mit Gott in Verbindung bringen: Seele.

Als ob es um die Übernahme einer Stafette ginge, zeigte "jetzt" auf einer Doppelseite im verkleinerten Format die letzte, nicht mehr erschienene "Tempo"-Ausgabe und setzte in seinen Texten fort, was die "Tempo"-Autoren begonnen hatten. Das waren Geschichten, die sich im weitesten Sinn mit Pop- und Jugendkultur beschäftigten, geschrieben aus einer subjektiven Sicht und in bewusster Ablehnung der altherrenhaften Launigkeit, die sich in bemühten Wortspielen, abgedroschenen Redewendungen, hundertmal gelesen Metaphern und Synonymen gefällt.

Die Alten wurden nervös

Man könnte diesen so entstandenen Journalismus auf Englisch "new journalism" nennen, nach dem amerikanischen Autor Tom Wolfe. Der benutzte schon in den 60er-Jahren das Wort "ich", ein Wort, das in der deutschen Presse so verboten war, dass einer Anekdote nach noch in den 80er-Jahren ein "Spiegel"-Ressortleiter drohte: "Wenn ich hier im Blatt das erste mal einen Text aus der ,Ich-Perspektive’ lese, erschieße zuerst den Autor und dann mich selbst." In Deutschland setzte sich der neue Stil nur langsam durch: Im New-Wave-Journalismus der frühen 80er, der "Tempo" geprägt hat und alle Blätter, die nach ihm kamen.

Erst Mitte der 90er-Jahre hatten auch "Spiegel" und "Stern" gemerkt, dass sie nicht ewig die gleichen Formulierungen recyclen konnten. Die Hochburgen des guten, alten Stils begannen zu wanken. Plötzlich stand der neue Journalismus im Zenit, die jungen Schreiber brauchten nicht zu warten, bis sie die Starautoren von morgen genannt werden würden, sie waren mit einem Schlag die Starautoren von heute geworden, so dass die alten Starautoren, die es gerne noch ein paar Jahre geblieben wären, recht nervös wurden. "Jeder Text von einem Autor wie Moritz von Uslar war eine massive Bedrohung für das traditionelle Kisch-Preis-Gefloskel", sagt Christian Seidl, der damals beim "Stern" war und zuletzt einer der "jetzt"-Redaktionsleiter. Seidl dachte damals: "Der Mainstream ist unterwandert." Christian Kracht schrieb im "Spiegel" große Kulturreportagen in denen sein Name schon im Vorspann auftauchte, darauf mussten andere "Spiegel"-Redakteure Jahre hinarbeiten; andere waren beim "Stern", bei der "Zeit", das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" wurde fast komplett von Autoren gemacht, die viel näher am Pop waren als an Joachim Kaiser.

Dann kam Tom Kummer. Von ihm geführte Interviews, die das "SZ-Magazin" der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichte, waren grandios, flamboyant, crazy, die besten, die man in Deutschland lesen konnte. Aber: Kummer hatte sie sich zum gut Teil ausgedacht. "Die Zäsur", sagt Christian Seidl. "Nach Kummer bestand gegen jeden, der anders schrieb, der Generalverdacht: Borderline-Journalismus." So hieß der Begriff, mit dem Kummers Mischung aus Wahrem und Erfundenem bezeichnet wurde. Nach dem Skandal um Kummer und das "SZ-Magazin" ergriffen die Anhänger des althergebrachten Journalismus wieder das Wort, oder um es in ihrer Sprache zu sagen: Sie witterten Morgenluft.

"Kummer war der Super-GAU" sagt Peter Glaser. Er war bei "Tempo", bei "Konrad", er hat viele der jüngeren Schreiber geprägt mit seinen Kolumnen, in denen Jogurtmarken wichtig waren, in denen Werbung zur Popkultur gehörte. In diesem Jahr nun hat Glaser den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen mit der "Geschichte von Nichts", die sich im Tonfall gar nicht so sehr unterschied von Glasers früheren Kolumnen und von den Texten, die junge Journalisten für Zeitschriften geschrieben haben. Auch die waren immer auf eine Art literarisch. Sollten sie lieber Bücher schreiben als Zeitungsartikel? Glaser: "Vielleicht. Dieser Schreibstil sucht sich andere Plätze." Joachim Bessing, Rebecca Casati, Marc Fischer, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre - alles Journalisten, die heute Romane schreiben. Da fragt keiner, ob sich das, was im Text steht, auch genauso zugetragen hat.

Die Kummer-Krise hat der junge Journalismus angeschlagen überstanden, der zweite Schlag kam in diesem Jahr: die Wirtschaftskrise. Was wegen Kummer infrage gestellt worden war, wurde nun, da die Verlage sparen, als Erstes abgeschafft. Wahrscheinlich haben die Controller, die "jetzt" und die "Berliner Seiten" eingestellt haben, nie verstanden, warum es derartige Medien geben sollte. Christian Seidl: "Unsere Art von Journalismus galt im Betrieb immer als Risiko. Und was risikoreich ist, muss zuerst dran glauben." David Pfeifer, früher Ressortleiter beim "Stern", bei "Konrad", bei "Tempo": "Der Haltung gegenüber gab es immer ein großes Unverständnis."

So schreibt heute jeder

Die Sprache des neuen Journalismus dagegen, meint Pfeifer, habe sich durchgesetzt: "So schreibt heute jeder Kulturjournalist im Böblinger Tagblatt." Das sieht auch Peter Glaser so: "Die Art zu schreiben ist inzwischen Mainstream geworden." Ein Zeitungsgründer, der die nun arbeitslos gewordenen Autoren in einem neuen Blatt vereinigt, ist nicht in Sicht. Vielleicht könnten sie gar nicht zusammenarbeiten: zu viele Popstars in einer Redaktion. So versickern die jungen Autoren in der Presselandschaft. Viele sind desillusioniert. Dann wäre es dem neuen Journalismus ergangen, wie vielen Bewegungen, die etwas verändern wollten: Statt der Revolution haben sie eine Reform zu Wege gebracht, so klein und niedlich wie viele der Dinge, über die sie geschrieben haben.

Sebastian Hammelehle


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