Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Saarbruecker Zeitung
29.06.2002

Bis unters Dach ein wortgefülltes Haus

Gäbe es bei der Übertragung von Bundestagsdebatten eine nur annähernd so ausgeklügelte Studioregie, man würde den Reden der Damen und Herren Volksvertreter womöglich ausdauernder zu folgen wissen. In Klagenfurt orchestriert die Studioregie ihre Kameras mit solch kunstvollem Aufwand, als gelte es zu demonstrieren, dass Lesungen - und damit eine der handlungsärmsten und so gesehen langweiligsten Angelegenheiten, die man sich im Fernsehen überhaupt vorstellen kann - durchaus einen beachtlichen visuellen Spannungsbogen entwickeln können. Mit vergleichsweise sehr altmodischen Mitteln und mitunter einer geradezu rührenden Hingabe der Kameraleute. In immer neuen Anläufen lässt die Regie ihre Bildfänger um die vorne lesenden Delinquenten herumschleichen, um ihnen von hinten über die Schulter zu schauen, das motorische Wechselspiel von Kiefer und Kropf der Vortragenden zu studieren und dann wieder umzuschwenken auf das beidseits der Lesenden gruppierte Hohe Gericht: die siebenköpfige Jury. Deren Urteile sich zumeist gestisch ankündigen in einem ratlosen Kopfkratzen oder ungehaltenem Blusenzupfen, in einem versonnenen Lächeln oder erwartungsvollen Studieren der Kollegenschaft. Kurz und gut: Das Klagenfurter Lese-Tribunal ist auch abseits des eigentlich Literarischen von einigem Unterhaltungswert.

Seit es dieses Wettlesen gibt, das in diesem Jahr in seine 26. Runde geht, wird am Wörthersee (und in den Verlagen und in den Dichterklausen und in den Feuilletons) über dieses literarisch-telegene Schnellgericht lamentiert. Das im Grunde keines mehr ist, seit vor einigen Jahren die Regularien dahingehend geändert wurden, dass die Jury die vorgetragenen Texte vorab kennt. Seit jeher besteht der voyeuristische Reiz von Klagenfurt darin, dass nicht nur die Autoren und ihre Texte begutachtet werden, sondern genauso deren Kritiker. Wer nach Klagenfurt kommt, liefert sich aus. Und bisweilen wird über die Versiertheit und/oder Verblasenheit der literarischen Urteile mehr Aufhebens gemacht als über die Autoren. Was damit zu tun hat, dass die professionelle Kappelei der Kritikerzunft das Klagenfurter Weihespiel erst fürs Fernsehen interessant macht. Und daraus eine kurzweilige "Mischung aus Talkshow und Fernseh-Gericht" macht, wie es ein früherer Juror treffend ausdrückt. Klagenfurt ist, so gesehen, ein Stück weit literarische Doku-Soap. Der Reiz des Klagenfurter Modells, die Kriterien der Literaturkritik ein Stück weit transparent zu machen, jedenfalls besteht - das zeigt sich auch diesmal - fort. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil die Maßstäbe (und Vorlieben) der Juroren mitunter erheblich divergieren. Einigkeit besteht bestenfalls hinsichtlich eines Qualitätskriteriums wie der sprachlichen Präzision eines Textes. Während Fragen der erzählerischen Ökonomie oder Plausibilität sogleich Lagerkämpfe zwischen den mehr akademisch Argumentierenden und den mehr aus dem poetischen Bauch heraus Urteilenden provozieren. Wobei den schönsten Satz der Jury-Vorsitzende Robert Schindel formulierte: "Man muss nicht in alles etwas hinein geheimnissen."

Was an diesem Jahrgang bis dato auffällt - an diesem Samstag werden die letzten vier von 16 Autoren in den Wörtersee steigen -, ist wie so oft das Fehlen experimenteller Texte, die die Sprache selbst materialisieren. Vielmehr lässt sich eine ausgeprägte Neigung zu sparsam intonisierten und kompositorisch vergleichsweise traditionellen Erzählformen ausmachen - etwa bei Nina Jäckle, Lukas Bärfuß und Mirko Bonné. Am anderen Ende der Stilskala stehen solche Texte, die zu viel suchen, ihre Texte überladen und so schnell im Kunstgewerblichen und Bemühten stranden - etwa bei Markus Ramseier, Daniel Zahno und Heinz D. Heisl, dessen gelesener Romanauszug "Rom, an 15.15" von enormer Sprachwut ist, dabei aber Gefahr läuft, alles überzuorchestrieren. Ungemein souverän hält dagegen der 45-jährige Grazer Peter Glaser in seiner "Geschichte von Nichts" die Balance zwischen Ausgearbeitetem und Angelegtem. Glaser erzählt die Geschichte eines Neffen, der nach dem Tod seines Onkels in Kairo der verschwundenen alten Tante nachreist und zugleich den Niedergang seines ritualisierten Verhältnisses mit einer Frau namens Stella begreift. Glaser erzählt die Geschichte einer Aushöhlung, der das Nichts wie ein Echo eingeschrieben wird. Bis Freitag Mittag zumindest durfte Glaser als aussichtsreichster Kandidat für den Ingeborg-Bachmann-Preis gelten. Mal (fern)sehen.

Christoph Schreiner


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